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Mythisches Denken kennt keine objektiven Zeiteinteilungen in Vergangenes, Gegenwär-tiges und ZukünfGegenwär-tiges. Es kennt nur die Zeitlichkeit der subjektiven Lebendigkeit.

Nämlich jene, die sich im Rhythmus des Lebendigen selbst zeigt, ganz ähnlich wie in der Musik. Das heißt natürlich nicht, daß man sich überhaupt nicht in den Dimen-sionen des Hier und Heute, des Vergangenen und des Zukünftigen zu orientieren vermag. Das heißt nur, daß diese Zeitzonen beliebiger und vor allem, daß sie sich im mythischen Bewußtsein nicht streng voneinander trennen. „Für den Mythos gibt es keine Zeit, keine regelmäßige Dauer und keine regelmäßige Wiederkehr oder Suk-zession ‚an sich’, sondern es gibt immer nur bestimmte inhaltliche Gestaltungen, die ihrerseits bestimmte ‚Zeitgestalten’, ein Kommen und Gehen, ein rhythmisches Da-sein und Werden offenbaren. Hierdurch wird das Ganze der Zeit durch gewisse Grenzpunkte und gleichsam durch gewisse Taktstriche in sich abgeteilt; aber diese Abschnitte sind zunächst lediglich als unmittelbar empfundene, nicht als gemessene oder gezählte vorhanden.“24

Das mythische Leben verlangt insofern nach Zyklen, die sich inhaltlich erkennen las-sen. Die sich z.B. an biologisch, wie an gesellschaftlich-kulturell, bzw. an religiös de-finierte Zäsuren des Lebens knüpfen. Geburten etwa, der Tod, der Eintritt in das Er-wachsenenalter von Mädchen und Jungen. Denn „es ist gewissermaßen ein eigenes mythisch-religiöses ‚Phasengefühl’, das sich ... an alle Vorgänge des Lebens, insbe-sondere an alle großen Lebensepochen, an alle entscheidenden Wandlungen und Übergänge knüpft. Schon auf den niedersten Stufen pflegen diese Übergänge, pfle-gen die wichtigsten Einschnitte im Leben der Gattung, wie in dem der Einzelnen, kultisch irgendwie ausgezeichnet und aus dem gleichförmigen Ablauf des Gesche-hens herausgehoben zu werden.“25

Im Familienleben gibt es „Zeiten“, in denen bestimmte Familienmitglieder immer an- oder abwesend sind. Es gibt regelmäßig wiederkehrende Ereignisse des Alltags, Es-sens- und Schlafrhythmen etwa, oder Zeiten, in denen die Räume und Dinge des Haushalts gereinigt werden. Es gibt Tage, an denen besondere Nahrung bevorzugt wird und Zeiten, in denen, z.B. aus religiösen Gründen, auf Nahrung überhaupt

24 PsF II S. 133

25 PsF II S. 134

zichtet wird. Also erfüllt das mythische Denken unser Bedürfnis nach Zeitstrukturen im Erkennen von Zyklen, nicht im Erkennen von Maßeinheiten.

Sie im Sinne der Daseinsvorsorge effizient zu situieren kann durchaus bedeuten, daß es kein Mittagessen gibt, sondern daß eine Familie nur am Abend gemeinsam ißt. Es kann heißen, daß unter der Woche täglich zwischen sechzehn und siebzehn Uhr ein Elternteil, oder auch die Nachbarstochter gegen Bezahlung, zur Hausaufgabenbe-treuung zur Verfügung steht. Einkaufen – Kochen – Kinder zum Musikunterricht schicken – Tiere versorgen – Besuch empfangen – ganz gleich wer dies alles wann er-ledigt, es bedeutet in jedem Fall, daß die stetigen Belange der Daseinsvorsorge in ein sinnvolles „Nacheinander“ gebracht werden müssen. Denn, und das gilt für alle For-men mythischen Denkens: Die Zeit, wie auch der Raum, besitzen „nicht eine schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur“, sie gewinnen vielmehr

„diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen

>ihr< Aufbau sich vollzieht.“26 Anders gesagt: Aus dem Handlungswesen einer sym-bolischen Form ergibt sich ihr spezifisches Raum- und Zeitverstehen.

Für Familien heißt das: „Zeiten“ aktualisieren sich im Handlungswesen der Daseins-vorsorge im Modus des mythischen Denkens, also ganz dicht an den sinnlich-anschaulichen Vorgängen dort. Verständliche Zeitstrukturen sehen daher etwa so aus: Nach dem Essen gehen wir ..., wenn Lena ihr Zimmer aufgeräumt hat, dann..., noch vier Mal schlafen, dann..., wenn ich diese fünf Seiten gelesen habe, dann..., usw.

Das Handeln als sinnliche Gestalt, ist überhaupt die entscheidende Dimension, in der sich mythisches Denken selbst versteht und zu verwirklichen weiß. Die „geistigen“

Taten sind also nicht das Thema der mythischen Lebensform. „Der Mythos ist ja kein System von Glaubensdogmen. Er besteht vielmehr aus Handlungen als aus Gedan-ken, Phantasien und Vorstellungen.“27 Und in diesem Handeln geht es um Lebenspra-xis.

Aus dem Handeln also, das sich – in gewöhnlichen, wie in ungewöhnlichen Zeiten - um die eigensten Belange des Daseins für mich und für andere ergibt, zeigt sich im mythischen Erleben „die Welt“. Und ergeben sich „Ordnungen“. Deswegen steht im mythischen Denken „die reine Tat, die Funktion dieses Weisens und Bedeutens, ...

26 STS S. 102

27 VM S. 126

gewissermaßen auf sich selber, ohne der Zurückführung auf ein persönliches Sub-strat, auf einen Täter zu bedürfen.“28 Es handelt sich, um es nochmals zu betonen, beim mythischen Denken also nicht um eine reduzierte, eine „prälogische“ Erfah-rungsform, sondern es geht hier „um eine Lebensform ..., d.h. um etwas, das mit der handgreiflichen Lebenspraxis aufs engste verwoben ist.“29 In diesem Sinne ist die im mythischen Denken sich konstituierende Wirklichkeit immer eine „Erlebniswelt“. So kann es auch im Familienleben tatsächlich Situationen geben, die sehr viel mehr da-durch verständlich sind, weil etwas geschieht – und nicht, weil geredet wird. Wenn eine Mutter beispielsweise ihre Ankündigung ohne weitere Diskussion in die Tat umsetzt und drei Tage nicht mehr für Einkauf und Essenszubereitung sorgt, weil Er-na und Peter die zugesagten Hilfeleistungen nicht erbracht haben30.

Die Orientierung des mythischen Denkens am Handeln erklärt auch dessen Nei-gung, Rituale zu entwickeln. Rituale, also nur um ihrer selbst willen inszenierte und stereotyp ablaufende Handlungen, sind geeignet, in unserer Wirklichkeitserfahrung stabilisierende und strukturierende Wirkung zu erzeugen; wir haben oben Gehlen zu diesem Thema erörtert. Für Cassirer ist das Ritual eine ganz eindrückliche Gestalt des mythischen Bewußtseins. Rituale begleiten bis heute in allen Kulturen beispiels-weise die Übergänge an Lebenszyklen. Die Geburt, Geburts-Tage, den Eintritt ins Erwachsenenalter, Familiengründung, Ausbildung und Berufslaufbahnen, den Tod.

„Durch diese Riten wird die fließend immer gleiche Reihe des Daseins, wird der blo-ße ‚Verlauf’ der Zeit gewissermablo-ßen religiös abgeteilt; durch sie erhält jede besonde-re Lebensphase ihbesonde-ren besondebesonde-ren besonde-religiösen Einschlag und ihbesonde-ren besondebesonde-ren besonde- religiö-sen Sinn.“31

Die Bedeutsamkeit von Ritualen für Familienleben läßt sich mit der Kulturphilophie Cassirers daher widerspruchsfrei mit pädagogischer, psychologischer und so-ziologischer Familienforschung behaupten. Sind sie doch in den Sozial- und Verhal-tenswissenschaften überhaupt ein höchst aktuelles und umfangreiches Thema, dem wir an dieser Stelle gewiß nicht gerecht werden können. Immer die Schuhe

28 PsF III S. 84

29 Krois, in Poser, 1979, S. 199-217

30 Mütter mit einer „entspannten Einstellung zur Hausarbeit“, also solche, die auch etwas liegen las-sen können, sind am erfolgreichsten, wenn es gilt, Kinder zur Mitarbeit zu bewegen. S. Hofer et al.

2002, S. 116

31 PsF II S. 134; Cassirer sieht übrigens zwischen Mythos und Religion keinen signifikanten Unter-schied: „In der Entwicklung der menschlichen Kultur können wir keinen Punkt angeben, an dem der Mythos endet und die Religion anfängt.“ VM S. 139

hen, auch wenn sie nicht schmutzig sind – immer Samstag Eintopf, auch in der Sommerhitze – jeden Abend ein liebevolles Gutenachtritual, ganz gleich, ob der Tag harmonisch oder chaotisch verlaufen ist – dies und ähnliches manifestiert Alltags-strukturen ebenso wie die Faktizität von Familienbindungen, grenzt das „Eigene“

vom „Fremden“ ab, den Tag von der Nacht, beendet Streit und sorgt für „Gewiß-heit“ des Da-Seins. Auch ohne Worte.