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Vierundvierzigstes Kapitel Mit dem Schiff auf der Themse

Am nächsten morgen wurde Jonathan von Jacques geweckt.

»Das ist unser letzter Tag! Marsch! Marsch! Wir sind die ewigen Juden des Tourismus, von nun an geht es nicht mehr ums Vergnügen, sondern um die Pflicht! Unaufhörlich sehen, noch mehr sehen, immer nur sehen, so lautet unser Wahlspruch!«

»A propos, mein lieber Jacques, ist dir aufgefallen, daß die meisten Wahlsprüche englischer Städte oder Orden in französischer Sprache abgefaßt sind? Das ›Dieu et mon droit‹ auf dem Wappen Englands oder auch das ›Honny soit qui mal y pense‹ des Hosenbandordens.«

»Das ist allerdings merkwürdig.«

»Natürlich kommt es von der Eroberung durch die Normannen; während zwei Jahrhunderten haben diese guten Insulaner unser Idiom gesprochen!«

»Na, davon ist in ihrer Aussprache aber nichts hängengeblieben. Im übrigen, Jonathan, ist deine Beobachtung vollkommen richtig, doch sie könnte ungemein gewinnen, wenn sie an der frischen Luft gemacht würde. Beeilen wir uns, und dann nichts wie weg; ich bin das Programm für den heutigen Tag noch einmal durchgegangen, es wird nichts fehlen.«

In wenigen Minuten hatten die zwei reiselustigen Burschen ihre Toilette beendet; sie verließen das Hotel und, nachdem sie die London Bridge überquert hatten, bestiegen sie eines jener Schiffe, die bis Greenwich die Themse hinunterfahren. Der Fluß ist in der Nähe der London Bridge von Passagierschiffen und Küstenfahrzeugen übersät, die meisten nutzten die zurückweichende Flut und glitten mit vollen Segeln und vollem Dampf dahin.

Das Passagierschiff nach Greenwich entfernte sich schnell von der Brücke.

Es ließ das Custom House, die Zollverwaltung, linker Hand liegen, ein weitläufiges und monumentales Gebäude, das aus drei gewaltigen Portiken in ionischem Stil besteht, geschmückt mit Säulen, die bereits von der ätzenden Nässe der Themse zerfressen sind. Das Wasser des Flusses ist nicht schlammig und auch nicht lehmig, sondern gleicht den übelriechenden Auswürfen einer Kloake; die Themse ist übrigens nichts anderes als eine riesige Kloake, in die zweimal am Tag die Flut den ganzen Unrat der Großstadt zurückströmen läßt:

Die Nordsee will ihn um keinen Preis aufnehmen. Darin liegt eine stetige Ursache für Ansteckungen. Ist es unter diesen Umständen also verwunderlich, daß die Pest London sechsmal heimgesucht und 1665 hunderttausend Menschen dahingerafft hat? Während der hochsommerlichen Hitze im Juni und Juli werden die Ausdünstungen des Flusses unerträglich, und jedes Jahr ist das halb erstickte Parlament gezwungen, seine Sitzungen zu unterbrechen.

Der Dampfer durchfurchte dieses faulige Wasser, das kaum Gischt hervorbringen kann, so schwer und klebrig ist es. Schon bald richteten sich die fünfzehntausend Maste der in den Docks eingeschlossenen Schiffe wie Stacheln am Horizont auf. Aber Jacques war der Ansicht, nachdem er bereits die Hafenbecken von Liverpool gesehen hatte, auf das Schauspiel der Londoner Hafenbecken verzichten zu müssen, die gewiß nicht sehenswerter sind. Hinter einer Krümmung des Flusses tauchte eine kolossale Schiffskonstruktion auf: Es war die Leviathan, die durch die Anstrengungen der Ingenieure endlich auf ihr

natürliches Element gesetzt worden war. Zu Jacques’ großem Bedauern war es nicht mehr möglich, dieses Ungeheuer der Meere zu besichtigen, das zwanzigtausend Registertonnen nichtigen Tand zu fassen vermag! Sie ankerte ein wenig oberhalb von Greenwich, wo der Dampfer kurz darauf anhielt.

Greenwich liegt ungefähr fünf Meilen unterhalb der London Bridge. Es ist eine richtige Stadt. Jacques warf nur einen halben Blick auf den herrlichen Palast, den England seinen Seeleuten als Hospital geschenkt hat. Er bemühte sich vergebens, Jonathan den berühmten englischen Meridian zu zeigen, der durch die Sternwarte geht, dann zog er seinen Begleiter in einen Kahn: Er wollte zur Leviathan zurückkehren und sie in Augenschein nehmen. Das mit Hilfe von zwei Rudern gesteuerte Boot fuhr stromaufwärts, vorbei an einem Dreidecker ohne Masten, der dem Hospital als Dependance dient und dessen wuchtige Masse die ungeheure Größe der Leviathan zur Geltung brachte. Jacques konnte sich eine genaue Vorstellung von ihrer Höhe machen, indem er an den Schaufelradtrommeln entlangruderte, die für sich genommen schon ein Monument bilden; während dieser nautischen Exkursion tauchte Jonathan einen Finger in die Themse, und noch am übernächsten Tag bedauerte er diesen verhängnisvollen Einfall.

Nachdem der Kahn diese schwimmende Welt umkreist hatte, kehrte er an den Quai zurück; die Reisenden nahmen wieder ein Dampfschiff, das die Themse hochfuhr, und stiegen am Anlegeplatz beim Tunnel, am linken Flußufer aus. Als sie den Eingang dieses unnützen Wunderwerks erreichten, das Herr Brunel, ein französischer Ingenieur, entworfen und ausgeführt hatte, drangen sie über die Schneckenwindungen einer Treppe in einen breiten Schacht vor, dessen Wände Bilder aus verschiedenen Ländern zieren, gemalt mit jener Koloristenüberzeugung, die englische Künstler auszeichnet. Am Ende dieses Schachtes tun sich zwei vierhundert Meter lange Gänge auf, aber nur der rechte ist für den Fußgängerverkehr geöffnet, und man muß one penny bezahlen, um die Themse unter ihren abscheulichen Wassern zu durchqueren. Dieser lange Schlauch wirkt trostlos, unheimlich, grabstättenhaft; die dicke Luft wird von zahlreichen Gaslaternen durchbrochen, und zwischen den beiden durch Arkaden miteinander verbundenen Gängen befinden sich Läden mit überflüssigen und teuren Gegenständen; geführt werden sie von den hübschesten Verkäuferinnen der Welt, die, wie es heißt, auch selbst zu den ausgestellten Waren gehören.

Gerade als Jacques und Jonathan den Gang betraten, erzeugte am anderen Ende ein Händler, der mit einem Kornett ausgerüstet war, unter diesem langen Gewölbe ungewöhnliche Klangeffekte zum Ergötzen der Zuhörerschaft; diese

vollen Töne waren zunächst nur undeutlich zu vernehmen, aber schon wenig später blieb der vorauseilende Jonathan stehen und packte Jacques unversehens am Arm.

»Hör doch!« sagte er. »Hör doch!«

»Was ist denn?«

»Hörst du denn nicht? Erkennst du es nicht?«

Von geistlosen Lippen geblasen, schmetterte das entsetzliche Instrument mit aller Kraft Ah! L’amor, l’amore ond’ardo aus dem Trovatore!

»Sogar im Tunnel!« sagte Jacques.

»Ich verstehe nicht, wie er das aushält«, antwortete Jonathan schlicht. »Komm Jacques! Nichts wie weg hier.«

Sie kehrten zur unteren Schachtöffnung zurück, doch unterwegs erblickten sie in einem der Läden noch eine kleine Dampfmaschine, groß wie die Hand und von der Flamme eines Gasbrenners gespeist; sie setzte die Kurbel einer Drehleier in Bewegung. Zum Glück spielte sie nicht, denn Gott weiß, was sie unweigerlich gespielt hätte.

Mit großem Vergnügen sah Jacques das Tageslicht wieder, und seinem im voraus festgelegten Programm gemäß schlug er den Weg zum Tower von London ein. Sie hatten noch eine gute Strecke vor sich, und da keine Droschken in Sicht waren, mußten sie wohl oder übel zu Fuß gehen. Nach allerlei Umwegen, nachdem sie sich so manches Mal im üppig wuchernden Netz dieser Geschäftsstraßen, die an die Docks grenzen, verirrt hatten, nachdem sie Eisenbahnen erblickt hatten, die in gerader Linie durch Kirchen und Häuser fuhren, nachdem sie Züge beobachtet hatten, die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit über die Dächer und Giebel hinwegbrausten, erreichten die beiden Freunde schließlich völlig erschöpft den Londoner Tower!

Fünfundvierzigstes Kapitel

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