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Dreißigstes Kapitel Es riecht nach Chester

Als sie den Bahnhof verließen, standen die Reisenden sogleich auf einem hübschen Platz mit einer Grünanlage in der Mitte, auf der mehrere statuengeschmückte Säulen emporragten; wegen der Dunkelheit konnten sie allerdings nichts Genaueres erkennen, sie schafften es gerade, den Namen des Platzes zu entziffern, auf dem sie standen: George Square. Comrie’s Royal Hotel sprang ihnen in die Augen, sie traten ein und wurden von reizenden, überaus einnehmenden jungen Damen empfangen. Jacques griff in den Aufgabenbereich seines Freundes ein und murmelte einige Worte, die sich mit der ehrenwerten Absicht trugen, Englisch zu sein. Die freundlichen Misses legten gütige Nachsicht an den Tag, sie verstanden, daß es um ein Zweibettzimmer ging und ließen ihre Gäste in den ersten Stock des Hauses führen.

Nach sorgfältigen Waschungen gingen sie in den Salon hinunter und setzten sich an einen großen Tisch, nachdem sie zu essen bestellt hatten. Während der Vorbereitungen für diese Mahlzeit vergnügte sich Jacques damit, ein paar Ansichten von Edinburgh zu betrachten, die an der Wand hingen. Es gefiel ihm, von diesen vertrauten Straßen umgeben zu sein, und stolz sagte er zu sich:

»Auch ich bin in Edinburgh gewesen!«

Während er die Reihe seiner Betrachtungen fortsetzte, wurde seine Nase von einem merkwürdigen, um nicht zu sagen ekelerregenden Geruch gekitzelt.

»Was kann das nur sein, Freund Jonathan?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete dieser, »aber es ist höchst unangenehm, man könnte sich an Bord eines Dampfschiffes glauben, bei stürmischem Meer, wenn man seekrank …«

Der liebenswerte Musikus wußte, wovon er sprach. Plötzlich blieb sein Blick an einem Winkel des Saales hängen, und er zeigte Jacques das Fach einer Anrichte.

»Dort ist die Quelle des Übels!«

»Was ist das bloß?«

»Ein riesiger Chester, der vergessen wurde!«

»Du meinst wohl, der sich vergessen hat!« antwortete Jacques.

Und als der Waiter hereinkam, gelang es den beiden Freunden, nicht ohne eine gewisse Mühe, dieses grauenvolle Nahrungsmittel entfernen zu lassen.

Nachdem die beiden Freunde eine angemessene Portion kaltes Schaffleisch, Schinken aus York und Tee zu sich genommen hatten, stürmten sie in die Straßen dieser unbekannten Stadt hinaus; sie wollten ihr Aussehen noch an diesem finsteren Abend erkunden. Recht schöne Plätze, breite Straßen, schwarze Häuser, düster wie Geschäfte und trostlos wie Fabriken, eine vage Ähnlichkeit mit Liverpool, alle unpoetischen Einzelheiten einer Industriestadt – so lautete ihre Feststellung.

»Wir sind nicht mehr in Schottland«, sagte Jacques, »und morgen werden wir inmitten klopfender Hämmer und verrauchter Industrieluft erwachen.«

Der Zufall, dieser Lieblingsgott der Spaziergänger, führte sie bis ans Ufer des Clyde, zur Glasgow Bridge: Zahlreiche Handelsschiffe und Steamboats lagen in der Nähe dieser Brücke vor Anker, der letzten, die sich über den Fluß spannt, bevor er in den Nordkanal mündet. Von dieser Stelle aus entdeckten sie einen ausgedehnten roten Lichtschein, aus dem sie nicht richtig klug wurden; ein Teil des Himmels sah wie ein flammender Bogen aus, denn er wurde von Blitzen und Strahlenbündeln durchzuckt. Jonathan dachte an eine Feuersbrunst, Jacques neigte eher zur Auffassung, es handle sich um den Widerschein lodernder Hochöfen; sie irrten sich alle beide und fanden später heraus, daß sie, ohne etwas davon zu ahnen, jenes denkwürdige Nordlicht des 30. August 1859 gesehen hatten. Durch breite Straßen, auf deren Häusern Jacques Argyle Street und Buchanan Street zu lesen vermochte, kehrten sie ins Comrie’s Royal Hotel zurück; sie waren ein wenig erschöpft von diesem verregneten, sonnigen und windigen Tag, und außerdem wollten sie früh aufstehen, um sich vor ihrem Aufbruch zu den Seen noch eine kleine Vorstellung von dieser Industriestadt zu verschaffen.

Große Betten, die durch ihre schmalen Laken noch gewaltiger wirkten, warteten in einem riesigen Zimmer mit gestrichenen Deckenbalken auf sie. Es sah ein wenig unheimlich aus, und Jonathan konnte nicht anders, als sich und seinen Freund mit Edwards Kindern zu vergleichen; das Gemälde von Paul Delaroche kam ihm in den Sinn, und schaudernd dachte er an den Schatten des grausamen Tyrell. Aber da sie von ihrer Abstammung nicht königlich genug waren, um im Schlaf ermordet zu werden, und ihre Familien darüber hinaus auch nicht den kleinsten Richard III. aufzuweisen hatten, erwachten sie im Morgengrauen, wie einfache und neugierige Reisende es zu tun pflegen. Die Rechnung wurde bezahlt, und sie verließen das Comrie’s Royal Hotel im

Laufschritt.

Die Straßen waren bereits von einer geschäftigen Menschenmenge überfüllt, was Jonathan nicht länger wunderte, nachdem Jacques ihm erzählt hatte, daß die Bevölkerung seit Beginn des Jahrhunderts von fünfundsiebzigtausend auf dreihundertfünfzigtausend Einwohner gewachsen war. Hier fanden sie das wahre Gesicht Liverpools wieder: öffentliche Gebäude, die wie historische Bauwerke aussehen, schwarz geworden vom Dunst und Rauch der Steinkohle. In der Mitte des George Square standen die Denkmäler von Walter Scott und James Watt, zweier großer, im Angedenken vereinten Männer; doch ohne Inschrift hätte man den Romancier leicht für den Erfinder der Dampfmaschine und den Mechaniker für den Verfasser des Schönen Mädchens von Perth halten können, so ähnlich sahen sie sich.

Der Tag begann unter mißlichen Auspizien, vom Himmel fiel jener für England so typische Regen, der einen mehr schmutzig als naß macht; doch sie waren hier, um etwas zu sehen, also mußte gegangen werden, und Jacques machte sich über die George Street auf den Weg zu der einigermaßen berühmten Kathedrale.

»Immer dieselben Namen und dieselben Straßen«, sagte er.

Zu dieser morgendlichen Stunde trieben die Countrymen aus der Umgebung ihre Pferde, die vor Karren mit Gemüse und Obst gespannt waren, zu den Märkten der Stadt. Sie feuerten sie mit dem Ausruf whig a mor, whig a more, los schneller an, den sich die liberale Partei Englands angeeignet hat. Der Name der Tories, also der Royalisten, kommt dagegen von tory me, gib her, was dem

»Geld oder Leben« der französischen Diebe entspricht.

Wenn diese würdevollen Bauern Westschottlands vor einem schwarzen Rinnsal standen, ließen sie sich dadurch nicht aus der Fassung bringen; sie zogen ihre Schuhe aus, nahmen sie in die Hand und durchschritten wacker diesen schlammigen Schmutz.

»Gewiß«, sagte Jonathan, »um durch ein Rinnsal zu gehen, sind Schuhe überflüssig; dennoch möchte ich mich an meine üblichen Manieren halten.«

Die Kathedrale von Glasgow ist dem heiligen Mungo geweiht, sie gehört zu verschiedenen Epochen der gotischen Architektur und reckt einen hohen, etwas schwerfälligen Glockenturm in die Lüfte; sie ist das einzige religiöse Bauwerk Schottlands, das die Anhänger der Reformation verschont haben, und unter diesem Gesichtspunkt ist sie sehenswert. Zu seinem großen Bedauern konnte Jacques das Innere jedoch nicht besichtigen; das Eingangstor war verschlossen

und hielt allen Schlägen stand, denn es scheint, daß die protestantische Religion das »Klopfet an, und euch wird aufgetan werden« nicht befolgt. Er mußte sich damit begnügen, die auf dem Nachbarhügel liegende Nekropole zu besichtigen und die unvergleichlichen Beschreibungen des großen Romanciers in seiner Erinnerung wachzurufen. Hierher gingen Osbaldistone und Andrew Fairservice, als sie in Glasgow eintrafen, wo Rob Roy sich hingeflüchtet hatte. Das also war der einsame Friedhof, auf dessen Gräbern Walter Scott die Worte des Propheten zu lesen glaubte: »Wehklagen, Jammer und Elend!«

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