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Trotz Cassirers Abstinenz bezüglich pädagogischer Themen, konnten immerhin ge-wisse Verknüpfungen zwischen Sozialpädagogik und der Kulturphilosophie, sowie Wege der Aneignung gefunden werden. Nun geht es um die Anwendung des Kul-turmodells in der sozialpädagogischen Praxis. Wo im Kulturmodell lassen sich theo-retische Kriterien auffinden? Welche praktischen Kriterien legen sie - unter Einbezug der bereits vorgeschlagenen Aneignung der Kulturphilosophie - nahe? Und wie kann man sich dann die sozialpädagogische Arbeit mit Familien konkret vorstellen? Diese Fragen u.a. werden uns nun bis zum Schluß der Untersuchung beschäftigen.

Was für Kriterien sozialpädagogischer Praxis mit Familien wären aus Cassirers kul-turphilosophischem Modell der Familie als eine symbolische Form abzuleiten? Oder an-ders herum gefragt: Welche Grundmuster zeigt das Kulturmodell der symbolischen Form, auf die sich sozialpädagogische Kulturarbeit beziehen kann? Solche Überle-gungen verweisen uns wohl auf die drei bekannten Analysen von Kapitel III: die Formanalyse, die Funktionsanalyse und die Konstitutionsanalyse. Zeichnen wir sie in ihren Grundzügen hier noch einmal nach:

- Die Formanalyse zeigte uns: Die Symbolgestalt Familie erleben wir als eine Gruppe Menschen, bestehend aus Kindern und Erwachsenen, die über länge-re Zeiträume in einem gemeinsamen Haushalt zusammen leben. In den Kultu-ren unserer Welt finden wir überall eigenwillige Gesetze und Regeln, die Ent-stehung und Existenzbedingungen familialer Gebilde versuchen zu normie-ren, und gleichzeitig für Schutz und Kontrolle familialer Gebilde sorgen. Denn die Leistungen familialer Gemeinschaften sind bislang für die menschliche Kultur unverzichtbar. Schließlich sind es Familien, in denen praktisch alle Menschen zur Welt kommen und ihre primäre Enkulturation erfahren.

- Die Funktionsanalyse zeigte uns: Die Symbolgestalt Familie ist eine Lebensform, in der ihre Mitglieder in privater Verantwortung, gemäß kultureller Sitten und Gebräuche, in ihrer gemeinschaftlichen Behausung für ihr Wohlergehen im Alltag arbeiten. Allein Kraft dieser Arbeit erhält sich die familiale Gemein-schaft. Diese Arbeit ist für ihre Existenz also funktional, d.h. sie macht Sinn für

Familien. Die Arbeit familialer Daseinsvorsorge kann vollständig von einer Familie selbst geleistet werden, sie kann aber auch vollständig oder teilweise als Dienstleistung delegiert werden. In den industrialisierten Gebieten unserer Welt ist sie fast immer auch davon abhängig, daß eines oder mehrere Mitglie-der Mitglie-der Familie die Haushaltsökonomie durch Erwerbsarbeit absichern. Fami-lien tragen - dank der Funktion ihres Handlungswesens - global noch in bisher unverzichtbarer Weise dazu bei, daß im Kulturraum leiblich und seelisch ver-sorgte, gepflegte, ausgeglichene und den Umgangsnormen der Kultur prinzi-piell vertraute Menschen für Schul-, Bildungs-, Ausbildungs-, und Arbeits-verhältnisse zur Verfügung stehen. Wenn eine familiale Gemeinschaft im En-semble symbolischer Formen, wie Politik, Religion, Recht, Wirtschaft, usw., keine Möglichkeit mehr wahrnimmt oder wahrnehmen kann1, um ihre Kul-turkompetenz zu verwirklichen, also die Daseinsvorsorge im privaten Haus-halt zu leisten, löst sie sich auf.

- Die Konstitutionsanalyse zeigte uns: In der Symbolgestalt Familie konstituieren sich die Beziehungen zur Dingwelt und zur Personenwelt im Familienalltag kraft einer ursprünglichen Erkenntnisweise. Es ist das mythische Denken. Ebenso wie wissenschaftliches Denken Wege zu wissenschaftlichen Erkenntnissen sucht, sucht das mythische Denken nach Wegen, die Wirkmacht, mit der plu-rale und diffuse Erfahrungsräume auf uns eindringen, zu durchdringen. Da-bei ist es, im Gegensatz zum wissenschaftlichen Erkennen, darauf „speziali-siert“, möglichst umstandslos Erklärungen und konkretes, sinnvolles Handeln zu ermöglichen. Als eine Erfahrungskompetenz ist es daher konstitutiv für den der unmittelbaren Lebenspraxis verpflichteten Erfahrungsraum, wie er sich z.B.

im Familienleben findet. Und deswegen können wir die Argumentation auch umkehren und sagen: Familien erfüllen die Leistungen der privaten Daseins-vorsorge sinnvoll aus der Kompetenz des mythischen Denkens. Es struktu-riert die Raum-Zeit im Familienleben nicht zweckrational, sondern durch At-mosphären, Stimmungen, Zyklen und Rituale. Derart entstehen Alltagsstruk-turen und Alltagswissen von „mein“ und „dein“, von „erlaubt“ und „verbo-ten“, von „heiter“ und „unheimlich“, von „dienlich“ oder „hinderlich“ und

1 V. Schweitzer sieht nur wenige Gründe, warum eine Familie ihre Daseinsvorsorge tatsächlich nicht mehr wahrnehmen kann und sich auflösen, oder sich gegen ihre Bedürfnisse verändern muß. Was heutzutage den Rahmen familialer Daseinsvorsorge übersteigt klar übersteigt ist 1. die Pflege sehr kranker oder aus Altersgründen pflegebedürftiger Familienmitglieder und 2. materielle Armut.

vieles mehr, und sie haften symbolisch in den persönlichen und dinglichen Sphären eines Familienhaushalt. Die Sprache im Familienraum ist – entlang dem Schema des mythischen Denkens - auf die konkrete Praxis spezialisiert.

In dieser Funktion gestaltet sie dezent eine lebendige Physiognomie alltägli-chen Handelns, in der Sachlichkeiten und Persönlichkeiten in all ihrer plura-len gegenseitigen Verwiesenheit kommuniziert sind.

Gestalt, Handlungswesen und Erfahrungskompetenz. Darin erkennen wir die theoreti-schen Kriterien der Symbolwelt eines Familienalltags, sie bilden die Praxisbedingun-gen aller sozialpädagogischen Arbeit mit Familien. Wie lassen sie sich in praxistaug-liche Kriterien übersetzen?

3 Kriterien praktischer Sozialpädagogik in der Symbolwelt von Fa-milien

Bevor wir auf konkrete Arbeitsformen, also auf konkrete Formen der Anwendung im nächsten Abschnitt eingehen, stellt sich die Frage: Welches könnten Kriterien sein, die sozialpädagogischer Kulturarbeit in Familien „Kontur“ geben? Was „profiliert“

gleichsam die Praxis sozialpädagogischer Kulturarbeit?

a) Arbeitsbegriffe

Ich würde als erstes gerne die philosophische Begrifflichkeit verabschieden, bzw., sie in Arbeitsbegriffe übersetzen:

- Wir nennen die Gestalt einer Familie ihre Personenwelt und verstehen unter diesem Begriff einfach die Anzahl und Konstellation der koresidierenden Fa-milienmitglieder.

- Sodann nennen wir die Funktion familialer Gebilde, also das Handlungswe-sen der Daseinsvorsorge, die Handlungswelt und meinen damit alle Aktivitäten der Fürsorge für das Dasein, die die Personenwelt in ihrer Dingwelt alltäglich erzeugt.

- Den mythischen Erfahrungsmodus des Familienlebens nennen wir ihre Erfah-rungswelt.

Man könnte vermuten, daß z.B. eine GemeinwesenarbeiterIn, die dabei ist, mit einer Familie eine neue Wohnung zu suchen, vor allem die Personenwelt der Familie inter-essiert. Wie viele sind sie? Wie sind ihre Raumbedürfnisse? Gibt es Tiere?, usw. In Einrichtungen der Familienbildung, aber auch in ambulanten Formen der Familien, Paar-, oder Erziehungsberatung, am „dritten Ort“, wie Thiersch es ausgedrückt hat, kommt man mit der ganzen oder mit Teilen der Personenwelt und mit der Erfah-rungswelt der Familie in Kontakt. Die sozialpädagogische Kulturarbeit als aufsuchende Arbeit mit Familien begegnet der vollständigen familialen Symbolwelt: Der Perso-nenwelt, der Handlungswelt, der Erfahrungswelt.

Der Begriff „Welt“, der die genannten drei Arbeitsbegriffe eint, soll zum Ausdruck bringen, daß eine praktische Kulturarbeit es nicht mit „Beständen“, durchaus aber

mit „Phänomenen“ von „Menschlichkeiten“ zu tun hat. Personen – Handlungen – Erfahrungen. Es sind eigentlich drei Symbolwelten. Es sind Schichten von Familienle-ben. Und es sind Verknüpfungen im Familie LeFamilienle-ben. Symbolisch einheitlich, aber diffe-renziert zu betrachtende Welten. Eine plurale Welt, in der es sich nicht verläßlich vor-hersagen oder planen läßt, ob eine gefühlsbetonte Handlung, ob eine rationale Ein-schätzung, ob praktische Geschicklichkeit, ob Zurückhaltung, oder ob eine unlieb-same Entscheidung gefragt ist, wenn beispielsweise der neunjährige Stefan den ver-letzten Hund der Nachbarn heimbringt und ihn pflegen und selbstverständlich be-halten will, da er es bei den Nachbarn nicht gut hat. Was bedeutet es in dieser Sym-bolwelt sozialpädagogisch zu arbeiten? Was bedeutet es, mit ihren Symbolen sozial-pädagogisch zu arbeiten?