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B Eine Funktionsanalyse: Familienleben als Kulturleistung

8 Über Logik, Sinn und Funktion familialen Alltagshandelns in der Kultur

Wir haben in den letzten Abschnitten versucht, die Handlungswelt eines Familienlebens zu erkunden. Und nun steht der eigentlich entscheidende Schritt dieser Funktionsanalyse an: Die Frage nach dem Sinn dieses Handelns. Dabei kann es allerdings um eines nicht gehen, nämlich darum, eine „Ursprungsfrage“

aufzugreifen. Dies würde uns, nach Cassirer, zu unzulässigen Mythen verleiten. Wir können uns nur an der Faktizität familialer Erscheinungen orientieren. Daß diese auch von gesamtkulturellen Bedingungen abhängt, ist klar; auch ist Cassirers Frage nach dem Sinn einer Kulturgestalt ist nicht metaphysisch gemeint, sondern bezieht sich auf die sie konstituierenden Kräfte. Sie muß sich daher aus dem in ihren Gebilden waltenden, spezifischen Handlungsmodus erschließen. Nun, gehen wir der Sinnfrage aus dieser Perspektive nach, dann wäre zumindest festzuhalten, daß dem Handlungswesen „Familie“ immerhin eine gewisse „Logik“ innewohnt, sonst wäre ja dessen Funktionalität ja gar nicht möglich. Logisch, also folgerichtig ist aber, was Sinn macht. Nur, wie ist er zu erkennen und zu beschreiben? Bei Cassirer gehören die Begriffe Logik, Sinn und Funktion in das Begriffsfeld des Symbolischen. Sie

18 Thiersch 1986, S. 201

müssen also, aus je eigener Perspektive, der Frage nach der Relation von Vielheit und Einheit nachgehen.

Es stellt uns insofern nicht nur die Frage nach dem Sinn selbst, sondern zunächst einmal die Eigenart des Handlungsraums Familie vor einige Probleme: Der Handlungsraum Familie erfordert plurales Verstehen und Handeln. Von allen, die ihn beleben. Und mit „plural“ ist gemeint: Es müssen bereits in kleinsten Handlungseinheiten verschiedene, und durchaus auch sich widersprechende Inhalte und Fähigkeiten, sozusagen auf einen Nenner gebracht werden, etwa Emotion und Ratio, Spontaneität und Voraussicht, Ich-Wahrnehmung und Empathie, Alltagsordnung und Toleranz, Arbeit und Freizeit, Kreativität und Banalität, usw.

Wie läßt sich überhaupt annehmen, daß einem derart offenen Handlungsraum ein einheitlicher Sinn innewohnt? Ein Sinn, der die Universalität der Kulturgestalt Familie begreiflich macht? Wobei, die Pluralität dieses Handlungsraums erzeugt noch eine weitere Unsicherheit: Was dort geschieht, ist weder in eine planbar und verläßlich funktionierende Technik oder eine derartige Organisationsform zu übersetzen, noch läßt sie sich in kausalen Zusammenhängen erfassen. Die Funktionalität eines Haushalt tritt also erst dann wirklich in Erscheinung, wenn sie fehlt. D.h., sie kann sich in der Tat nur aus ihrer Negativität her durchsichtig machen.

Will sagen: Nur dann, wenn ein Familienhaushalt nicht mehr funktioniert, oder nur sehr unzulänglich funktioniert, kann nach Ursachen-Wirkungszusammenhängen gefragt werden, oder anders: kann deutlich werden, was „ist“ und was sein „soll“.

Deswegen kann man die Funktionalität eines Familienhaushalts nur auf seine Probleme und seine Problemlösungskapazitäten hin befragen.19 Das wird uns später noch beschäftigen.

Wir müssen also, wie Cassirer es auch vorgeschlagen hat, im Bemühen, die Funktion, oder den Sinn einer symbolischen Form zu erkennen, auf das Formprinzip zurückgehen: In unserem Fall auf die Koresidenz familialer Gebilde. Dann könnte die

„Sinnfrage“ etwa so lauten: Was an den handlungsleitenden Kräften im Familienleben ist so geartet, daß sie zwar eine bunte Mannigfaltigkeit an Erscheinungen ermöglichen, aber gleichwohl dafür sorgen, daß diese Erscheinungen in gewissem Sinne eine einheitliche Form aufweisen? Das eher schlichte Ergebnis ist:

19 v. Schweitzer 1991, S. 145

Ob ein familiales Gebilde das Ziel hat, eine betagte Dynastie zu erhalten oder ob es einen modernen Lebensstandard erhalten will, ob es der Selbstverwirklichung eines bürgerlichen Frauenbildes dienen soll oder den Prestigewünschen eines Politikers, oder ob es den Normen eines religiösen Weltbild zu genügen hat. Ob es sich um eine Patchworkfamilie im Großstadtmilieu, um eine Mehrgenerationenfamilie im karibischen Kulturraum, oder ob es sich um Royals handelt - alle Erscheinungsformen der Haushaltsfamilie „werden begründet dadurch, daß Personen bereit sind, sich selber und andere zu versorgen, zu pflegen und zu erziehen oder zu bilden. Haushaltssysteme werden aufgelöst, wenn sie über kein Humanvermögen für haushälterisches Handeln mehr verfügen können. Der Bestand an Humanvermögen für haushälterisches Handeln ist also die Voraussetzung für eine private Haushaltsgründung. Somit ist auch die Erhaltung dieses Humanvermögens die entscheidende Funktion des haushälterischen Handelns.“20 Daraus folgt: „Die aktuelle Mindestaufgabe eines jeden Haushaltssystems ist die lebensnotwendige Erhaltung des Humanvermögens. Zur Sicherung der Bestandserhaltung des Humanvermögens gehört dann aber auch die Sicherung des Bestandes an Produktiv- und Konsumtivvermögen.“21

Und alles, was in diesem Sinne notwendig zu geschehen hat, ist nicht ein bloßer

„Einzelinhalt“22 in unserer Kultur, ist also nicht nur hin und wieder, oder hie und da zufällig oder fragmentarisch aufgetaucht und wieder verschwunden – nein, was im familialen Zusammenleben von Menschen geschieht hat sich zu einem spezifischen Inhalt menschlicher Kultur entwickelt, zu einem Gestaltungsmoment „der Welt“23. Alles was in diesem Sinne für „die Familie“ notwendig ist, macht also auch Sinn in der menschlichen Kultur und verleiht dem Handlungswesen Familie seine

„Konstanz an Bedeutung“24. Die aufzusuchen ist nach Cassirer die Aufgabe der Kulturwissenschaft. Versuchen wir jetzt, sie noch weiter aufzudecken und zu beschreiben, indem wir das Handlungswesen Familie, oder anders: indem wir dessen Praxis, nochmals einer Betrachtung unterziehen.

V. Schweitzer geht aus von der Tätigkeit des fürsorglichen Arbeitens, als das spezifische „Tun“ familialer Gebilde. Das wissen wir schon. Sie hat dieses „Tun“ in

20 v. Schweitzer 1991, S. 158

21 v. Schweitzer 1991 S. 159

22 PsF I, S. 11

23 PsF I, S. 11; Hervorh. E.C.

24 LK, S. 75

systemische Funktionsbereiche zerlegt und eine diffizile Pluralität sichtbar gemacht, die sie aber gleichwohl zu dem Schluß kommen ließ, daß jeder haushälterischen Handlung funktionale Logik und „eine Sinnsetzung zugrunde >liegt<, die Ansprüche, bzw. Erwartungen an sie enthält. Jede bedarf eines Mitteleinsatzes, und jede hat zumindest eine Alternative, nämlich die, die Handlung selbst zu unterlassen. Jede Handlung ist eingebunden in ein sie umfassendes System des Haushalts, für das sie Element ist.“25 Aber es geht jetzt nicht um den Sinn einzelner Handlungen, sondern es geht uns hier um einen alle Handlungen im familialen Alltag leitenden Sinn. Dieses Anliegen hatte Rosemarie von Schweitzer offenbar auch und sie kam zu folgendem Ergebnis: In den Facetten des fürsorglichen Arbeitens, bzw. im haushälterischen Handeln im Familienalltag liegen Erziehungs-, Pflege- und Versorgungsleistungen, die der Lebenserhaltung dienen, ebenso wie dem Erhalt und der Förderung der einzelnen Persönlichkeit, wie auch der Kultur eines Zusammenlebens26. Und weil diese Triade sich nur in Handlungsketten und nicht in einmaligen Akten ausprägen kann, muß es sie Schema der Alltäglichkeit funktionieren, d.h.: Familienleben konstituiert sich als private Alltagsorganisation der Daseinsvorsorge.

Daseinsvorsorge bringt insofern jenes „Tun“ auf den Begriff, was familiale Gebilde in ihrem „Sein“27 erhält, nämlich die Triade von Lebenserhaltung, Individuum und Zusammenleben. Oder ein anderer Versuch, es philosophisch auszudrücken: In der Daseinsvorsorge, als dem spezifischen „Tun“ familialer Gebilde erschließt sich der Sinn dieser Erscheinung. Das also, was sie als solches begründet28. Und wenn das so ist, dann allerdings muß die Vorsorge für das Dasein „jeder – auch der kleinsten – haushälterischen Handlungssequenz eigen“29 sein. Sie kommt, anders gesagt, in jeder – auch der kleinsten – haushälterischen Handlungssequenz symbolisch zum Ausdruck. Jede derartige Handlungssequenz kann also, im weitestes Sinne jedenfalls, etwas darüber aussagen, ob sie für die Daseinsvorsorge sinnvoll oder widersinnig ist. Wenn v. Schweitzer anmerkt, daß das „haushälterische Handeln in letzter Verantwortung dem Gewissen eines jeden bezüglich seiner Menschlichkeit anheimgestellt“30 sei, so ist klar, daß sich die ethische Perspektive aus dieser

25 v. Schweitzer 1991, S. 137

26 v. Schweitzer hat ein Modell dieses Handelns entworfen, das sie “das haushälterische Dreieck”

nennt. Siehe v. Schweitzer 1991, S. 137f

27 PsF I, S. 11

28 s.a. PsF III, S. 350

29 v. Schweitzer 1991, S. 137, Hervorh. S.W.

30 v. Schweitzer 1991, S. 136

Handlungslogik gewiß nicht ausklammern läßt. Im Fall des Gelingens kann man daher wohl mit Recht von einer „Werte schaffenden Leistung“31 sprechen.

Aber wohlgemerkt: V. Schweitzer versteht dieses dreigestaltige Sinngefüge der Daseinsvorsorge nicht als ein normatives Konstrukt, sondern als ein Funktionskonstrukt. D.h.: Konkret heißt das: In der Balance zwischen Lebenserhaltung, Individuum und Zusammenleben wird die Daseinsvorsorge einer Familie je nach historischem und kulturellem Raum, je nach ökonomischen und geographischen Bedingungen und auch je nach individueller Beschaffenheit des Familiensystems und den Kompetenzen ihrer Individuen selbst, wenn nicht generell, so aber graduell durch unterschiedliche haushälterische Handlungsmodi bestimmt sein.

Versorgungs- Erziehungs,- und Pflegeleistungen waren in mittelalterlichen Haushaltsfamilien anders geartet und bedingt, als etwa in antiken Haushaltsfamilien, ein sechsjähriges Mädchen auf einem Bauernhof unseres Kulturkreises wird tendenziell andere haushälterische Kompetenzen kultivieren, als ein sechsjähriger Junge in einem Ein-Elternhaushalt am Stadtrand. V. Schweitzer nennt auch einige grundsätzliche Bedingungen dieses Handelns, die jedem bekannt vorkommen, der sich auch nur annähernd in haushälterische Tätigkeit eingelassen hat. Es sind dies 1.) passende Lebenseinstellungen, 2.) Lebenshaltungstechnologien.

Es braucht aber ebenso 3.) den Einsatz und die Bereitstellung entsprechender Mittel, 4.) Ressourcen für haushälterisches Handeln, 5.) Kompetenzen der Wahrnehmung und Entscheidung für Handlungsalternativen, sowie 6.) Handlungsalternativen für das haushälterische Handeln. Auch wenn wir auf diese Aspekte hier nicht im einzelnen eingehen, so leuchtet doch ein, daß nur im Zusammenwirken Sinn machen:

Als symbolische Form.

Die Pluralität des familialen Alltagshandelns erscheint symbolisch präsent als Daseinsvorsorge in „prinzipiell allen möglichen Handlungsweisen der Menschen“32, die der Vorsorge des Daseins durch haushälterisches Handeln dienen. Anders: In der Beköstigung, der Hauspflege, der Haushaltsbudgetverwaltung u.v. mehr, erscheinen symbolische Formen haushälterischen Handelns. Sie wirken als Versorgungs,- Pflege und als Erziehungsleistungen. Oder noch anders: Die symbolischen Formen der

31 v. Schweitzer 1991, S. 135

32 v. Schweitzer, 1991, S. 27

Daseinsvorsorge repräsentieren plurale Handlungswelten, die im Modus der Alltäglichkeit auf Lebenserhaltung, auf die Wahrung und Entfaltung der Einzelpersönlichkeit und auf eine Kultur des Zusammenlebens gerichtet sind.

Daß ein derartiges Handlungswesen spezielle Kompetenzen erfordert, leuchtet ein.

Aber deren Potential wird gewöhnlich, im Gegensatz zu herstellenden und rationalen Kompetenzen, verdeckt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer davon ist, daß vorzugsweise Frauen in dieser Kompetenz „gebildet“ werden.33 Frauen, Privatwelt, Familie, Alltag – diese Konstrukte sind in der Erwerbswelt vorausgesetzt.

Und sie werden dort, wie in der menschlichen Kultur allenthalben, in einen Topf geworfen, über ihre sie letztlich ermöglichenden Leistungen macht man sich eigentlich keine Gedanken.

Diese Leistungen stehen privat stillschweigend für den Erhalt von Familien und zur Förderung ihres Wohlstandes zur Verfügung. Eben so stillschweigend stehen diese Leistungen aber auch dem gesamtkulturellen Umfeld zur Verfügung. Über die Ungerechtigkeit gegenüber denen, die diese Leistungen stillschweigend erbringen, haben wir schon gesprochen. Aber wir greifen diesen Punkt gleichwohl noch einmal auf, weil Sinn und Funktion familialen Alltagshandelns für familiale Gebilde zu erfragen eine gar prekäre Brisanz erhält, so man Sinn und Funktion eben dieses Handelns für die Kultur erfragt. Denn: Die Haus- bzw. Familienarbeit, als die Tätigkeit, die Familien existenziell bedingt und erhält und ohne die Kulturen zumindest noch nicht gerlernt haben zu leben, sie leidet unter einem geradezu historischen und globalen Mangel an Anerkennung. Haushälterischen Handeln ist schlicht nicht „in“; niemand reißt sich darum. Seine Verrichtung erbringt kaum ein begehrtes Statussymbol oder sonstige, nicht unbedingt monetär bemessene, Auszeichnungen. Ein geachteter Beruf ist es auch nicht, oder bestenfalls dann, wenn jemand in höchsten sozialen Schichten eine Stellung im Haushalt bekleiden kann, etwa als Butler.

Mit aufkommender Industrialisierung definierte die Wirtschaft einen für ihre Funktionalität passenden Arbeitsbegriff, aus dem aber die Familienarbeit ausgeklammert ist. Fazit: „Alle Aufwendungen, die für die nachwachsende Genertion erbracht wurden, verloren das Prädikat, Arbeit zu sein. Alle Leistungen

33 Böhnisch et al. 2005, S. 168f

zur Förderung der produktiven Kräfte einer Gesellschaft entarteten unter diesem Aspekt mangelnder unmittelbarer Messbarkeit zur ‚Wertlosigkeit’. Im Gegensatz dazu stieg Erwerbstätigkeit in den Rang eines allumfassenden Arbeitsbegriffs auf.“34 Ein sehr gewichtiger Grund, der Haus- und Familienarbeit die schon vor dieser Zeitwende längst überfällige monetäre und andere Anerkennung, auch weiterhin zu versagen35. Dabei ist natürlich im Wirtschaftsleben unbestritten: „Der Erwerb sozialer Daseinskompetenz ist eine unverzichtbare Voraussetzung für den späteren Aufbau von Fachkompetenz“36

Von den grotesken Konsequenzen solcher Entwertung der Familienarbeit handelt z.B. ein Urteil des Bundesverfassungsfgerichts vom 07. Juli 1992. Es sollte damals geprüft werden, ob das System der Altersvorsorge Leistungen, die ihr aus Erwerbsarbeit zuflossen, unzuässig höher bewertet, als Leistungen, die in Familien, vornehmlich von Müttern, erbracht werden. Der vorgelegte Fall brachte zutage, daß

„im ‚Vorsorgesystem’ der Rentenversicherung die aus Markteinkommen abgezweigten Beiträge ... 73 mal mehr zählten, als die Vorleistungen der Kindererziehung...“37 Und nun die Frage: „Wie sehr muß allein diese Art von

‚Wertschätzung’ potenziellen Eltern, vornehmlich den Müttern, als ‚Stigmatisierung’

erscheinen.“38

Was bedeutet es also, wenn die Menschen „mit dem Herzen“ an dieser Kulturgestalt hängen? Vieles, gewiß. Aber sie im eigenen Lebensentwurf zu verwirklichen bedeutet jedenfalls auch, ein persönliches und existenzielles Risiko einzugehen, bedeutet dazu für die meisten Menschen, eine ungeliebte, nicht geachtete, nicht anerkannte und nicht bezahlte, eine weder zeitlich noch inhaltlich geregelte, mühevolle, „alltägliche“ Arbeit verrichten zu müssen. Cassirers Kulturphilosophie wird dieser Paradoxie wohl nicht abhelfen, dafür aber es ermöglichen, ein Licht auf die Erfahrungswelt des Familienalltags zu werfen, die wir kraft des „mythischen Denkens“ inszenieren. Worum es dabei geht, das werden wir im letzten Kapitel erörtern.

34 Krüsselberg in Krüsselberg et al. 2002, S. 93

35 s.a. Krüsselberg in Krüsselberg et al. 2002, S. 92f

36 Krüsselberg in Krüsselbsrg et al. 2002, S. 95; S.a. der Ansatz der Care-Ethik u.a. bei Rampf, R., 1997: Kann die Care-Perspektive auf sozialstaatliche Fragestellungen übertragen werden? In:

Braun, H./Jung, D. (Hrsg.) 1997

37 Krüsselberg in Krüsselberg et al. 2002, S. 99

38 Krüsselberg in Krüsselberg et al. 2002, S. 99