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Fragen nach dem Menschen als Kulturwesen

5 Familie als symbolische Form - ein Entwurf

Cassirer ging es darum, die Kultur von ihren Voraussetzungen her zu begreifen, so daß Kultur als Ensemble symbolischer Formen überhaupt denkbar wird. Und das bedeu-tet für ihn als Philosoph: Seine „Kritik der Kultur“ will nicht nur für die Philosophie, sondern auch für andere Wissenschaften eine Voraussetzung dafür schaffen, aus einer je eigenen Perspektive „Kultur“ verstehen zu können. Mit dem Thema Familie hat sich Cassirer wissenschaftlich nicht befaßt. Also müssen wir uns entlang seiner theo-retischen Voraussetzungen selbst an die Konstruktion dieser symbolischen Form wagen. Dabei dürfen wir als erstes einmal davon ausgehen, daß das Familiäre ist, was Cassirer als eine Kulturgestalt „sui generis“ bezeichnet. Wie Religion, Sprache, Technik, oder die Kunst, so beharrt auch das Familiäre in der menschlichen Kultur, es macht also offenbar für das menschliche Dasein als solches Sinn. Was ist die Auf-gabe, wenn wir Familie als eine symbolische Form darstellen wollen? Können wir uns an Cassirers Konstruktionsmodus orientieren, nach dem er seine symbolischen For-men dargestellt hat? Gibt er uns überhaupt einen „Plan“, nach dem kulturrelevante symbolische Formen zu re-konstruieren wären?

Man könnte sagen, er gibt uns hinsichtlich eines Strukturmodells einer symbolischen Form einige Hinweise und einige Interpretationsfreiheit. Nun werden wir wohl die-ses Strukturmodell an Cassirers eigener Methodik ablesen und aus ihr ableiten müs-sen. Das heißt aber: Der „Gegenstand“ Familie wird, wenn wir mit Cassirers Kultur-theorie arbeiten, zum Einen als Gegenstand der Philosophie, zum Anderen als Ge-genstand der Erziehungswissenschaft, bzw. der Sozialpädagogik erscheinen. Wider-sprüche sind deswegen nicht zu erwarten, weil die kulturwissenschaftliche Denkrich-tung, so jedenfalls Max Weber, für beide Disziplinen72 zutrifft. Cassirers Ansicht

71 LK S. 76, Hervorh. E.C.

72 „Will man solche Disziplinen, welche die Vorgänge des menschlichen Lebens unter dem Gesichts-punkt ihrer Kulturbedeutung betrachten ‚Kulturwissenschaften’ nennen, so gehört die Sozialwissen-schaft in unserem Sinne in diese Kategorie hinein“ und damit auch die Sozialpädagogik. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. J. Winkelmann, Tübingen, 7. Aufl. 1988 (1913) 1988a S. 165, Hervorh. v. Verf.

zu versuchen wir anhand, wenigstens eines kurzen Blicks auf sein Wissenschaftsver-ständnis, einzuschätzen73:

Zunächst: Für Cassirer ist alle Wissenschaft Kulturwissenschaft, weil alle schaftliche Arbeit Teil der Kultur ist. Allerdings, die tragenden Säulen aller wissen-schaftlicher Erkenntnis wurden von Cassirer schon in SuF verabschiedet, so der Glaube an die „Objektivität“ der Erkenntnis74, wie auch die Annahme der Kausalität als Ursachenfaktum von Ereignissen75. Für ihn beruht das wissenschaftliche Er-kenntnisvermögen allein auf der reinen „Bedeutungsfunktion“ der Erfahrung76. Als solches ist es jedoch Teil des „natürlichen Weltbegriffs“77, und jedem Menschen mög-lich. Die wissenschaftliche Erkenntnis und die Wirklichkeitserkenntnis sind also für Cassirer lediglich zwei Formen des einheitlichen Wirklichkeitsverstehens. Beide beruhen auf der gleichen Erkenntniskompetenz, nämlich der, Symbole zu bilden.

Daß zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und der alltäglichen Wirklichkeitser-kenntnis eine unüberwindlich scheinende Differenz besteht, das lastet Cassirer der Wissenschaft an und beklagt: Es gelingt der Wissenschaft insgesamt nicht, die den modernen Menschen bedrängenden Fragen nach dem richtigen Denken und Han-deln in angemessener Weise aufzunehmen. Daher trägt die Wissenschaft Mitverant-wortung für die moderne „Krise der Selbsterkenntnis.“78 Dabei wirft Cassirer der Wissenschaft nicht etwa vor, daß sie sich von den Lebenswelten der Menschen ab-spaltet, sondern ihre „Krise“ besteht im ersatzlosen Zerfall von tragenden Theorien, so daß wissenschaftliches Denken in einer Flut von Theorien zur „Anarchie ver-schiedener Denkansätze“ mutiert, denn „Tatsachenreichtum erzeugt nicht notwen-dig Ideenreichtum.“79 Und es ist Cassirers Bedenken, daß wissenschaftliche Interes-sen „zu wirklichen ErkenntnisInteres-sen über den Charakter der Kultur nicht gelangen; wir

73 Bekanntlich war ja Cassirer in den wissenschaftstheoretischen Diskurs seiner Zeit, der maßgebend durch Dilthey beeinflußt wurde, involviert. Wir werden darauf aber nicht näher eingehen, zumal Cassirers Standpunkt dazu auch indifferent erscheint (so auch Graeser 1994 S. 115f).

74 „Sie setzt einen Maßstab voraus, der in der Erkenntnis niemals gegeben sein kann“ und die Frage

„nach der Objektivität der Erfahrung überhaupt >beruht< im Grunde auf einer logischen Illusion.“

SuF S. 369

75 „Die Frage nach dem ‚Woher’ ist nicht anderes als eine bestimmte Form der logischen Bezie-hung....“ SuF S. 411

76 PsF III Dritter Teil: Die Bedeutungsfunktion und der Aufbau der wissenschaftlichen Erkenntnis.

77 PsF III S. 329

78 VM S. 15-47

79 VM S. 44f

werden uns in einer Masse unverbundener, zusammenhangloser Daten verlieren, der jede konzeptionelle Einheit zu fehlen scheint.“80

Cassirer empfiehlt – vielleicht als möglichen Ausweg aus dem o.g. Dilemma - die Trennung der Wissenschaften in solche, die nach Bedeutungen fragen und solchen, die nach Gesetzen fragen. Es wären dies im ersten Fall Kulturwissenschaften, die ihre Gegenstände anhand von Stil- und Formbegriffen beschreiben, wohingegen im zwei-ten Fall die Naturwissenschafzwei-ten sich Ding- und Gesetzesbegriffen bedienen81. Es geht ihm also um die Geltung zweier „Wahrheitsansprüche“. Der naturwissenschaft-liche Wahrheitsanspruch ist „der Kulturwissenschaft nicht erreichbar. Dem Anthro-pomorphismus und Anthropozentrismus kann sie nicht entsagen. Ihr Gegenstand ist nicht die Welt als solche, sondern nur ein einzelner Umkreis von ihr, der, vom rein räumlichen Standpunkt aus, als verschwindend=klein erscheint. Aber wenn sie bei der Menschenwelt stehenbleibt und damit innerhalb des Grenzen des engen Erden-daseins gefangen bleibt, so strebt sie um so mehr danach, diesen zugewiesenen Be-reich vollständig zu durchmessen.“82

Die Kulturwissenschaft, also auch die Sozialpädagogik, ist demnach weder an einer

„Universalität der Gesetze“, interessiert, noch sollte sie „die Individualität der Tatsa-chen und Phänomene“83 kümmern. Die Kulturwissenschaft kann nämlich nach Cas-sirer ein eigenes „Erkenntnisideal“84 vorweisen: „Was sie (die Kulturwissenschaft S.W.) erkennen will, ist die „Totalität der Formen, in denen sich menschliches Leben vollzieht. Diese Formen sind unendlich=differenziert, und doch entbehren sie nicht der einheitlichen Struktur. Denn es ist letzten Endes ‚derselbe’ Mensch, der uns in tausend Offenbarungen und in tausend Masken in der Kultur immer wieder entge-gentritt. Dieser Identität werden wir uns nicht beobachtend, wägend und messend bewußt; und ebensowenig erschließen wir sie aus psychologischen Induktionen. Sie kann sich nicht anders als durch die Tat beweisen.“85

80 VM S. 46

81 LK S. 56 ff

82 LK S. 76

83 LK S. 76

84 LK S. 76

85 LK S. 76, Hervorh. E.C.

Diesem Erkenntnisideal widmet Cassirer sein Theorieangebot, die „Philosophie der symbolischen Formen“. Dieses Angebot muß daher „bewegliche und bildsame Ge-dankensymbole“86 bereit stellen, die sich dafür eignen, „Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln – um das Leben, aus dem sie ur-sprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu machen.“87 Denn „Die Kon-stanz, deren wir hier (in der Kulturwissenschaft S.W.) bedürfen, ist nicht die von Ei-genschaften oder Gesetzen, sondern von Bedeutungen.“88

Als Theorie verspricht die PsF also eine Anleitung, um in der Pluralität kultureller Gestaltungen gleichwohl Identität zu finden. D.h.: einheitliche Erscheinungen und die sie gestaltenden menschlichen Kräfte in ihrer Symbolik zu erkennen: Was bedeuten sie für die menschliche Kultur? Oder: Welche Funktion haben sie in der Kultur, oder welche Leistung erbringen sie für die menschliche Kultur? In dieser Art jedenfalls er-schließt Cassirer die Funktion der Sprache aus dem „Gebilde“ der Sprache, die Funk-tion des Mythos aus den Gebilden des Mythos und die FunkFunk-tion der Wissenschaft aus deren Gebilden. Die Philosophie der symbolischen Formen als Theoriemodell für sozialpädagogisches Forschen wird uns demnach keine konkrete Vorgabe anbieten können für professionelles sozialpädagogisches Handeln. Aber sie wird uns dieses begründen lassen, weil sie ein Verstehensmodell für den „Gegenstand“ dieses Han-delns, für „Familien“, aufzeigt, das – so wäre es Cassirers Anspruch – auch in der Alltagswirklichkeit verstanden werden kann.

Verdichten wir diese Überlegungen einmal: Die „Konstruktion“ einer symbolischen Form zielt darauf, eine spezifische Gestaltung des menschlichen Kulturraums zu be-greifen, und das verlang 1., ein Formproblem zu lösen. In unserem Fall stellt sich da-her die Frage: Wie erscheint „Familie“ konkret? Welche „Gebilde“ des Familiären lassen Einheitlichkeit, lassen eine Form desselben erkennen? Es wird uns also zualler-erst eine Formanalyse beschäftigen. Sodann werden wir die „Sinnfrage“ stellen müs-sen, d.h. 2., eine Funktionsanalyse vornehmen89. Hier geht es darum: Was „tun“ Men-schen, wenn sie sich die Lebensform „Familie" geben? Was geschieht in den Gebilden

„Familie“? Es muß etwas sein, das für die Kultur Sinn macht, denn sonst, vermuten

86 FF XIII

87 LK S. 86, Hervorh. S.W.

88 LK S. 75

89 Diese „Konstruktionsanweisung“ stammt aus dem Aufsatz „Form und Technik“ in STS; wir werden darauf noch eingehen.

wir mal, gäbe es die Form des Familiären ja nicht mehr. Es geht darum, das „Hand-lungswesen“ Familie zu präzisieren; für Cassirer ist das wahrscheinlich der entschei-dendste Schritt zur Darstellung einer symbolischen Form. Aber an die Frage nach dem „Tun“ knüpft sich noch ein weiterer Analyseschritt: Es interessiert, 3. welche Er-fahrungswelt eine symbolische Form prägt. Wir nennen dieses dritte Strukturmoment die Konstitutionsanalyse.

Aber wir erklärt sich dieser dritte Analyseschritt? Eine jede historische Kulturgestalt inszeniert sich in ihren aktuellen Gestalten durch das Teilhaben an den drei für Cassi-rer tragenden Erfahrungsebenen: Mythos, Sprache und Erkenntnis, hervorgebracht durch die Bewußtseinsfunktionen von Ausdruck, Darstellung und Bedeutung. „Le-gen wir nun diese allgemeine Unterscheidung der Ausdrucksfunktion, der Darstel-lungsfunktion und der Bedeutungsfunktion ... zu Grunde: so besitzen wir an ihr einen allgemeinen Plan der ideellen Orientierung, innerhalb dessen wir nun gewisserma-ßen die Stelle jeder symbolischen Form bezeichnen können. Freilich nicht in dem Sinne, daß diese Stelle ein für alle Mal fixiert, daß sie innerhalb dieses Grundplans durch einen festen Punkt zu bezeichnen wäre. Vielmehr ist es für jede Form bezeich-nend, daß sie in verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung, in den verschiedenen Sta-dien ihres geistigen Aufbaues, sich zu den drei Grundpolen ... verschieden verhält.

Sie rückt in dieser Entwicklung von Ort zu Ort – und sie erfüllt erst in dieser Bewe-gung und kraft ihrer den Kreis des Seins und den Kreis des Sinnes, der ihr zugemes-sen ist.“90

Was heißt das? Diese drei Funktionsebenen konstituieren symbolische Formen. Und weil wir hier nach einer Kulturgestalt und nicht nach einem individuellen Ausdruck symbolischen Formens fragen, stehen wir vor dem Problem, die Anteile dieser drei Erfahrungsfunktionen für die Kulturgestalt Familie herauszufinden. Es leuchtet ein, daß die Fähigkeit des wissenschaftlichen Denkens als bestimmendes Konstitut im Lebensraum „Familie“ keine nennenswerte Rolle sielen kann (s.a. Kap. II, Abschn. 4).

Bleiben das mythische Denken und die Sprachlichkeit. In welcher dieser Erfah-rungsmodalitäten findet Familienleben statt? Ist es in der mythischen Lebensform verblieben, denn ursprünglich fand ja das gesamte Kulturgeschehen in mythischen Denk- und Lebensformen seinen Ausdruck. Oder erfahren wir uns im Familienalltag

90 STS S. 11, Hervorh. E.C.

eher im sprachlich-darstellenden Erfahrungsmodus? Oder müssen wir gar über ver-schiedene Anteile dieser beiden Erfahrungsmodi nachdenken? Dies wird zu klären sein, wenn wir uns via Funktionsanalyse über den Sinn des speziellen „Tuns“ im Klaren sind, welches das Familiäre als solches konkret hervorbringt. Grundsätzlich aber wird die Konstitutionsweise einer symbolischen Form uns die Lebendigkeit einer symbolischen Form vergegenwärtigen. D.h., wir können vielleicht am ehesten in ih-ren Ausführungen erkennen, daß es letzten Endes immer „‚derselbe’ Mensch, ist „der uns in tausend Offenbarungen und in tausend Masken in der Kultur immer wieder entgegentritt.“91

Fassen wir zusammen: Es geht bei der Konstruktion einer symbolischen Form offen-bar darum, die Form- und Funktionsanalyse einer Kulturgestalt in zwei Schritten zu vollziehen. Genauer: Neben 1. einem charakteristischen sinnlichen Erscheinungsbild wird 2. von Interesse sein, in welcher Weise diese Kulturgestalt für die menschliche Kultur Sinn macht. Dieser Sinn wird sich über die Frage nach der Art des Handelns erklären müssen. Dieses wieder müßte uns 3. Hinweise zum Modus des Erfahrens geben, das wir zuletzt dann in einer, nennen wir es Konstitutionsanalyse, zu ergrün-den suchen. Und wenn es darüber hinaus etwas gibt, das uns bei ergrün-den einzelnen Un-tersuchungen leiten kann, dann wäre es vielleicht folgendes: Cassirer suchte immer nach dem Eigensinnigen in der Welt, resp. in der Kultur und nicht nach Formen von Moral und Sittlichkeit. Er war davon bewegt, jede Wirklichkeit in ihre Weise zu-nächst einmal zu erkennen und gelten zu lassen, bevor ein Urteil über ihren „Wert“

gesprochen werden kann. Diesen Anspruch an sich selbst, die eigenen Vorurteile aufzudecken und sich für andere Sichtweisen offenzuhalten, diesen Anspruch der Toleranz erhebt er auch für das Nachdenken über symbolische Formen: „Um die Ei-gentümlichkeit irgendeiner geistigen Form sicher zu bestimmen, ist es vor allem notwendig, daß man sie mit ihren eigenen Maßen mißt. Die Gesichtspunkte, nach denen sie beurteilt und nach welchen ihre Leistung abgeschätzt wird, dürfen nicht von außen an sie herangebracht, sondern müssen der eigenen Grundgesetzlichkeit der Formung selbst entnommen werden.“92

91 LK S. 76.

92 PsF I S. 124