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Fünfzehntes Kapitel Größe und Elend Liverpools

Die zwei Freunde begaben sich unverzüglich zum Caledonian Railway, dessen Bahnhof direkt auf dem Platz von Saint George’s Hall steht; die Abfahrt war für den nächsten Tag um zwei Uhr nachmittags angegeben. Sie hatten einige Schwierigkeiten, sich diese Auskünfte zu besorgen, denn Eisenbahnangestellte sind in England rar; dagegen bewegen sich die Besucher ungehindert in den Bahnhöfen und spazieren, wie es ihnen beliebt, auf den Bahnsteigen umher.

Jonathan mußte also seinen ganzen Verstand aufbieten, um einen Anschlag zu entziffern, der nicht gerade durch Klarheit glänzte.

Auch das Frankieren der Briefe führte zu einer gewissen Verlegenheit, denn Jonathan kannte ausgerechnet die Übersetzung für das Wort Postwertzeichen nicht; schließlich verkaufte ihnen ein Apotheker welche unter dem Namen postage’s stamps, und als sie auch von dieser Sorge befreit waren, begaben sie sich zu Mister Joe Kennedy, Custom House Street.

Dieser achtbare Kaufmann empfing sie freundlich in düsteren Büroräumen, in denen man schon nachmittags um vier die Gaslampen anzünden mußte; hohe, gelblichschwarze Backsteinhäuser mit Fenstern, die vom Kohlenrauch verschleiert und mit kleinen Schwenkkränen geschmückt waren, verschlimmerten die Dunkelheit der Straße noch zusätzlich. Mister Kennedy war das würdevolle Abbild eines englischen Reeders, mit kräftigem Kopf, struppigem Backenbart und frischem, um nicht zu sagen rötlichem Teint.

Feierlich bot er den Reisenden seine Dienste an und lud sie ein, noch am selben Abend mit ihm eine Art Picknick einzunehmen; die beiden stimmten mit Begeisterung zu, denn sie waren erpicht darauf, die englischen Sitten zu erforschen. Sie verabredeten sich für neun Uhr in der Bull and Mouth Tavern, deren Lage ihnen sorgfältig beschrieben wurde.

Nun lagen noch ein paar freie Stunden vor ihnen, und diese mußten nutzbringend verwendet werden; also lenkten Jacques und Jonathan ihre Schritte zum Hafen, und dabei kamen sie durch enge, morastige Gassen, in denen das englische Elend seinen abscheulichen Luxus zur Schau stellte. Fast alle Frauen trugen unbeschreibliche Hüte, die nun endlich, nachdem sie auf dem blonden Haar reicher Ladies geblüht hatten, nachdem sie auf dem Dutt einer Kammerzofe oder einer Kleinhändlerin verwelkt waren, auf den Köpfen der unglücklichsten Geschöpfe der Welt im wahrsten Sinne des Wortes verfaulten:

Ausgeblichene Bänder, Blumen, die selbst in der künstlichen Botanik keinen Namen mehr hatten, klammerten sich noch an sie, festgehalten durch diesen feuchten Schmutz, der in England aus Nebel und Kohlenstaub zusammengesetzt ist. Diese Elenden, in notdürftige Lumpen gehüllt, schlurften barfuß durch einen schwarzen und klebrigen Schlamm. An ihrem schleppenden Gang, an ihrer gebeugten Haltung, an ihrem vom Elend gezeichneten Gesicht erkannte man die armselige Bevölkerung der Manufakturstädte! In den zahlreichen Fabriken, wo die Polizei nicht wie in Frankreich ausreichende Nachforschungen anstellt, übersteigt die Arbeit oft die menschlichen Kräfte. Schinderlöhne werden bezahlt;

wie viele Arbeiterinnen schuften dort, in widerliche Zimmer eingesperrt,

fünfzehn Stunden am Tag ohne Kleid, ohne Unterrock, ja sogar ohne Hemd, nur in ein löchriges Tuch gehüllt! Es soll Frauen gegeben haben, die auf diese Weise Jahre zubrachten, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen, ohne einen Fuß vor die Tür setzen zu können!

In den Straßen, in denen die Arbeiterklasse dahinvegetierte, gab es unendlich viele Kinder. Man konnte keinen Schritt tun, ohne mit einem Dutzend dieser halbnackten Bälger zusammenzustoßen, die kreischten und sich im Dreck wälzten. Obwohl es die natürlichste Sache der Welt war, staunte Jacques noch immer, sie Englisch reden zu hören, und wenngleich sein Staunen absurd war, konnte er sich nicht daran gewöhnen.

Ansonsten schienen alle große Freiheit zu genießen; die Policemen mischten sich nur dann in die Angelegenheiten der Leute, wenn diese sie um Hilfe baten.

Offensichtlich gab es weniger Streitereien als in Frankreich und ganz bestimmt weniger Lärm; die Handlungsfreiheit artete sogar in Zügellosigkeit aus, und die seltsamsten Gewerbe wurden am hellichten Tag ausgeübt, ohne daß es dem englischen Schamgefühl in den Sinn kam, sich darüber zu empören.

»Scham empfinden sie wohl nur vor Worten«, sagte Jacques.

Ein reges Treiben herrschte in jenem Teil der Stadt, der an den Hafen grenzt;

an allen Straßenecken waren Schankwirtschaften für Bier und Likör zu finden, getrunken wurde an der Theke; Ale und Portwein flossen aus vollen Gläsern, das erste Getränk machte auf Jacques einen ausgezeichneten Eindruck, das zweite schien ihm jedoch würdig, den Porteuren vorbehalten zu bleiben, die es früher als einzige tranken und ihm seinen Namen gegeben haben. Was den Gin betraf, den Brandy, den Whisky, den rum toddy, eine Art Grog, den mint julep, einen Pfefferminzsirup, den cocktail, ein scharfes Gemisch, das den Trinkern Tränen in die Augen trieb, so wollte er nichts davon hören.

Liverpool, das ihnen bisher wie eine ganz gewöhnliche Stadt erschienen war, zeigte sich am Hafen als unermeßliche Metropole. Seine Docks stellen eine Herkulesarbeit dar, von der nichts ein Bild vermitteln kann: Die doppelten und mitunter sogar dreifachen Becken erstrecken sich über eine Fläche von mehr als einer Meile; es ist unmöglich zu verstehen, wie eines ins andere führt, und Ariadnes Faden würde einem Fremden aus diesem flüssigen Labyrinth nicht heraushelfen. Die Schiffe stehen so dicht gedrängt, daß unter ihren Körpern das Wasser verschwindet; in unüberschaubarer Anzahl stehen sie da, von vielerlei Gestalt und aus vielerlei Nationen: amerikanische Klipper, in riesigen Ausmaßen gebaut, auf deren Oberdeck Kajütsaufbauten emporragen, die eine ganze Welt

fassen können; starke holländische Galeoten, immer frisch und adrett unter ihrem Teeranstrich, schlanke Schiffe, deren lange, verzierte Galionen an den Quais liegen; Dreimaster, deren Tonnage erstklassige Fregatten eifersüchtig machen kann und die ihre bevorstehende Abfahrt auf bunten Holzbrettchen bekanntgeben. Die platten Hecks dieser tausend Schiffe tragen bezaubernde poetische Namen in eingelegten Goldbuchstaben, Namen, die den sagenumwobenen Ländern Indiens und Malayas, den heißen Gestaden Afrikas, den Buchten, Meerengen, Strömen, Flüssen Amerikas und Ozeaniens entlehnt sind, und Flaggen aller Nationen der Erde, die im Nebel flattern und mit ihren grellen Farben die graue Eintönigkeit durchbrechen. In den Kielräumen türmen sich Ballenberge, aus denen Kaffee, Zucker, Baumwolle hervorquellen, Stapel von Campeche-und Mahagoniholz, alle nur erdenklichen Kolonialwaren, die mit ihren wunderlichen Gerüchen die Luft erfüllen. Eine Armee von Arbeitern, die zum größten Teil den schwarzen Hut und eine große, um die Mitte zusammengebundene Schürze tragen; Waggons, die auf Bahngeleisen dahingleiten und ihr verschlungenes Band kreuzen; absonderliche Maschinen, die sich für die verschiedensten Verwendungen eignen, Kräne, Hebeböcke, die gesamte Menagerie der Mechanik, die unablässig arbeitet, Ballen, Säcke, dickbäuchige Kisten voller Waren wegschafft; mitten in diesem Ameisenhaufen das Zischen von Dampf, das Rasseln der Küstenschiffe, das Knirschen von Ketten oder das Hämmern der Kalfaterer, die an den Schiffsflanken baumeln, das matte Dröhnen der Wagen auf den Drehbrücken und die Hufeisen der Pferde, die über Metalldeckel klappern, das Plätschern des Wassers zwischen den aneinanderstoßenden Schiffen, das Pfeifen des Windes in diesem Mastenwald und weiter entfernt das dumpfe Gemurmel der ansteigenden Flut – das alles sieht und hört man in diesen Hafenbecken, in denen ein ganzes Meer eingedeicht wurde, das ist die Geschäftigkeit, der Verkehr, der Lärm, kurz gesagt das Gesicht der Docks von Liverpool!

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