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Jacques und Jonathan gehen in Liverpool an Land

Am Donnerstag gegen fünf Uhr morgens hatten sie den St.-Georgs-Kanal auf der Höhe der Insel Anglesey durchquert; nun mußte Kurs nach Osten genommen werden, und das Schiff segelte in Richtung Liverpool; der Kapitän rechnete damit, am Nachmittag anzukommen.

Um sechs Uhr kam an die Längsseite der Hamburg eine Yacht, die so bezaubernd aussah wie ein Vergnügungsschiff; es war aber nur eine Schaluppe mit Kuttertakelung, die dem Liverpooler Lotsendienst gehörte; ein Beiboot löste sich von ihr, und der Lotse stieg an Bord.

Jacques und Jonathan staunten nicht schlecht: Ein frischrasierter Herr, sorgfältig behandschuht, mit Hose und schwarzem Rock bekleidet, einen seidenen Hut auf dem Kopf und einer weißen Krawatte um den Hals, einen leichten Mantel nachlässig über den Arm geworfen – das war also ein Lotse aus Liverpool! Seine Kleidung von bestem Geschmack konnte der Strenge des pedantischsten Dandys trotzen! Und das auf hoher See und vor Sonnenaufgang.

Dieser Mann wirkte jung, und sein ebenmäßiges Gesicht strahlte britische Ruhe und Gesundheit aus. Er übernahm das Kommando auf dem Schiff, stellte sich an den Kompaß, gab die Richtung an, der gefolgt werden mußte, und stellte sich dem Kapitän zur Verfügung, der ihn ein paar Stunden später zum Essen lud.

»Das ist ein netter Vorgeschmack auf die englischen Sitten, Freund Jonathan.«

»Dieser Herr ist um vieles vornehmer als wir: Man könnte ihn für ein Parlamentsmitglied halten.«

»Vor allem, wenn er sich beim Nachtisch betrinkt!«

Aber der Lotse blieb vollkommen nüchtern, auch wenn er die letzten Flaschen Bordeaux leerte.

Als sie wieder an Deck waren, erblickte Jacques einen großen Raddampfer,

der ihnen entgegengesaust kam; auf seinen Schaufelradtrommeln prangten in Messing die drei Beine des sizilianischen Wappens.

Das ungewöhnlich schnelle Schiff stellte die Verbindung zwischen Liverpool und der Insel Man her; das Meer war zu diesem Zeitpunkt von unzähligen Schleppern übersät, die alle nach demselben Modell gebaut waren, mit einem Flaggenmast auf dem Vorschiff und einem hohen Schornstein; sie lauerten auf die Ankunft von Schiffen, die zwischen Liverpool und der ganzen Welt verkehren.

Ein Aviso der königlichen Marine war mit dem Ausloten der Wassertiefe in den Fahrrinnen beschäftigt, von denen die Einfahrt in den Mersey durchzogen ist. Dieser breite und tiefe Fluß bildet den Hafen von Liverpool und beginnt sogleich majestätisch: Auf der linken Seite stehen riesengroße Bauwerke mit englischer Regelmäßigkeit in einer Linie, und zahlreiche Leuchtfeuer bestrahlen diesen Teil der Küste; rechter Hand liegt die Landzunge von Birkenhead mit ihrem Fort, dessen Kanonen die gesamte Reede hinwegfegen könnten. Der Hafen von Liverpool erstreckt sich zwischen dem Uferstreifen und der Landzunge, da, wo der Mersey in die Irische See mündet, und dringt sieben oder acht Meilen flußaufwärts ins Landesinnere vor.

Die Hamburg fuhr bereits an den Granitmauern der Hafenbecken entlang, auf denen in dicken, schwarzen Lettern die Namen dieser gewaltigen Docks geschrieben standen, die weltweit unübertroffen sind. Vor dem Victoria-Turm angelangt, von dem die Haupteinfahrt verteidigt wird, warf das Schiff mitten im Mersey seinen Anker, denn die Tide erlaubte ihm nicht, in die Becken hineinzufahren.

Jacques und Jonathan wußten nicht, wohin sie zuerst blicken sollten, um die tausend Einzelheiten dieses Schauspiels zu erfassen; es war zwei Uhr nachts, und da sie vor der Zollrevision nicht an Land gehen konnten, beschlossen sie, an Bord zu Abend zu essen, um keine Zeit zu verlieren. Sie gingen in den Salon hinunter und verzehrten diese letzte Mahlzeit in Gesellschaft von Kapitän Speedy, dem Ersten Offizier und dem Zollbeamten, einem überaus liebenswürdigen Menschen, an dem kein äußeres Zeichen verriet, welchem Handwerk er nachging. Er versprach den beiden Reisenden, sie schnell abzufertigen, ohne ihre Seekoffer allzu genau in Augenschein zu nehmen. Beim Nachtisch wurden von Jacques Trinksprüche auf den wackeren Schotten und sein Schiff ausgebracht; dann fielen überschwengliche Dankesworte, während man sich herzlich die Hände schüttelte; ein Boot, das schon seit geraumer Zeit längsseits wartete, nahm das Gepäck auf, und Jacques und Jonathan gingen an

Bord, ein wenig bedrückt, die Hamburg zu verlassen, die sie nie wiedersehen würden.

Das Boot fuhr zu einer in die Dockmauer gehauenen Steintreppe; die zu diesem Zeitpunkt gerade sehr starke Ebbe entblößte schlickige und rutschige Treppen, wodurch es recht schwierig wurde, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, und man mußte um die Koffer fürchten, die auf den Schultern eines Lastenträgers bedrohlich schwankten. Als sie den Quai endlich erklommen hatten, gelang es Jonathan, ihrem Führer verständlich zu machen, daß er ihnen einen Wagen beschaffen sollte; sie gingen zwischen den Hafenbecken hindurch, und an einem gegenüberliegenden Ausgang stand ein Cab bereit. Sie stiegen ein, händigten dem Lastenträger eine bestimmte Geldsumme aus, deren eigentlicher Wert ihnen mehr oder weniger unbekannt war, und ließen sich zu einem Hotel in der Nähe der Eisenbahnlinie nach Edinburgh bringen. Ihr Cabman hielt auf dem Platz von Saint George’s Hall, vor dem Queen’s Hotel.

Nun mußte der Kutscher bezahlt werden, und das war ein heikles Unterfangen für Leute, die so wenig über den Preis einer Droschkenfahrt und den Wert der Geldstücke unterrichtet waren. Der für die Reisekasse zuständige Jonathan wurde nicht klug aus all diesen Silber-und Kupfermünzen, crown, half-crown, two-shillings, six-pence, four-pence, three-pence und penny, deren Beschriftung man auf den halb verwischten Vorder-und Rückseiten nicht entziffern konnte.

Die Silber-und die Kupfermünzen sind in England viel weniger wert als in Frankreich; was den gängigen Wert betrifft, kann der six-pence übrigens als Entsprechung eines Fünfzigcentimestücks betrachtet werden; und den shilling, der einen Franc fünfundzwanzig wert ist, gibt man so leicht aus wie das Einfrancstück; dieses Verhältnis besteht im großen ganzen auf allen Stufen, und der Souverän von fünfundzwanzig Franc wird wie Frankreichs Louis verwendet.

Schließlich kam Jonathan nach mehreren Versuchen mit einer halben Krone davon, was ein wenig mehr als drei Franc ist. Das war treuer für eine Fahrt von zehn Minuten.

Nachdem sie ihr Zimmer im Queen’s Hotel bezogen hatten, entspann sich folgender Dialog zwischen den beiden Freunden:

»Endlich«, sagte Jacques, »jetzt sind wir also in England!«

»In England ja! Aber nicht in Schottland, dem Ziel unserer Reise!«

»Teufel auch! Laß uns doch wenigstens Atem holen.«

»Atem holen werden wir, so gut es irgend geht, aber wir haben keine einzige

Minute zu verlieren; wir sind vor genau vierundzwanzig Tagen aus Nantes abgereist und müssen in den ersten Septembertagen wieder in Paris sein. Urteile selbst, wieviel Zeit uns bleibt, um nach Edinburgh zu gelangen, uns ein paar Seen und Gebirge anzuschauen, nach London zurückzufahren und die Meerenge wieder zu überqueren! Es ist absurd! Das hat uns nur die Verspätung der Hamburg eingebrockt!«

»Wir wollen ihr nichts Schlechtes nachsagen! Sie ist ein braves Schiff, das gut läuft!«

»Wenn es läuft, einverstanden; doch ohne es beleidigen zu wollen, kann man behaupten, daß es sich nicht gerade schnell auf den Weg macht! Wir sollten übrigens nicht jammern, sondern überlegen.«

»Gut, überlegen wir.«

»Laß uns der Reihe nach vorgehen; wir müssen erstens Briefe zur Post bringen, die wir an Bord vorbereitet haben; uns zweitens über die Abfahrtszeiten nach Edinburgh informieren; drittens im Auftrag meines Bruders bei Mister Kennedy, Esquire, vorstellig werden; viertens Liverpool besichtigen, und zwar heute abend, in der Nacht und auch morgen früh.«

»Das Programm ist perfekt. Also los.«

»Aber wo gehen wir hin?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Jacques, »und das macht den Charme unserer Reise aus. Niemals geht man so weit, wie wenn man nicht weiß, wohin man geht, sagte ein Redner des Konvents.«

»Ich habe nichts dagegen einzuwenden, vorausgesetzt, wir kommen rechtzeitig zurück. Los.«

Fünfzehntes Kapitel

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