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Sozialpädagogische Kulturarbeit mit Familien meint: Formen der Begegnung zwi-schen der Autonomie einer spezifizwi-schen kulturellen Lebenspraxis und einer spezifi-schen Professionalität. Es sind Formen der Begegnung, die ein Arbeitsverhältnis ge-stalten, in der eine Dienstleistung erbracht wird. Es gibt einen Anlaß, eine Dienstlei-stung in Anspruch zu nehmen; im Fall der sozialpädagogischen Kulturarbeit ist dies eine von Familien selbst, oder von Familien in Zusammenarbeit mit zuständigen Be-hörden, festgestellte Dysfunktionalität des Familienlebens. Die Dysfunktionalität einer Familie erklärt sich, nach dem Kulturmodell, primär durch ungünstige Existenzbe-dingungen im gesamten Kulturraum (zu wenig, oder „falsche“ Anerkennung im Kulturraum, keine effiziente Interessenvertretung auf politischer Ebene, Überforde-rung und Ausbeutung durch den Kulturraum) und kaum je durch unzureichende haushälterische Fertigkeiten. Die Perspektive auf individuelle Bedingungen (persön-liche „Schuld“) der Dysfunktionalität steht daher in der Arbeit mit Familien deutlich auf dem zweiten Rang1. Die Dienstleistung sozialpädagogischer Kulturarbeit erfolgt (nach vertragsrechtlichen Kriterien) geregelt hinsichtlich Entlohnung, Zeitaufwand und ähnlichen Vertragskomponenten und situiert sich, wie oben schon erwähnt, als ein Arbeitsverhältnis. Die so verstandene Begegnung2 kann man als Praxis in folgen-de Sparten aufteilen:

1 Ineffiziente Arbeit von Managern oder Pfarrern wird gemeinhin auch nicht primär als persönliches Versagen, sondern zuerst einmal als Folge ungünstiger Bedingungen für die Wirtschaft oder die Religion betrachtet.

2 Zu diesem Begriff verweise ich auf die Ausführungen von Otto Friedrich Bollnow (1984). Als Grundkonstrukt des Begegnungsbegriffs, den ich hier verwende, verstehe ich Begegnung als

a) Die Begegnung zwischen zwei symbolischen Formen: Der Familie und der Wissen-schaft. Ihre Symbolwelten zeigen zwei nahezu konträre Formen der „Wirk-lichkeit“ (s.a. Kapitel II, 4 und Kapitel III 3.2.). Die Wissenschaft versichert sich ihrer Inhalte durch ein Denken, das sich dort auskennt, wo vom subjektiven Erfahrungsbereich abstrahierende Symbole gefragt sind und eine Handlungs-welt konstituiert werden muß, die darauf abzielt, größtmögliche Allgemein-heit, Gesetzmäßigkeit und Konstanz in seinen Erzeugnissen zu gewährleisten.

Die Familie braucht Verstehens- und Handlungsformen, die die leib-seelischen Bedürfnissen des sozialen Subjekts in eine konkrete Symbolwelt formt und insofern ein Denken, das sich in Spontaneität, Emotionalität und dem Handeln zugunsten lebensdienlicher Bedürfnisse auskennt. Kulturherme-neutInnen, so möchte ich die sozialpädagogischen „KulturarbeiterInnen“ ein-mal nennen, können das wissenschaftliche Denken in den Kulturraum Familie integrieren, wenn es gelingt, dessen Abstraktionsmodelle, z.B. die Gestalt des Erklärens attraktiv zu machen3. In unserem Fall also, wenn es gelingt, das was in dieser Familie individuell erfahren wird als etwas zu erklären und darzu-stellen, was die Wissenschaft über Kulturgestalt des Familiären sagen kann.

Was z.B. Familien vor fünfhundert Jahren erlebt haben und was sie heutzuta-ge im nächsten Dorf erleben; was „Erziehung“ im Familienleben bedeuten kann, usw. Wissenschaftliches Denken kann nützlich sein für den „Beweis“, daß individuelle Erfahrung nicht gleichbedeutend ist mit der Erfahrung von Einmaligkeit, daß es nicht bedeutet, losgelöst zu sein von kulturellen Bedin-gungen und der eigenen Geschichte. KulturheurmeneutInnen können, m.a.W., wissenschaftliches Denken als Modell einsetzen, um die Individualität zu rela-tivieren, mit der die Defiziterfahrung interpretiert wird und um dadurch zu erreichen, daß Familien die Zugehörigkeit zu Kultur und zu einem bestimm-ten Kulturgebilde erkennen können.

b) Die Begegnung zwischen Gast und Gastgebern: Einem Gast ist gewöhnlich der Zutritt in allen Kulturräumen gestattet, denn in dieser Rolle sind die für alle

verschiedene Dimensionen eines Gegenüber-Seins, in denen für Familienleben Veränderungen gesucht werden. Möglicherweise unscheinbare Veränderungen alltäglicher Handlungen, mögli-cherweise Veränderungen in Einstellungen und Verhalten von existentieller Bedeutung. Im Begriff der Begegnung soll auch die Skepsis davor codiert sein, sozialpädagogische Kulturarbeit in Fami-lien als „Methodenwerkstatt“ buchstabieren zu können.

3 Ich möchte in der Kürze dieser Erwägungen keinen Bildungsauftrag skizzieren. Doch daß Bildung im Familienleben einen Ort hat, erwähnten wir, und ich bin häufig erstaunt über das überwiegend große Interesse in Familien an Informationen wissenschaftlicher Art.

nicht zufälligen Begegnungen notwendigen Umgangsformen codiert. Ein Gast ist der Joker in der Kulturwelt – überall gegenwärtig, nicht der Fremde schlechthin, auch nicht der Vertraute - vielleicht ist ein Gast so etwas wie ein Wanderer zwischen den Welten. Gewöhnlich sind Gäste willkommen und können den Besuch genießen. Die Veränderungen, die Gäste im Lebensalltag von Gastgebern auslösen, halten gewöhnlich beide Seiten für erwünscht; Gä-ste und Gastgeber Gä-stehen in einer berechenbaren Beziehung und der Besuch eines Gastes ist zeitlich begrenzt. In meiner Kulturarbeit habe ich mich dafür entschieden, bei allen Besuchen Gast zu bleiben: Ich halte mich an die Orte, die ich im Familienraum zugewiesen bekomme, sage, wieviel Zeit ich maxi-mal für den Besuch habe und nehme im Übrigen hin, wer mit mir wie lange kommunizieren will. Man könnte vielleicht sagen: Kulturarbeit mit Familien in der aufsuchenden Praxis inkorporiert gleichsam eine Gastrolle, die, da auf kulturellen Konventionen mit hoher Gültigkeit beruhend, berechenbare Be-wegungen und Zäsuren, in die Symbolwelt Familie hineinträgt.4 Als Gast nehme ich gerne eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wasser an. Als Kulturarbeite-rin wünsche ich vielleicht einen anderen Ort für ein Gespräch als die Küche, oder wünsche jemand Bestimmtes aus der Familie allein zu sprechen, oder ähnliches. Wünsche, egal welche, müssen mit den Bedürfnissen der Familie kompatibel sein, oder in bedrohlichen Situationen eine Schutzfunktion erfül-len.

c) Die Begegnung zwischen Kulturgestalt und Kulturarbeit: Gäste, mit dem Auftrag, sozialpädagogische Kulturarbeit zu leisten, wollen einen Gestaltungsprozeß in der familialen Symbolwelt anstoßen und begleiten. Der Zweck dieser Arbeit ist es also, gewollte, gewünschte, und vielerorts auch zum Erhalt der Familie notwendige Veränderungen, in der Symbolwelt anzustoßen, sie zu begleiten, und auch mit zu verantworten, was die Arbeit in Gang bringt: Einen Gestal-tungsprozeß mit nicht berechenbarer, gleichwohl aber mit anhaltender Wir-kung, möglicherweise in der Personenwelt: weil vielleicht die Rückplatzie-rung eines Kindes aus dem Heim in die Familie erreicht wird. Sicher aber in der Handlungswelt: weil z.B. effizientere Möglichkeiten des Sorgens fürein-ander und der „Kultur des Zusammenlebens“ entdeckt werden. Und ziemlich sicher auch in der Erfahrungswelt: weil z.B. Räume, Situationen, Gefühle

4 Aus eigener Erfahrung sehe ich die Gefahr, daß sozialpädagogische Arbeit im Privatraum von Familien distanzlos werden kann, weshalb ich hier die Gastrolle stark machen möchte, die mir zu-dem im Kulturmodell Familie nahe liegend erscheint.

ders gedeutet werden. Der Gestaltungsprozeß der Kulturarbeit entfaltet sich gleichsam über der symmetrischen Beziehung zwischen Familie und Kulturar-beiterIn5. Im Kontext einer Kulturarbeit arbeitet nämlich nicht nur die Fachper-son an ihrem Metier, Fachper-sondern auch die Familie, nämlich an ihrer Lebensform.

Diese Arbeit erfordert Mut von Familien. Denn sie läßt ihre Symbolwelt transparent werden. Deckt auf, was vielleicht nicht aufgedeckt werden wollte.

Eigentlich nicht aufgedeckt werden wollte. Handlungen, Empfindungen, Ge-fühle. Diese Arbeit bedeutet Vereinbarungen zum Handeln zu treffen, sie zu reflektieren. Ziele auszudenken. Erfolge anzuerkennen, Mißerfolge und Kri-sen konstruktiv zu deuten und mehr. Diese Arbeit bedeutet Experimentieren mit Ängsten, mit Ungewöhnlichem, mit Neuem. Experimentieren im sensi-blen Symbolfeld des Sorgens für sich selbst und die Nächsten. Und für diese Arbeit gebührt Familien Anerkennung.

d) Die Begegnung im gemeinsamen Handeln. KulturhermeneutInnen erleben in Fa-milien heikle und manchmal auch im öffentlichen Raum tabuisierte Emotio-nen. Trauer, Wut, Rachebedürfnisse. Ihr Deutungshorizont ist nun nicht die Intimität von Beziehungserfahrungen, sondern die Annahme, daß manche Familienmitglieder, oder womöglich alle, die Sorge um ihr Wohlbefinden nicht so wahrnehmen oder wahrnehmen können, wie es ihrem Bedürfnis ent-spricht. Das Miterleben der symbolischen Erfahrungswelt also deutet darauf in, daß Familienmitglieder unterschiedliche Defiziterfahrungen an Fürsorglich-keit erlitten haben oder erleiden. KulturhermeneutInnen gehen davon aus, daß Verstehen und Verändern von der symbolischen Handlungswelt her: vom familiären füreinander Sorgen her, angegangen werden müssen, weil diese Handlungswelt mit der Erfahrungswelt einer Familie in einem konstitutiven Bedingungsverhältnis steht – präsent in der Symbolik der familialen Daseins-vorsorge. Wenn nun sozialpädagogisches Handeln bei der Deutung dieser Si-tuation hilfreich sein soll, dann ist es unumgänglich, daß sich der professionell in der Familie arbeitende Gast und der Gastgeber im gemeinsamen Handeln begegnen. Zum Beispiel:

- Das Gespräch: Es ist zweifellos das bedeutendste Arbeitsinstrument der sozi-alpädagogischen Kulturarbeit. Ort, Zeitrahmen und Thema eines Gesprächs werden geklärt. Dabei können Kinder aktiv oder passiv anwesend sein. Sie

5 Vom Kulturmodell her gesehen, kann diese Beziehung keine überwiegend, oder gar ausschließ-lich helfende, und daher asymmetrische Beziehung sein, wie etwa die zwischen Arzt und Patient.

können derart sich einbringen oder nur „mithören“ und so erfahren, wie die auf der Erwachsenenebene Schwierigkeiten beschrieben und Lösungen ge-sucht werden. Denn ein derartiges Gespräch ist (mit und ohne sozialpäd-agogische Kulturarbeit) ein Symbol familialer Daseinsvorsorge.

- Beobachtende Teilnahme: Als problematisch empfundene Situationen werden von KulturhermeneutInnen miterlebt - z.B. Frust, Konfliktstimmung, o.ä. am Mittagstisch - anschließend wird die Beobachtung mit einem oder mehreren Familienmitgliedern in Gesprächen reflektiert: – habe ich gesehen, daß das gemeinsame Essen für den Hunger nach Nahrung wichtig war? Gibt es möglicherweise Alternativen für die Stillung dieses Hungers? Habe ich ge-sehen, daß das gemeinsame Mittagessen für den „Hunger“ nach Plaudern erfüllend war?, usw. „Spiegeln“ meine Beobachtungen die Vorgänge und wie sollen sie verändert werden, so daß sich Sinn und Funktion eines ge-meinsamen Mittagessens, oder eines Ersatzsymbols, verwirklichen kann.

Beobachtenden Teilnahme kann auch bedeuten, (vor allem) mit Kindern über gemeinsame Tätigkeiten im Familienhaushalt, aber auch über Spielen, Inhalte des individuellen Erfahrens präsentiert zu bekommen und damit die Chance, mit ihnen zu „arbeiten“.

- Das Experiment: Eine Vereinbarung mit einzelnen oder mehreren Familien-mitgliedern, ein bestimmtes Verhalten über einen begrenzten Zeitraum hin auszuprobieren und sich dann darüber wieder auszutauschen, ob, warum und inwieweit die Handlungsalternativen hilfreich waren, oder nicht. Z.B.

geht Frau Gutberg schon lange dem Einkauf mit dem knapp fünfjährigen Jo-ris aus dem Weg, weil er im Laden für sich selbst einkaufen will, i.d.R. Sü-ßigkeiten und Plastikautos, und diese Ansinnen durchaus mit Gewaltaus-brüchen kommuniziert. Wie kann Joris das Einkaufen verstehen und sich be-teiligen? Wenn er z.B. weiß, daß der von ihm geliebte Kartoffelsalat Kartof-feln erfordert?, wenn er sie aussuchen und wiegen kann? Was kann Frau Gutberg ihrem Kind über den Einkauf, über dessen Bedeutung für das Fami-lienleben, sowie über ihre eigene individuelle Befindlichkeit und die von Jo-ris zeigen, erklären, zutrauen?

- Fürsprache und Repräsentanz: Es ist das Ziel sozialpädagogischer Kulturarbeit, die Kulturkompetenz in Familien auch dahingehend zu stärken, daß Familien im Kulturraum Präsenz zeigen. Zu dieser Stärkung gehört, auch das wurde

schon gesagt, mit Familien ihre interne Symbolwelt zu überschreiten, um Störendes oder Neues, jedenfalls Nichtalltägliches, zu integrieren. Das kann bedeuten, daß man Familien in Institutionen zu Präsenz zu verhelfen. Z.B.

indem man Begegnungen genau mit Mitgliedern der Familie vorbereitet, Si-tuationen durchspielt, etc., und sie in der Situation „begleitend“ unterstützt.

Das kann sein, indem man Eltern z.B. bei Gesprächen mit Lehrkräften in der Schule beisteht, um die häuslichen Möglichkeiten des Lernens darzustellen, so daß Lehrpersonen die Grenzen zwischen schulischem und häuslichen Lernfeld deutlich werden können. Das Überschreiten familialer Symbolwelt kann auch durch den Einbezug wichtiger Familienmitglieder geschehen.

Wichtig heißt: sie sind zwar nicht anwesend, aber sehr gegenwärtig. Es kann dann sein, daß schwierige Integrationen in die Erfahrungswelt der Familie bewältigt werden müssen. Meist handelt es sich um getrennte Väter, aber auch um Kinder, die im Heim leben, um Lebenspartner, die nicht im Haus-halt leben, oder um verstorbene Großväter.