• Keine Ergebnisse gefunden

B Eine Funktionsanalyse: Familienleben als Kulturleistung

7 Die Familie im Haus-Halten: Von Identität und Pluralität

„Der Mensch schafft sich mittels des haushälterischen Handelns seine Lebens- und Alltagskultur, und dieses entspricht seiner Natur als Kulturwesen.“13 Das leuchtet ein. Aber vielleicht sind wir versucht, diesem Handlungsraum zu wenig Trennschärfe zukommen zu lassen, wenn wir ihn allzu umstandslos in die Deutungen des „Alltäglichen“ subsumieren, denn als solches erfahren wir ihn. Jeden Tag. Demnach wäre Cassirers Frage nach der „Eigentümlichkeit“14 einer symbolischen Form hinsichtlich der Funktion des Familiären noch nicht hinreichend geklärt. Denn wie begrenzt der Spielraum zwischen erfolgreicher und mißlingender Familienarbeit, also des fürsorglichen Arbeiten, selbst dann ist, wenn ein Haushalt die „Grundversorgung“15 problemlos sicher stellt, z.B. regelmäßiges Essen und Trinken, ausreichende Kleidung und hygienische Bedingungen, zeigt sich besonders deutlich in problematischen Familienverhältnissen. Ergründen wir also die Arbeit im Familienhaushalt noch weiter mit Hilfe der Wissenschaft des Haushalts. Womit hat es diese Arbeit zu tun? Was braucht es, um sie leisten zu können? Was sind Kategorien, die uns ermöglichen, sie differenzierter zu betrachten? Fragen dieser Art werden uns nun des Weiteren beschäftigen.

12 v. Schweitzer 1991, S. 29

13 v. Schweitzer, 1991, S. 147

14 PsF S. 124

15 Eberhardt 2002

„Die Handlungsspielräume des Haushalts sind vorgegeben durch den Lebensraum des Haushaltsstandortes und durch die historische Zeit mit ihren Bedingungen, in deren Rahmen ein Haushalt begründet und beendet wird und durch das soziale Netzwerk, das den Haushaltsmitgliedern zur Verfügung steht und von ihnen begründet und gepflegt wird.“16 Rosemarie von Schweitzer übersetzt diese Definition, in ein systemtheoretisches Modell, wie in Abb.117 (Anhang zu S. 103) dargestellt, das wir nun genauer betrachten: Zunächst läßt sich erkennen, daß sich die „Handlungsspielräume“ im Familienalltag ganz grundsätzlich einmal durch folgende Gegebenheiten strukturieren:

Ob eine Haushaltsfamilie in einem mongolischen Nomadenzelt wohnt, in einem schottischen Schloß oder in einem dänischen Reihenhaus – ihre Gestalt und ihr haushälterischer Handlungsspielraum werden immer a) von der Makroebene her bestimmt sein, d.h. von gesamtkulturellen Gegebenheiten. Sodann wirkt auf jede Familie b) die so genannte Mesoebene ein. Gemeint ist, im Vergleich zum Gesamtkulturraum, das eher unmittelbare Umfeld einer Familie, beispielsweise Schul- und Berufswelten ihrer Mitglieder, oder die Verhältnisse im Wohngebiet. Ob sich nämlich eine Familie aus dem Erwerb von einem oder zwei Managergehältern ernährt und in einem neuen Villenvorort wohnt, ob sie sich von einem Artistengehalt ernährt und einem Wanderzirkus angehört, oder ob sie von den Einnahmen einer Schafzucht lebt und einen abgelegenen Hof bewohnt – diese Bedingungen werden die Erscheinung einer Familie und ihr Haushaltswesen natürlich maßgeblich bestimmen.

Speziell aber interessiert uns hier c) die Mikroebene einer Haushaltsfamilie, denn sie betrifft deren Alltagsleben. V. Schweitzer versucht, in ihr markante Strukturen deutlich zu machen und unterteilt sie zunächst in zwei Systeme: In das der Familie und in das des Haushalts. Im Familiensystem, so sehen wir, ist mit Sympathien und Dominanzen zurecht zu kommen. Diese reinen Beziehungsebenen sind uns aus der sozialpädagogischen Arbeit vertraut. Sie sind die Folie für den Erziehungsauftrag, für Elternschaft und Geschwisterbeziehungen. Aber sie kommunizieren sich im Familienalltag über Sprache und Ausdruck nicht in abstrakter Weise, sondern vornehmlich über Sachbezüge. Nehmen wir ein alltägliches Beispiel: Die von der

16 v. Schweitzer, 1991, S. 137

17 übernommen aus: v. Schweitzer 1991, S. 142

Abb. 1; siehe Text Seite. 103

Familiensystem

Haushaltssystem

Personal-system

Dominanz-system Sympathie

-system

Sachbezugs-system

auswirtschafts- ystem Marktsystem

Markt- system Hauswirt- Schafftssy stem

Sachbezugs-Personalsystem

Dominanz- system Sympathie

system

Tochter wahrgenommene Vorliebe der Mutter für den jüngsten Bruder erklärt sich für die Schwester nicht, weil ihr etwa die Mutter von ihrer Vorliebe erzählt hätte. Sie zeigt sich vielmehr sehr deutlich daran, daß die Mutter dem Bruder immer hilft, wenn er wieder seinen Teddybär sucht. Wie auch daran, daß sie immer zum Spielen rausgehen muß wenn es darum geht, die nötige Ruhe für den Mittagsschlaf des Bruders zu gewährleisten. Und weil sie nie vergißt, welches sein Lieblingsjoghurt ist, sehr wohl aber welches das ihre.

Die Ungerechtigkeit der Mutter verkörpert sich für das kleine Mädchen in Gegenständen. Immer wieder, ja alltäglich, war der Teddybär Zeuge, nein, er ist Ausdruck der mütterlichen Bevorzugung des Bruders, das Joghurt ebenso. Für die betroffene Schwester läßt sich die so anschaulich und plastisch erfahrene Ungerechtigkeit nicht von diesen Gegenständen ablösen. Und wenn die frustrierte Schwester den Teddybär schlachtet, das Joghurt des Bruders heimlich aufißt, betont lange Klavier übt, wo der Kleine doch ruhen sollte, dann agiert sie mit den Symbolen ihrer Wut. Die Schwester, die sich im Dominanz- und Sympathiegefüge der Familie unterlegen fühlt, bringt ihre Protestaktionen – notfalls bis jenseits des Kindesalters - im Sachbezugssystem des Familiensystems zum Ausdruck. Der zerschnittene Teddybär ist leibhaftiger Zeuge ihre Wehrhaftigkeit! Auch dann, wenn sie gelernt hat, ihre Bedürfnisse mit den anderen Familienmitgliedern „auszuhandeln“, wird ihr das Lieblingsjoghurt des Bruders, das ihm die Mutter immer so stillschweigend bereit gestellt hat, sehr wahrscheinlich nicht schmecken.

Sich um ein Haushaltssystem zu kümmern verlangt, daß man etwas von ihm als

„ökonomische Institution“ versteht: Daß ein Personalsystem sich darum kümmert, marktgerecht im Haus zu wirtschaften. Verfügt ein Haushaltssystem über ein professionelles Personalsystem, das für seine Dienste bezahlt wird, so gehören nach Aussagen der historischen Familienforscher diese Personen genau so zur Familie, wie die ihr angestammten. Meist rekrutiert sich jedoch das Personalsystem einer Familie heutzutage aus den eigenen Reihen und leistet umsonst seine Dienste. Aber ganz gleich ob Dienstleistungshaushalt oder Selbstversorgungshaushalt: Jedes Personalsystem einer Familie hat mit einem Budget an Geld, Gütern und Zeit möglichst so zurechtzukommen, daß die „Produkte“ des Haushalts, die da in Privathaushalten sein können Wohlstand, Freizeit, Gesundheit, Pflege, Lebenshaltung, Erziehung, Schutz, Wahrung und Förderung von Individualität

usw., mit dem vorhandenen Budget „hergestellt“ werden können. Wobei sich private Haushalte als Organisationstypen von anderen produktiven sozialen Systemen, Unternehmen etwa oder Betrieben, ganz wesentlich unterscheiden: sie arbeiten nicht gewinnorientiert, sondern selbsterhaltend – sie sind also keine produzierenden, sondern re-produzierende Systeme. Ein Familienhaushalt ist eine Non-Profit-Institution.

Schließt man nun die Systeme Familie und Haushalt zusammen, so ergibt sich quasi eine innere „Schnittmenge“ dort, wo die Akteure zusammenfallen: Das Sachbezugssystem der Familie und das Personalsystem eines Haushalts sind in der Haushaltsfamilie identisch. D.h., wenn die Mutter den kleinen Bruder der Schwester vorzieht und diese daraufhin den Teddy vernichtet, dann muß die Mutter wiederum sich fragen, ob sie über genügend Geld verfügt, dem geschädigten Buben einen neuen Teddy zu kaufen und wann sie das tun will, oder wem sie diese Aufgabe überträgt. Aber möglicherweise gerät sie auch in eine depressive Stimmung wegen des zerschnittenen Teddys, da er aus ihrer eigenen Kindheit stammt und es gibt für ihn eben keinen Ersatz. Oder aber sie kommt auf die Idee und verfügt über die nötigen Mittel, zusammen mit ihrer Tochter gleich zwei Teddybären zu kaufen.

Die Sachlage ist klar: Diese Identität, die sich in Handlungen im Familienhaushalt zwischen ganz verschiedenen Bezugssystemen ergibt, bedingt es also notwendig plural verstehen und plural handeln zu können. Denn das Wohlbefinden einer Familie wird nicht allein dadurch garantiert werden können, daß sie ihren Haushalt nach ökonomischen Gesetzen führt. Oder daß sie sich als Raum zur individuellen Selbstverwirklichung versteht. Oder daß sie sich zum höchsten Ziel gesetzt hat, ihre Kinder zu glücklichen, erfolgreichen Menschen zu erziehen. Das alles kann gelingen – keine Frage - aber was immer in einer Familie geschehen soll – sei es aufgrund ihres individuellen Wunsches, oder aufgrund einer kulturellen Forderung – alles muß sich innerhalb dieses vieldimensionalen Handlungssystems „Haushalt“ so inszenieren, daß es seinem Sinn und seiner Funktionalität nach erhalten bleibt.

Die Schwierigkeit ist auch klar: Das Sachbezugssystem, das Beziehungssystem und das Haushaltssystem verlangen völlig verschiedene Verstehensweisen, die sich aber desungeachtet in jeder einzelnen haushälterischen Handlung zu einer Identität verknüpfen. Die Dingwelt, die Personenwelt und ökonomischen Bedingungen eines

Familienhaushalts treten als ein „Handlungswesen“ auf, das in jeder irgendwie prägnanten Einheit einen dichten Symbolzusammenhang repräsentiert, der die seelische Befindlichkeit, die Kompetenzen oder Schwächen der Einzelwesen ebenso betrifft, wie das familiäre Beziehungsmuster und den kulturellen Horizont jenseits des Familienalltags. Schon allein der profane Teddy aus unserem Beispiel ist a) das Symbol für eine handwerkliche oder andere Herstellungsleistung; er ist b) das Symbol einer bestimmten Kindheitskultur, c) Symbol der familiären Erziehungskultur, d) Symbol mütterlicher Sympathie und brüderlicher Dominanz und noch vieles mehr. Aber die Symbolik als „Sache“ verweist auf die Personen- und Handlungswelt der Familie, die durch den Besitz des Teddys die Zugehörigkeit zur westlichen Kultur, wie auch ihre Kaufkraft bestätigt, wie auch in seiner Präsenz bestimmte Beziehungs- und Bindungsarten, oder auch individuellen Eigensinn, usw.

zum Ausdruck kommen. Müßte man angemessenerweise nicht das „Verstehen im Alltag“18 einer Familie Kulturkompetenz nennen? Wir werden darauf zurückkommen.

8 Über Logik, Sinn und Funktion familialen Alltagshandelns in der