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Cassirers Kulturphilosophie entstand zu einer Zeit, als die Sozialpädagogik, ungeachtet des anderen Denkens ihrer Symbolfigur Pestalozzi, nur wenig mehr war als der „verlängerte Arm der Fürsorge“3. Von deren Arbeit nahm Cassirer in seinem Beruf sicher keine Notiz. Cassirer schien sich, auch als Philosoph, weniger für die sozialen Fragen des zwanzigsten Jahrhunderts zu interessieren, als vielmehr für die politischen Fragen, da ihm die damalige politische Lage Europas zurecht äußerst besorgniserregend erschien. Bei allem politischen Interesse aber blieb er „nur“

aufklärerischer Philosoph, d.h., er wollte die „Bedingung der Möglichkeit“ für die Politik der deutschen Nationalsozialisten, als Frage nach den „philosophischen

3 Böhnisch et al. 2005, S. 11

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Grundlagen politischen Verhaltens“4, klären. Entlang dieser beiden Aspekte – Aufklärung, Kulturtheorie - lassen sich seine Ansprüche an die Pädagogik als Praxis erkennen. Denn das einzige was dem Philosophen ja bleibt, ist festzustellen, daß „die Kultur sein und fortschreiten wird, sofern die formbildenden Kräfte, die letzten Endes von uns selbst aufzubringen sind, nicht versagen oder erlahmen.“5 Und damit genau das nicht geschieht, braucht das Kulturwesen Mensch Erziehung und Bildung.

Pädagogik. Allerdings, so betont Cassirer, wird weder die Pädagogik noch sonst eine Wissenschaft es je vermögen, die „Unsicherheit über das Schicksal und die Zukunft der menschlichen Kultur“6 zu beenden.

Die Pädagogik, nicht die Philosophie, ist berufen, die Möglichkeiten der kulturgestaltenden Kreativität des Subjekts, dessen „Willen und dessen Vermögen zur Form“7, wie er es nennt, als Bildsamkeit zu begreifen und entsprechend anzuleiten.

Cassirer geht es in seinem Anspruch an die Pädagogik um die Emanzipation der Fähigkeiten des Tätig-Seins überhaupt, nicht um deren Optimierung zur Erreichung objektiver Ziele. Und er bekannte, daß eine derartige Emanzipation des baren menschlichen Könnens eben nicht durch Etablierung normativ gedachter

„Menschenbilder“ und der Erziehung zur Moralität vonstatten gehen kann8 (s.a.

Kapitel I, 4).

Pädagogik hätte demnach die Aufgabe, Zöglingen und Auszubildenden Einsicht in die Möglichkeiten menschlichen Könnens zu vermitteln. Nur so wäre, Cassirers Überzeugung nach, Menschen die Entwicklung von Verantwortung gegenüber dem eigenen Handeln möglich. Die daher erforderliche, umfassende Anerkenntnis menschlicher Denk- und Handlungskompetenzen und deren Etablierung in Erziehungs- Bildungs- und Ausbildungsprozessen, würde letztlich auch dazu führen, politisches Bewußtsein für alle zu kultivieren. Nicht zuletzt deswegen, weil ein solches Bildungsprojekt um die spezielle Bildung der Sprache nicht herum kommt. Für Cassirer der einzige Weg, mythisches Denken zu überschreiten, was wiederum einen für politische Bewußtheit unerläßlichen Vorgang darstellt.9

4 So der Untertitel von MdS

5 EBK S. 260

6 EBK S. 260

7 EBK S. 247; s.a. hier Kap. I, 4

8 EBK S. 246. Eine ziemlich klare Botschaft gegen Kants moralische Vereinnahmung der Pädagogik.

9 Cassirer steht mit diesem emanzipatorischen Anspruch an die Bildungsidee im Kontext des Neuhumanismus, wie sie nach seiner Zeit z.B. von Herwig Blankertz, vor allem aber von Hans-Joachim Heydorn vertreten wurde. S. a. Blankertz 1969

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Aber die Analyse des mythischen Denkens 1925 ruft für Cassirer nun doch auch die Sozialpädagogik auf den Plan. Denn das mythische Denken ist das Erfahrungskonstitutiv menschlicher Gemeinschaft, so wie wir sie aus alltäglichen und lebensweltlichen Formen kennen. Und diese Formen menschlicher Gemeinschaft sind, einer bedeutenden These Paul Natorps zufolge, gleichzeitig die Bedingung der Möglichkeit von Pädagogik. „Der Mensch wird zum Menschen allein durch menschliche Gemeinschaft.“10 Pädagogik ist Sozial-Pädagogik. Natorps Sozialpädagogik war es dieser Annahme zufolge selbstverständlich, daß Bildung und Erziehung, diesseits wie jenseits von pädagogischen Institutionen, stattfindet;

d.h., daß formelle und informelle pädagogische Orte überall in der menschlichen Gemeinschaft zu finden, und daß sie allesamt gleich bedeutsam sind für die Menschwerdung. Und eben dieses Faktum ließ Natorp (damals noch) ziemlich stabile bürgerliche Normen brechen und die Forderung an die Gesellschaft nach Erweiterung, wenn nicht gar Ablösung, der bürgerlichen Form der Familie stellen11.

Die These Natorps, von der menschlichen Gemeinschaft als Voraussetzung für alle Pädagogik, war schon seit 1899 bekannt. Ihr war aber vergleichsweise geringe Wirkung für die Sozialpädagogik als Disziplin beschieden. Ob Cassirer diese These seines Lehrers Paul Natorp kannte oder nicht, läßt sich nicht sagen, aber er hätte ihr ganz sicher zugestimmt. Worin er Natorp aber ganz sicher nicht zustimmen konnte, waren die Konstitutionsbedingungen, die Natorp für menschliche Gemeinschaft veranschlagt hat, wie z.B. Wille, Vernunft, Tugenden, und die er daher auch als sozial-pädagogische Inhalte für sozialpädagogische Erziehung und Bildung verstanden wissen wollte. Was hatte Cassirer daran auszusetzen?

Sicher ist: Natorps „Sozialpädagogik“ von 1899 und Cassirers „mythisches Denken“

stehen in einem Zusammenhang, weil Cassirer diesen Band der PsF bei seinem Erscheinen 1925 dem Andenken Paul Natorps gewidmet hat, der 1924 verstorben war. Sollte Cassirer dessen „Sozialpädagogik“ gelesen haben, dann wäre es allerdings, nicht nur aufgrund der persönlichen Beziehung zu seinem früheren Lehrer, sondern auch von der Sache her, verständlich, daß er Paul Natorp sein Buch über das mythische Denken gewidmet hat. Denn Cassirer erfüllt mit diesem Buch

10 Natorp 1925 S. 85

11 Natorp 1925, S. 220ff

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einen wichtigen Teil von Natorps Forderung an Sozialpädagogik als Wissenschaft, nämlich „die sozialen Bedingungen der Bildung also und die Bildungsbedingungen des sozialen Lebens“12 zu erforschen. Cassirers Angebot: Das mythische Denken. Eine Form symbolischer Welt- und Wirklchkeitsdeutung und: Eine Art „Kritik der sozialen Vernunft“, die als anthropologische Größe daherkommt und erkennen läßt, wie Menschen ihre unmittelbare Vergemeinschaftungsleistung vollziehen. Nämlich durch stimmig aufeinander bezogene Erkenntnisleistungen - u.a. des Wahrnehmens und Denkens, des Urteilens, des Fühlens, der Gestaltung der Raum-Zeitlichkeit, der Selbst-Erkenntnis, der Sprachlichkeit und des Tätig-Seins.

Zweifellos steht Cassirer mit dieser Analyse im Widerspruch zu Natorps Annahmen über die Bedingungen des Sozialen. Und er steht mit ihr gleichzeitig in deutlicher Distanz sowohl zu Natorps Rezeption der Psychologie13, wie zu deren damaligem Denken ganz allgemein, das u.a. das Mythische als „objektiv nichtig“ erklärt und als subjektive Illusion dargestellt hat, so daß es einer Art „Illusionismus“14 anheim gegeben werden konnte. Was Cassirer statt dessen für das mythische Denken in Band II der PsF als Sozialkonstitutiv festlegt, und an anderer Stelle auch immer wieder ausweitet und differenziert, das – wir erinnern uns - hat nicht viel mit Psychologie und nichts mit Natorps patriarchal geformten Kategorien, wie Trieb, Willen, Tugend und Vernunft zu tun, dafür sehr viel mit einer „Lebenslogik“

unmittelbaren Denkens und Wahrnehmens, tätiger Geschicklichkeit und Körperlichkeit.

Nun, wie für Cassirers PsF überhaupt, so auch für die symbolische Form des mythischen Denkens, fanden sich ja selbst in der Philosophie eigentlich bis heute keine Gefolgsmänner, intendierte sie doch die Gleichbewertung vorwissenschaftlichen Denkens mit wissenschaftlichem Denken. Alt schon ist die Angst, - pardon, überwiegend der Männer - der „Logos“ könnte den „Mythos“ nicht besiegen, nicht überwinden. Dennoch: wir haben es oben ausgeführt, es ist nicht so, daß wir Menschen auf vorwissenschaftliche Ekenntnismöglichkeiten verzichten, sie gar hinter uns lassen könnten. Vielmehr aktivieren wir sie an Orten und Situationen im menschlichen Dasein, die keine andere Art menschlichen Ich- und Weltverstehens sinnvoll besetzen kann. Sie als Bildungsgut quasi in ihrem Vermögen, in ihrer

12 Natorp 1925, S. 94; Hervorh. P.N.

13 PsF S. 62ff u.a.

14 PsF II Vorwort S. VIII

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Bedeutung für menschliches Dasein anzuerkennen, - wär dies ein Anspruch Cassirers an die Pädagogik, den sie noch einzulösen hätte? Jedenfalls ist für die Pädagogik vorwissenschaftliches Erkennen, bzw. solches Verstehen und Denken, immer schon von Interesse. Oder besser: Mythisches Denken, um bei Cassirers Terminus zu bleiben, mittels Erziehung und Bildung15 zu „kultivieren“, ist seit je schon pädagogisches Geschäft. Wäre möglich, daß dieses Geschäft, aus o.g. Gründen16, zu entschieden betrieben worden ist.