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Jacques und Jonathan gehen ins Theater

Das Cab schlängelte sich, von der geschickten Hand des Coachman gelenkt, flink und unbehindert durch das Gewühl der Wagen mit ihren leuchtenden Farben und seltsamen Formen; es fuhr an der dorischen Fassade von Somerset House vorüber und erreichte Temple Bar, den letzten noch erhaltenen Rest der alten Stadtgrenzen. Es handelt sich um ein Tor in der Gestalt eines Triumphbogens, das immer offensteht und nur vor einer einzigen Person geschlossen wird, Ihrer Allergnädigsten Majestät der Königin, wenn sie in diesen Stadtteil von London kommt. Um über die Schwelle zu treten, braucht sie eine Sondergenehmigung des Lord Mayor, dem sie auch eine Empfangsbestätigung aushändigen muß, wenn sie die Diamanten der Krone anlegen will, die im Tower eingeschlossen sind. Diese Juwelen gehören dem englischen Volk, jenem Bettler, der mit leerem Blick und hungrigem Bauch vorübergeht, jenem stockbesoffenen Matrosen, der gegen die Türen des Gin House taumelt.

»In früheren Zeiten«, sagte Jacques, »wurden am Tor Temple Bar die Köpfe der Enthaupteten zur Schau gestellt; ich habe mir sagen lassen, daß bei öffentlichen Festen dieses Denkmal mit Köpfen aus Pappe geschmückt wird, die

perfekt nachgebildet sind und blutig wie die von John Bull so geschätzten Roastbeefs!«

»Das will ich gerne glauben, er ist zu allem fähig. Aber sieh nur, Jacques, was für eine Menschenansammlung, wir sind in der Ludgate Street, und Saint Paul’s zeigt uns bereits seine Kuppel! Und dieser Haufen Kinder, man könnte sich in Liverpool wähnen.«

»So ist es in ganz England, Jonathan; das erklärt auch, warum die englischen Romanciers, die diese reizvolle Bälgerschar vor Augen haben, das Leben ihrer Helden immer vom zartesten Alter an erzählen.«

In diesem Teil Londons gibt es sehr viele Kirchen, aber es fehlte ihnen an Zeit, sie alle zu besichtigen, und im übrigen sahen sie immer verschlossen aus.

Ein Schild, das unter einem Drahtgeflecht am Tor angeschlagen ist, gibt Name und Wohnsitz des Pfarrers an und ebenso, welchen Geschäften er neben seiner Frau und den niedlichen Kindern nachgeht.

Über die Fleet Street und Old Bailey, deren Namen, wie die aller Londoner Straßen, nur mit Mühe zu entziffern waren, gelangten die beiden Freunde zum Newgate-Gefängnis, einem mehr oder weniger neuen Bau, der jedoch düster und furchterregend wirkt, denn die englischen Architekten glänzen darin, diese Art von Lokalkolorit zu schaffen. Sie setzten ihren Weg bis zur Bank und zur Börse fort; diese beiden Monumente sind von einem nichtssagenden und ausdruckslosen griechischen oder römischen Stil. Die Bank of England scheint sich selbst zu bewachen, ohne jene Gefolgschaft von Soldaten und Invaliden, wie man sie in Paris antrifft; die New Royal Exchange sieht wie eine Kirche aus, und ist sie nicht tatsächlich der bedeutendste Tempel der Welt in diesem Reich der Industrie und Spekulation?

»Die Engländer«, sagte Jacques, »haben eine kuriose Art, die Spekulanten zu unterscheiden, wenn man sich in dieser Geschäftswelt auskennt. Sie nennen sie bear und bull, Bär und Stier; der Käufer, der wagemutige Mensch, der zuversichtlich ist, produktiv und schöpferisch, das ist der Stier; der Pessimist dagegen, der stets glaubt, das alles verloren ist, der Verkäufer mit einem Wort, das ist der ungehobelte Brummbär, der traurige Bär, der Bär, der oft und gegen seinen Willen vom Käufer an der Nase herumgeführt wird. Ich halte bear and hüll für eine treffliche Charakterisierung!«

Nachdem sie es versäumt hatten, einer neuen Reiterstatue von Wellington ihren Gruß zu entbieten, nachdem sie ein paar Sekunden (die ihnen wie Jahre erschienen) die sechs korinthischen Säulen des Herrn Lord Mayor betrachtet

hatten, kehrten sie in ihre kleine Taverne zurück, wo ihnen der vornehme Kellner ein eher schnelles als reichhaltiges Dinner servierte. Jacques wußte bereits, wie er den Abend verbringen wollte; er beabsichtigte, eine Aufführung von Macbeth im Princess’s Royal Theatre, in der Oxford Street zu besuchen. Jonathan nahm zwei Sperrsitze im Parkett zum Preis von je sechs Shilling und erhielt beim Betreten des Zuschauerraums ein Programm mit folgendem Inhalt:

Der Zuschauerraum des Princess’s Royal Theatre ist von mittlerer Größe, aber entzückend und ganz neu ausgestattet; die Proszeniumslogen sind von hinreißendem Geschmack, und Jacques saß in der Nähe von Damen in Balltoilette, mit Blumen im Haar und einem Dekolleté, wie nur Engländerinnen eines tragen, die ungestraft sehr weit gehen können. Das Publikum war bis zu diesem Zeitpunkt nur in geringer Zahl erschienen, nach neun Uhr sollte es allerdings vermehrt hereinströmen, denn dann sinken die Plätze auf den halben Preis. In England, wo alles frei ist, kann jedermann ein Theater begründen, eine Omnibuslinie einrichten, Ballokale oder Wirtshäuser mit Musik eröffnen und Zeitungen herausgeben, wie es ihm gefällt; gerade in dieser Hinsicht ist den Engländern ein schöner Erfolg gelungen, denn sie besitzen siebenhunderteinundachtzig Tageszeitungen und vierhundertachtzig literarische Magazine und Zeitschriften. Für die Theater folgt aus dieser uneingeschränkten Freiheit, daß die Willkür des Direktors keiner Kontrolle unterliegt; er kann den Stil neu bestimmen, genauso wie er die Eintrittspreise nach seinem Gutdünken ändert. Er entscheidet kurzum allein, aufweiche Art er die Zuschauer anlockt.

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