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A Eine Formanalyse: Familie als Kulturgestalt

2. Koresidenz und Verwandtschaft: Was Familienformen prägt

2.1 Die Haushaltsfamilie: Von der Konstanz des Wandels

Was eine Haushaltsfamilie in ihrem Erscheinen prägt, ist die Koresidenz ihrer Mit-glieder. Mit diesem Begriff ist die wichtigste Konstante dieses Familientyps benannt.

Koresidenz leitet sich ab aus der residentia47, dem Wohnsitz, und die residentia wie-derum leitet sich ab vom lateinischen residere: sitzen, sitzen bleiben, verweilen. Es

44 Böhnisch und Lenz sprechen von drei Mythen, die sich in der Familienforschung breitgemacht ha-ben und die zu überwinden sind: 1. der Harmoniemythos: Konflikte gab es früher nicht in Familien;

2. der Größenmythos: in vorindustrieller Zeit hätten meist mehr als zwei Generationen zusammen-gelebt; 3. der Konstanzmythos: Familien als eine Gefühlsgemeinschaft seien eine Naturkonstante.

Böhnisch et al. 1997; S. 11

45 Etymologisch bedeutete „Familie“ zunächst „Hausgenossenschaft“

46 Gestrich et al. 2003, S. 407; i.d.S. auch Nave-Herz in Krüsselberg et al. 2002 S. 147

47 Kluge: Etymologisches Wörterbuch, Berlin 2002

geht im Begriff der Koresidenz also um das freiwillige und tendenziell positiv besetz-te Zusammenleben mehrerer Menschen unbesetz-ter einem Dach. Koresidenz versbesetz-teht sich aber keineswegs als eine zum „guten Leben“ verpflichtende oder solches verspre-chende Formel. Eher schon ist in diesem Begriff vorausgesetzt, daß Menschen, die gewisse Zwecke darin sehen unter einem Dach zusammenzuleben, passende Um-gangsformen mitbringen.

Insofern führt die „Koresidenz unter einem Dach“ zwar immer zur Ausbildung ir-gend einer Form von Alltagsleben. Aber auch diese Qualität, der wir uns noch ausgie-big zuwenden werden, macht aus der Koresidenz „kein ausreichendes Kriterium, um die Qualität des Zusammenhangs und der tatsächlichen Interaktion zwischen Personen und Gruppen zu beschreiben.“48 Wenn sich also die Gestalten der Haus-haltsfamilien im Spektrum von Koresidenz und Alltagskultur präzisieren, dann kommen mit ihnen viele Sozialformen „ins Blickfeld, an die man vom heutigen Wortgebrauch des Begriffs ‚Haushaltsfamilie’ ausgehend zunächst gar nicht denken würde, bei denen es sich aber sehr wohl um Hausgemeinschaften mit Familiencha-rakter handelt.“49 Und damit stehen wir schon vor der nächsten und wohl schwieri-geren Frage: Was gibt einer Gruppe von Menschen, die in Koresidenz leben, den fa-miliären Charakter? Denn einen Haushalt führen schließlich auch alleinstehende Paa-re, oder soziale Einrichtungen aller Art.

Wie uns die Kulturgeschichte der Familie50 zeigt, bestimmt sich der Charakter des Familiären durch die geplante, die tatsächliche, oder die symbolische Anwesenheit51 von Eltern und Kindern. Haushaltsfamilien fußen insofern auf der Konstellation ei-ner „Kernfamilie“. Sie sind also koresidierende Gruppen mit einem tatsächlichen oder einem symbolischen Generationenverhältnis und einer darin begründeten päd-agogischen Funktion. Traditionell gründet die „Kernfamilie“ in vielen Kulturräumen auf ehelichen Vereinbarungen zwischen heterosexuellen Paaren, aber Eltern-Kind-Konstellationen kommen, wie wir wissen, auch ohne diese Vorgaben aus. Die kern-familiale Personenkonstellation, - oder gelegentlich auch mehr als eine - kann sich je nach Kultur und Zeitgeist in den verschiedensten Haushaltsformen zusammenfin-den und in unterschiedlich große Rahmenhaushalte mit weiteren Personen,

48 Gestrich et al. 2003, S. 408

49 Gestrich et al. 2003, S. 269

50 Gestrich et al. 2003

51 So beispielsweise in Klöstern, die das Leben im gemeinsamen Haushalt in der Begriffsprache und Symbolik des Familiären benennen und strukturieren.

wandten oder Bediensteten etwa, eingebunden sein. Die Haushaltsfamilie bedingt sich daher auch durch Verwandtschaftsbeziehungen, Wohnverhältnisse, ökonomi-schen Bedingungen, Erbsitten, Partnerwahl- und Heiratsregeln, aus materialen und lokalen Bedingungen, geographischen Gegebenheiten, u.a. mehr. Doch in jedem Fall gilt: Die Koresidenz einer familialen Gruppe bestimmt das charakteristische Erscheinungsbild der symbolischen Form Familie.

Über die Grundgestalt des gemeinsamen Haus-Haltens zeigt uns die kulturge-schichtliche Analyse des Familiären eine Phänomenologie von Haushaltsfamilien52. Angefangen beim Oikos des antiken Griechenland, über die römische Haushaltsfamilie, dann über die Formen des Mittelalters, den Fürstenhof bei-spielsweise oder den Fronhof, bis zu den uns eher vertrauten gattenzentrierten Formen der Neuzeit, den bäuerlichen Familien, Bürgerfamilien, den Klein- oder auch den Einelternfamilien. Wie alle diese Formen in ihrer über zweitausendjährigen Geschichte zeigen, können Haushaltsfamilien also durchaus verschiedene Wohnsitze und Generationen umfassen, die funktional miteinander verbunden sind.

Heutzutage beispielsweise dann, wenn der Haushalt der Großeltern mit dem der Kinder und Enkel kooperiert, etwa um der Gewährleistung fürsorglicher Beziehungen willen. In der westlichen Kultursphäre durchlaufen wir gewissermaßen zyklisch in unserem Leben mehrere Haushaltsfamilien. Die Herkunftsfamilie, die eigene Familie, vielleicht später noch eine Patchworkfamilie, wobei die eigentliche

„Familienphase“ heute, die Zeit, in der Eltern mit ihren unmündigen Kindern zusammenleben, nur noch ein Viertel der Lebenszeit ausmacht im Vergleich zur früher, wo sie bis zur Hälfte der Lebenszeit betrug53.

Aber immer ist die Behausung der Gemeinschaft, oder ihrer einzelnen Teile, sozusa-gen das organisatorische Zentrum des Familienlebens. In ihr vollzieht sich die dem Familiären eigene kreative – man darf auch sagen: systemische Integrationsleistung, - also „nicht nur die biologische Reproduktion der Gesellschaft, sondern auch die Vermittlung von Werten und kulturellen Verhaltensmustern, die Weitergabe von Ei-gentum und sozialer Stellung über die Generationen. Die Ordnung der Familie war deshalb immer ein wichtiges Objekt für gesellschaftliche Leitbilder und Vorschriften des Zusammenlebens und sozialen Verhaltens.“54 ... „Die Ansprüche, die an die

52 S.a. Richartz, 1991

53 Nave-Herz in Krüsselberg et al. 2002 S. 137

54 Gestrich et al. 2003, S. 366

milie gerichtet, und die Funktionen, die ihr zugewiesen werden, sind immer Teil konkreter wirtschaftlicher, sozialer und politischer Strukturen und Machtverhältnis-se. Sie sind eingebettet in komplexe Zusammenhänge von religiösen, rechtlichen und politischen Traditionen, von Anpassungen an wirtschaftliche Herausforderungen und kulturell geprägten Annahmen über die ‚Natur’ der Gesellschaft, des Indivi-duums und der sozialen Beziehungen.“55

Und der Modus, in dem sich die Vorgänge im Familienhaushalt vollziehen ist das Alltägliche. Familienalltag bezeichnet ein Faktum, das aus keinem Begriff des Fami-liären wegzudenken ist und das in der Moderne ganz ausdrücklich thematisiert wird. In der Literatur, wie in den Sozial- und Verhaltenswisssenschaften, wie in der Philosophie. Was hat es in der Kulturtheorie Cassirers für einen Stellenwert? Oder anders gefragt: Wie ist es in Cassirers Theorie zu integrieren?

55 Gestrich et al. 2003, S. 366