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Siebenundvierzigstes Kapitel Eine Guillotine im englischen Stil

»Bis jetzt«, sagte Jonathan, »war es recht interessant, aber das ist auch schon alles; ich kann nicht mehr! Nirgendwo eine Sitzgelegenheit! Stühle gibt es hier nur für diese Wachskerle!«

»Geduld, Jonathan; hol zwölf Pence aus deiner Tasche und folge mir.«

»Schon wieder!«

»Schon wieder! Aber …«

»Folge mir, sage ich dir, und dann bist du erlöst.«

Am äußersten Ende der beiden ersten Salons folgte noch ein dritter, vor dessen Eingangstür ein großes Gedränge herrschte. Dieser Salon war ein geräumiges Zimmer, mit dunklen Vorhängen bespannt und schwach beleuchtet.

Die beiden Freunde warfen einen kurzen Blick hinein und erschauderten:

Zwei-oder dreihundert abgeschlagene Köpfe, symmetrisch in Fächern aufgereiht, stierten sie mit ihren unheimlichen Augen an. Jeder einzelne war sorgfältig präpariert, etikettiert und trug die gräßlichen Spuren von Frevel und Leiden. La Bocarmi, Lacenaire, Castaing, Papavoine, Peytel, Madame Lafarge, Bastide, Jorion, der Vatermörder Benoît, Palmer und Burk zeigten ihre schrecklichen Fratzen: Alle Nationen, Amerika, Frankreich, England hatten dieser grausigen Sammlung ihren Tribut an abgeschlagenen Köpfen geleistet, und die mit der Todesstrafe gesühnten Gewaltverbrechen kamen einem wieder in den Sinn und riefen einen befremdlichen Eindruck hervor.

In der Mitte des Raumes hauchte Marat, von der Hand Charlotte Cordays getroffen, in der Badewanne sein Leben aus und stellte eine gräßliche Wunde zur Schau, aus der noch immer Blut floß. Ein paar Schritte weiter steckte Fieschi seine Höllenmaschine in Brand, andere Verbrecher plauderten miteinander, und im Dunkeln verschmolzen Orsini und Pieri mit der Besucherschar! Man fragte sich, ob man nicht auch selbst zu diesem Haufen Schurken gehörte; die Hände zitterten und die Augen waren blutunterlaufen.

»Wo sind wir eigentlich, Jacques?«

»Im Gruselkabinett.«

»Mir scheint das alles von dubiosem Geschmack zu sein.«

»Nun gut! Es ist ausgesprochen englisch, aber schau da hinüber! Schau!«

»Die Guillotine!« rief Jonathan.

Ganz hinten im Salon stand tatsächlich das entsetzliche Hinrichtungswerkzeug, das erste, bei dem der Mechanik das Amt des Scharfrichters übertragen wurde! Die Guillotine von 1793, jene, die so viele Opfer unter ihrer eisernen Umklammerung beben spürte. Jene, die Ludwig XVI.

und Robespierre, Marie-Antoinette und der Dubarry, Danton und André Chenier, Philippe Egalité und Saint-Just den Kopf abgeschlagen hat! Ein ordnungsgemäß ausgestelltes Zertifikat, unanfechtbar und mit zuverlässigen Unterschriften versehen, hing daneben und bestätigte, daß Samson selbst diese Guillotine nach der Revolution, nach der Schreckensherrschaft verkauft hatte! Nichts konnte authentischer sein, nichts fürchterlicher!

Das Blutgerüst war vollständig aufgebaut, auf den Stufen der Treppe drängte sich das Volk; Jacques folgte dem Gewühl und zog seinen Freund mit sich. Sie erreichten die Plattform, auf der jene beiden roten Pfosten emporragten, die das Messer in Form eines unregelmäßigen Parallelogramms tragen; eine in Handhöhe an einem der Pfosten angebrachte Eisenstange hielt die schwere Stahlklinge zurück, und nur das untere Ende war mit einem Vorhängeschloß festgemacht, damit kein Engländer plötzlich Lust bekommen sollte, die Mechanik auszuprobieren. Vor den Pfosten stand die Wippe, jene verhängnisvolle Planke, aufrecht und kippbereit; Jacques konnte der Versuchung nicht widerstehen, auf das Trittbrett dieser Wippe zu steigen, und er bewunderte schaudernd die bestrickende Einfachheit dieses Mechanismus. Mit einem Male waren erstickte Schreie, unartikulierte Laute zu vernehmen, der Besucherschwarm kam zum Stillstand, und jeder heftete seinen Blick auf das entsetzliche Beil: Zum Glück war es an seinem Platz, doch ein dicker Engländer, neugieriger und interessierter als alle anderen, war auf die Idee gekommen, seinen Kopf in den Ring der Guillotine zu stecken, und bekam nun keine Luft, weil er unter dem Druck des oberen Bogens dieser Öffnung nicht mehr zurückkonnte. Jacques eilte ihm zu Hilfe und hob dieses bogenförmig ausgeschnittene und mit Eisen beschlagene Brettchen hoch, das dem Inselbewohner den Hals abschnürte; dieser stieß ein zufriedenes Grunzen aus.

»Tja«, meinte Jacques, »ich habe gerade eine sehr tröstliche Überlegung angestellt.«

»Welche denn, mein lieber Freund?«

»Nun, daß einen dieser Apparat höchstwahrscheinlich erwürgt, bevor man guillotiniert wird!«

»Danke, Jacques«, antwortete Jonathan, »danke! Fortan bin ich wirklich beruhigt.«

»Und jetzt laß uns gehen; ein letzter Blick! Ein letzter Gedanke, und dann verlassen wir England mit einer Reverenz vor der Guillotine Frankreichs!«

Die beiden Besucher faßten sich wieder, als sie genüßlich die Abendluft einsogen; sie glichen Verurteilten, denen soeben ihr Gnadenerlaß auf dem Schafott verlesen wurde.

Eine Droschke nahm sie in ihrem Schöße auf und setzte sie eine Stunde später ganz schlaftrunken vor dem London Bridge Hotel ab. Am nächsten Morgen begaben sie sich zum Brighton Railway in der Duke Street; dank einer Dolmetscherin wurden ihre Wünsche problemlos entgegengenommen und ihre Koffer an einem sicheren Ort verwahrt. Sie stiegen in einen Waggon erster Klasse, und über die umliegenden Häuser hinweg warf Jacques einen letzten Blick auf die Themse und Saint Paul’s Cathedral. Wenig später konnte er flüchtig die Fassade des märchenhaften Sydenhampalastes betrachten, doch es war nur ein kurzes Aufblitzen; nach zwei Stunden hielt der Zug in Brighton, diesem von Thackeray so gerühmten Parthenope des Nordens. Eine Nebenlinie der Eisenbahn verbindet Brighton mit dem kleinen Hafen Newhaven; hier trafen die beiden Reisenden eine halbe Stunde später ein und entdeckten die zwei riesigen Schornsteine des Passagierschiffes Orléans, das bereits unter Dampf stand, um nach Frankreich zu steuern.

Die beiden Freunde stürmten an Deck.

»Wir kehren England den Rücken!« sagte Jacques.

»For ever! For ever!« antwortete Jonathan.

Die Orléans lichtete unverzüglich den Anker und nahm Kurs auf Dieppe. Die See war ruhig, und die Überfahrt dauerte nicht lange. Schon nach fünf Stunden zeichneten sich Frankreichs Klippen am Horizont ab.

»Empfindest du etwas dabei, Frankreich wiederzusehen?« fragte Jacques.

»Nicht das geringste«, antwortete Jonathan, »und du?«

»Also weißt du, ich auch nicht!«

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