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Neununddreißigstes Kapitel Saint Paul’s und die Themse

Saint Paul’s ist eine unvollkommene Nachbildung des römischen Petersdoms;

seine wuchtige Masse ist eher beeindruckend als schön; dieser Bau hat die herrliche Kathedrale von Inigo Jones ersetzt, die bei dem Brand von 1666 zerstört wurde. Das Übereinander der Komposit-oder korinthischen Ordnung beherrscht die gesamte architektonische Außengestaltung; es wimmelt von Säulen, die sich bis in die Lüfte erheben, um die Kuppel des Doms zu tragen. In seiner äußeren Erscheinung ist das Bauwerk schwarz von Rauch mit großen weißen Schatten (denn hier wirkt das Weiß wie ein Schatten), die entstanden, weil bestimmte Vorsprünge dem Nordwind ausgesetzt sind; das erweckt einen seltsamen Eindruck: Man vermeint, Schneeschichten zu sehen, die sich symmetrisch auf die Profile der Gebälke, die Rillen der Säulen und die Akanthusblattreliefs der Kapitelle gelegt haben. Zwei kleine, in ihrer Wuchtigkeit recht graziöse Türme erheben sich zu beiden Seiten des Portikus, der eine beherbergt die Uhr, der andere den Belfried. Sie werden von vergoldeten Kiefernzapfen abgeschlossen, die jeglicher Anmut entbehren; die Außenmauern des Gebäudes sind siebenunddreißig Meter hoch, aber diese Höhe ist angesichts der Größe des Baus nicht mehr wahrnehmbar; eine schmucke Galerie krönt das von den Säulen des Doms gestützte Gebälk und trägt die Kuppel, deren Abschluß eine Laterne mit einem kreisrunden Laufgang bildet;

Kugel und Kreuz ragen noch siebenunddreißig Meter über diese Galerie hinaus.

Jacques hatte sich die genauen Abmessungen geben lassen und weigerte sich, sie als gültig anzuerkennen. Deshalb beschloß er, dem Zeitmangel, der Müdigkeit und seinem Begleiter zum Trotz, so weit in die Kuppel hinaufzuklettern, wie es nur irgend möglich wäre. Dieses Baudenkmal ist wie so viele der Kirchen Englands von einem Friedhof umgeben, der noch unlängst in Betrieb war, um sich der Geschäftssprache zu bedienen. Doch seit einigen Jahren sind Finanzkompanien zur Schaffung von Friedhöfen in London gegründet

worden: Die erste, nämlich die Kensal Green Cimetery Cny, hat großartige Abschlüsse getätigt; ihre Aktien werden zweifellos an der Londoner Börse notiert, und bestimmt zittern alle Leute, wenn sie steigen.

Jacques und Jonathan traten in das Innere der Kathedrale; sie waren verblüfft von ihrer kalten Helligkeit und ihrer erhabenen Kahlheit: keine Gemälde, nur ein paar lächerliche Denkmäler und ein paar schlechte Statuen zur Erinnerung an große Männer. Jacques warf einen gleichgültigen Blick auf diesen inneren Friedhof und begab sich zur Tür der Kuppeltreppe; er bat um die Erlaubnis, zur Laterne hochzugehen und erwirkte diese Gunst für einen Shilling sechs Pence.

Nachdem sich die beiden Domsteiger eine ganze Weile auf Holzstufen im Kreise gedreht hatten, gelangten sie zu einer inneren Galerie, die um die Grundlinie der Kuppel herumführt: Sie wird Flüstergalerie genannt, und ein kleines Männchen, das in diesem ehrenhaften Metier alt geworden war, lief ans andere Ende, um dort einen Seufzer zu tun, und sein Seufzer brauste wie ein Wirbelwind um die erstaunten Ohren. Endlich drang das Tageslicht durch ein Fenster, und die Gebälkgalerie lag vor ihren Augen.

Man hätte eine unvergleichliche Aussicht auf London, wenn der ewige Nebel nicht den Horizont einengen würde. An einem normalen Tag kann man den Lauf der Themse von den Docks bis zum Westminsterpalast verfolgen, allerdings lassen sich selbst dann die Türme dieses Palastes mehr erahnen als wirklich erkennen. Saint Paul’s zu Füßen liegt ein bezauberndes Häusermeer, aus dem die unzähligen Türme seiner dreihundert Kirchen herausragen; diese ganze gewaltige Fläche ist mit ihnen gespickt, wie mit den Figuren eines riesigen Spielbretts; Saint Paul’s ist der König und der Turm des Parlamentsgebäudes die Königin auf diesem unübersehbaren Schachbrett.

Nachdem Jacques dieses Schauspiel eine Weile betrachtet hatte, unter einer englischen Sonne, die durch ein milchiges Glas zu strahlen scheint, zog er Jonathan eine schmale Wendeltreppe hinauf; sie erreichten den Laufgang in der Laterne und händigten ihre Hüte höher stehenden Angestellten aus, wie Jonathan sie bezeichnete, und Jacques schwang sich eine Art Leiter empor, um bis in die Kugel zu kommen. Er mußte seine ganze Geschicklichkeit aufbieten, sich an den Kerben und Unebenheiten der Bronze festklammern; der Musiker blieb auf der Strecke, aber sein waghalsiger Gefährte gelangte in the bowl, die einen Durchmesser von zwei Metern hat und mit Müh und Not acht Personen fassen kann.

Sobald Jacques rittlings auf der Eisenstange saß, die der Kugel als Achse dient, hielt er Jonathan folgende Rede:

»Lieber Freund, ich glaube, nun ist der passende Moment gekommen, um dich in Anlehnung an Stendhal über die Höhe einiger berühmter Denkmäler zu informieren. Der Petersdom zu Rom ist vierhundertelf Fuß hoch, die Kathedrale von Straßburg vierhundertsechsundzwanzig, die große Pyramide vierhundertachtunddreißig, die Turmspitze des Invalidendoms in Paris dreihundertvierundzwanzig und die Kugel, in der ich augenblicklich hocke, befindet sich dreihundertneunzehn Fuß über dem Pflaster Londons. Und jetzt können wir wieder hinabsteigen!«

Dies war leicht zu bewerkstelligen, und wenig später erreichten sie das Ufer der Themse an der London Bridge. Die steinernen Treppen, die zu den Landungsstellen der Dampfschiffe führen, sind immer von Gruppen halbnackter Kinder belagert, die um Almosen betteln, indem sie Streichhölzer oder chemischen Zunder verkaufen. Die beiden Freunde nahmen auf einem jener Schnellboote Platz, die für one penny von der London Bridge zur Westminster Bridge fahren. Diese füllen sich in Windeseile mit Passagieren, und ihre hervorragenden oszillierenden Maschinen lassen sich mit größter Geschwindigkeit in Gang setzen. Die Citizen legte unverzüglich ab und kreuzte die Sun, die stromabwärts schwamm. Der Schiffsführer steht auf einer Schaufelradtrommel und zeigt durch seine offene oder geschlossene Hand alle Befehle an, die mit der lauten und schrillen Stimme eines Kindes an den Maschinisten weitergeleitet werden. Das go ahead erschallte, und das Schiff fuhr den Fluß hinauf.

Die Themse besitzt keine Quais, was ihr ein merkwürdiges Aussehen verleiht.

Weitläufige Geschäfte, Fabriken, Gasometer, warves, factories und warehouses reihen sich an den Ufern aneinander und ermöglichen durch ihre Keller, in denen Waren verladen und entladen werden, einen direkten Zugang zum Fluß. Mehrere dieser Lagerhäuser sind mit hohen Türmen versehen oder nennen ihren Verwendungszweck in breiten und verschiedenartigsten Buchstaben: Am rechten Ufer mangelt es nicht an Fabriken. Die Citizen ließ ihren Schornstein herunter, der sich nach einem Drittel seiner Höhe zu einem Knie umbog, und fuhr unter den gußeisernen Jochen der Southwark Bridge und der Blackfriars Bridge hindurch. Dann schwamm sie an den kühlen und einladenden Temple Gardens mit ihren angelsächsischen Denkmälern vorüber, und wenig später zeigte das große Somerset House, in dem die Amtsräume der Steuerbehörde, des Generalregisters und des Königlichen Siegels untergebracht sind, die erhabenen Linien seiner venezianischen Architektur. Von der Mitte des Flusses gesehen, wirkt es imposant und monumental, aber Zeit und Feuchtigkeit haben die Bögen seiner unteren Gewölbe zerfressen und sie mit einer Art künstlichen Morschheit

durchdrungen. Die Waterloo Bridge, deren gerade Fahrbahn auf neun herrlichen Jochen ruht, entfaltete ihre prachtvollen, zwölfhundert Fuß langen Formen; sie ist mit Granit aus Cornwall verkleidet und vermittelt das Bild eines unzerstörbaren Bauwerks. Weiter oben überquert eine sehr elegante Hängebrücke äußerst verwegen die Themse, und schließlich taucht nach einer starken Krümmung des Flusses die alte Westminster Bridge auf, deren eine Hälfte bereits einer neuen Eisenbrücke gewichen ist, die wundervoll aussehen wird. Die Citizen war am Ziel ihrer Fahrt angelangt, sie hielt an, und Jacques und Jonathan stürmten auf den Quai, um die Fassade des neuen Parlamentsgebäudes zu bewundern.

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