• Keine Ergebnisse gefunden

Jacques und Jonathan besichtigen Edinburgh

Man muss schon zugeben, Jacques und Jonathan fühlten sich am Ende ihrer Kräfte, und ihr Geist hatte Mühe, die tausend Eindrücke dieses wichtigen Tages zu verarbeiten. Mit schleppenden Schritten gingen sie durch die breiten, menschenleeren und kaum beleuchteten Straßen ins Hotel Lambret zurück; nach solchen Strapazen läßt der Schlaf zum Glück nicht lange auf sich warten.

Am nächsten Morgen sprangen sie aus dem Bett, kleideten sich rasch an und nahmen ihren Weg durch die Sehenswürdigkeiten der Stadt wieder auf. Zunächst gingen sie in die Gegend von Calton Hill, dessen sonderbare Denkmäler ihnen vom Gipfel des Arthursitzes ins Auge gesprungen waren.

An diesem Sonntag in Schottland waren die Straßen trostloser und verlassener denn je, die Geschäfte ausnahmslos und puritanisch geschlossen; kaum daß ein paar Passanten es wagten, dieses einsame Pflaster gottvergessen zu betreten.

Jedes Denken, jedes Handeln schien unter der feierlichen Langeweile des Protestantismus begraben zu liegen, dieses trockenen und hartnäckigen Windes, dessen Hauch Geist und Herz zum Verdorren bringt. Das ließ in ihren Köpfen ein trauriges Bild von den Sonntagen in Edinburgh entstehen.

Calton Hill ist ein flacher Hügel, auf dem die Edinburgher Stadtverwaltung verschiedene Monumente errichtet hat, und nach alter Gewohnheit sind sie alle Imitationen antiker Bauwerke. So bildet etwa bereits auf den ersten Stufen der Treppe das Denkmal von Dugah-Stewart die Laterne des Demosthenes nach;

weiter oben ist das Observatorium nach dem Vorbild des Tempels der Winde in Athen gebaut. Auf der Kuppe erhebt sich das Nelson-Denkmal in beachtliche Höhe, doch es wird noch überragt von einem Seezeichen für die Schiffe, die den Forth durchfurchen: Es handelt sich um einen Turm von erbarmungswürdiger Gestalt, der das Auge durch seine plumpen Konturen beleidigt. Daneben stehen die zwölf korinthischen Säulen der Vorhalle eines unvollendeten Tempels, dies ist das Nationalmonument Schottlands. In einer patriotischen Stunde, nach der Schlacht von Waterloo, und um das Andenken daran wachzuhalten, war sein Bau per Akklamation beschlossen worden; doch schon bald fehlte es an Geldmitteln, und so ist von diesem Projekt nur eine moderne Ruine stehengeblieben. Es hätte die exakte Nachbildung des Parthenontempels werden sollen, dieses Meisterwerks der antiken Architektur. Im übrigen nimmt sich dieser halbfertige Portikus auf dem Hügel vortrefflich aus. Und man muß schon sagen, wenn all diese Denkmäler mit ihrer schlechten Ausführung und ihren grauenhaften Details jedes für sich genommen weder Anmut noch Stil besitzen, so werden sie durch die Gesamtheit doch aufgewertet und machen sich gut in der Landschaft.

Dieser Ehrgeiz, an etwas erinnern zu wollen, ist immer noch besser, als nach

nichts auszusehen wie so viele Monumente in Frankreich.

Von der Terrasse des Calton Hill genießt man eine wunderschöne Aussicht, und hier pflegt die vornehme Gesellschaft der Stadt ihren Überdruß spazierenzuführen, wenn ein Sonn-oder Feiertag sie nicht dazu zwingt, ihn in den eigenen vier Wänden hinunterzuschlucken. Jacques und Jonathan waren also allein und betrachteten schweigsam die Nordsee und die umliegenden Küstenstreifen.

»Wo essen wir denn zu Mittag?« fragte Jacques nach einer Weile.

»Wie gewöhnlich, in unserer kleinen Taverne an der High Street!«

»Einverstanden mit der Taverne, laß uns hinuntergehen.«

Sie kamen an der High School vorüber, einem weitläufigen griechisch-ägyptischen Tempel, der den Eindruck erwecken möchte, er stamme mit seiner Widmung an Theseus geradewegs aus Athen. Dann schlenderten sie am Gefängnis entlang und erreichten über die Nordbrücke, die den Obst-und Gemüsemarkt beherrscht, und die General Railway Station ihre heißersehnte Taverne. Doch es gab kein Mittagessen, die Tür war verschlossen; sie klopften, erfolglos! Sie suchten nach irgendeinem anderen Coffee House, erfolglos; sie fragten, wo man sich etwas zu essen besorgen könne, erfolglos. Am Sonntag wird in Edinburgh, und in ganz Schottland, nicht gegessen; Köche und Kaufleute sind bei der Predigt oder im Gottesdienst. Als Pariser konnten sie über diese Eigentümlichkeit nicht Bescheid wissen, und so kamen sie, vor Entkräftung fast umfallend, ins Hotel Lambret zurück.

»Das ist doch ein starkes Stück«, sagte Jacques, »sonntags regt sich bei ihnen also nur die Seele!«

Im Hotel konnten sie sich endlich ausgiebig, ja sogar zu ausgiebig, stärken, denn zwei Pinten von jenem schottischen Ale, dem sie nicht genügend mißtrauten, hätten Jacques beinahe sterbenskrank gemacht; er mußte sich für eine Stunde aufs Ohr legen und wachte mit einer heftigen Migräne wieder auf. In diesem Zustand schleppte ihn Jonathan zu ihrem Treffen mit Mister B. unter der William-Pitt-Statue.

Das Hauptziel dieses neuen Ausflugs war ein Besuch im Schloß von Edinburgh, doch zunächst durchquerten sie die Parkanlagen der Princes Street;

in früheren Zeiten war diese auf so wunderbare Weise umgewandelte Schlucht nichts weiter als ein See, der die unmittelbare Umgebung der Festung verteidigte. Er wurde zum Teil mit der Erde aufgeschüttet, die aus dem Areal der

Neustadt gegraben wurde; die Rasenflächen sind von einem satten und frischen Grün, und jedermann spazierte umher, wie es ihm gefiel. Mister B. und seine Gäste ruhten sich einige Augenblicke auf einer der vielen Bänke dieses reizenden Spazierweges aus und kehrten dann über die Waverley-Brücke in die Oberstadt zurück. Diese Brücke überragt den zweiten Teil der Schlucht, hier liegt die General Railway Station, in der die verschiedenen Eisenbahnen Edinburghs zusammenlaufen, wie etwa die Edinburgh and Glasgow und die North-British; sie fuhrt zur Bank von Schottland, einem Gebäude mit einem herrlichen Standort, und mündet in den Lawn Market, eine Verlängerung von High Street und Canongate, die einen direkt zum Schloß bringt. Hier reckte der Glockenturm von Victoria Hall seine gotische Spitze in die Lüfte, und ein paar Schritte weiter oben machte Mister B. die Stadtbesucher auf das Haus des Dichters Allan Ramsay aufmerksam, der, obwohl zunächst Friseurgehilfe, den Beinamen »der schottische Theokrit« erhielt. Er war im 18. Jahrhundert der hiesige Jasmin. Die Häuser in diesem Teil von Castle Hill gehörten einst dem Edinburgher Adel und dienten ihm als Wohnsitz oder beinahe als Festung. Vor dem Schloß liegt eine großflächige Esplanade, die eine Bronzestatue des Herzogs von York im Prunkgewand eines Ritters des Hosenbandordens schmückt.

Das Schloß von Edinburgh erhebt sich einhundertfünfzehn Meter über den Meeresspiegel; Jacques mit seinen falschen Vorstellungen von den verschiedenen Höhenverhältnissen wollte es zunächst nicht einsehen, doch er mußte die wohlbegründeten Argumente seines freundlichen Cicerone anerkennen. Dieser gab ihnen, während er sie durch die Innenhöfe führte, einen geschichtlichen Überblick über diese alte Festung, die in der Zeit der Dichterkönige Burg der Mädchen, Castrum Puellarum, geheißen hatte. Sie gehört mit jenen von Dumbarton, Stirling und Blackness zu den vier Schlössern, die seit der Vereinigung der beiden Königreiche immer befestigt sein müssen.

Die Terrasse der Bastionen ist ein beliebter Ort für die Spaziergänge der Altstadtbewohner, und der Blick, der sich übers Meer und die umliegenden Berge erstreckt, ist einfach großartig. In der Königsbastion machte Mister B. sie auf eine gewaltige Kanone aus dem 15. Jahrhundert aufmerksam, bestehend aus Eisenstäben, die durch dicke Ringe aneinandergefügt sind. Man hätte meinen mögen, ein riesiges Metallfaß vor Augen zu haben. Doch sie ist bei einem öffentlichen Fest explodiert und trägt immer noch eine klaffende Wunde in ihrer zerfetzten Flanke zur Schau. Die Schloßbesucher waren zu müde, um noch in die Innenräume vorzudringen, und mußten also darauf verzichten, die schottischen Kronjuwelen zu sehen; von einem der Paradeplätze aus zeigte Mister B. ihnen

das Fenster jenes berühmten Zimmers, in dem Maria Stuart James VI. zur Welt brachte, aus dem später James I. von England wurde. Noch heute ist das Bild der armen Königin in diesen Mauern lebendig, und das Herz dreht sich einem im Leibe herum, wenn man an diejenige denkt, die in ihrem Jahrhundert die schönste und am meisten geliebte Frau war.

»Außerdem«, sagte Jacques, »war sie eine halbe Französin, und jeder Franzose muß die ergreifende Nichte der Herzöge von Guise durch sein Gedenken ehren.«

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE