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Subjektives Leistungsfähigkeitsprinzip

Im Dokument Tabellen- und Abbildungsverzeichnis (Seite 150-154)

9 Ergebnisse und Fazit

7.2.6 Förder-Paradoxon

7.2.6.1 Subjektives Leistungsfähigkeitsprinzip

Die sozialpolitischen Möglichkeiten bei der Einkommensbesteuerung bestehen in weiten Bereichen darin, die individuelle Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen.639

Söhn führt aus, dass Beiträge zu Versicherungen als Vorsorge-aufwendungen Ausgaben darstellen, die der Steuerpflichtige für sich oder seine Angehörigen aufgrund existentieller privater Lebensrisiken wie etwa vorzeitige Erwerbsunfähigkeit verausgabt. Insbesondere stellen Beiträge zu Versicherungen Maßnahmen dar, die die Existenz im Alter sichern sollen. Diese Ausgaben seien daher zwingende, unvermeidbare und folglich die subjektive Leistungsfähigkeit beeinflussende Vorsorge-aufwendungen. Für Pflichtversicherte ist es offensichtlich, dass Beiträge an gesetzliche Sozialversicherungskassen unvermeidbare Zwangs-aufwendungen sind.640

Da mit den zum Abzug zugelassenen Sonderausgaben das verfassungsrechtlich verankerte Prinzip der Besteuerung nach der subjektiven Leistungsfähigkeit, also die Berücksichtigung indisponibler Privatausgaben verfolgt wird, dürfen die abzugsfähigen Höchstbeträge

639 Vgl. Pagenkopf, H., [Sozialpolitiker], Bonn 1965, S. 287.

640 Vgl. Söhn, H. in: Kirchhof, P. / Söhn, H., EStG, § 10 Rz. A 25 m.w.N.

nicht so niedrig sein, dass sie „realitätsfremd“641 werden. Die Vorsorgeaufwendungen sollten zumindest in dem Maß möglich sein, in dem der Steuerpflichtige unvermeidbare Ausgaben zum Aufbau einer Mindestversorgung tätigt.

Wenn also nur für eine Mindestsicherung notwendige Beiträge abzugsfähig sein sollen, wäre es verständlich, wenn in Zeiten in denen die gesetzliche Rentenversicherung eine Lebensstandardsicherung darstellte, nicht sämtliche Aufwendungen642 abzugsfähig gewesen wären.

Die gesetzliche Rentenversicherung war in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit als Lebensstandardsicherung gedacht. Bis Anfang der 80er Jahre überstiegen für durchschnittliche ledige Arbeitnehmer die geleisteten Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung die abzugsfähigen Höchstbeträge noch nicht. Die Höchstbeträge waren entsprechend

„großzügig“ bemessen. In einem Zeitraum, in dem die gesetzliche Rentenversicherung relativ leistungsfähiger war und einer Lebens-standardsicherung gerechter wurde, waren die Beiträge auch abzugsfähig.

Nun verlor in den Folgejahren die Rentenversicherung zunehmend an Leistungsfähigkeit. Lebensstandardsicherung im Rahmen der gesetzlichen Versorgung soll zukünftig nur noch mit zusätzlicher Vorsorge via „Riester-Rente“ möglich sein. Gleichzeitig aber müssen die gestiegenen Beiträge eines durchschnittlichen Arbeitnehmers zunehmend aus versteuertem Einkommen entrichtet werden, da die Sonderausgabenhöchstbeträge deutlich überschritten werden.

Zwei sich verstärkende Entwicklungen, d.h. die abnehmende Fähigkeit der Rentenversicherung den Lebensstandard zu sichern sowie die zunehmende Beitragsbelastung sprächen dafür, dass der Steuerpflichtige tendenziell weniger leistungsfähig wurde. Diese Entwicklungen fanden kaum Berücksichtigung im Rahmen der Sonderausgabenregelung. Der durchschnittliche Arbeitnehmer muss als Pflichtversicherter Beiträge zur Sozialversicherung entrichten. Für ihn sind es indisponible Privatausgaben, die aber teilweise keine steuerliche Berücksichtung finden, obwohl mit diesen Ausgaben heute kaum mehr als eine Grundversorgung zu erreichen sein wird. Es ist m.E. fraglich, ob der Gesetzgeber heute die subjektive Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen hinreichend berücksichtigt. Das theoretische und verfassungsmäßige Prinzip der Besteuerung nach der subjektiven Leistungsfähigkeit, also die Berücksichtigung indisponibler Privatausgaben, spiegelt sich in der Realität insbesondere ab den 1990er Jahren nur unvollkommen wider.643 Der BFH hat mit Urteil vom 16. Oktober 2002 jedoch entschieden, dass der beschränkte Abzug von Vorsorgeaufwendungen gem. § 10 Abs. 3 EStG 1987 nicht verfassungswidrig ist.644

Wenn heute ein Teil der gesetzlichen Zwangsabgaben an die Sozialversicherungskassen aus versteuertem Einkommen geleistet

641 Söhn, H. in: Kirchhof, P. / Söhn, H., EStG, § 10 Rz. A 128 und A 130.

642 Stets betrachtet im Zusammenhang mit den anderen Pflichtbeiträgen zu den Sozialversicherungssystemen.

643 So auch Söhn, H. in: Kirchhof, P. / Söhn, H., EStG, § 10 Rz. A 18, A 22.

644 BFH, Urt. v. 16.10.2002 – XI R 41/99; vgl. DB 2003, S. 479ff.

werden muss, dann ist dieser Umstand „unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht unbedenklich“.645 Schließlich handelt es sich bei den Beiträgen um „Quasisteuern“,646 auf die im Rahmen der Einkommensbesteuerung aufgrund zu niedriger Sonderausgaben-höchstbeträge weitere Steuern erhoben werden.

Die Verfassungsmäßigkeit der Höchstbeträge war gemäß Heinicke zumindest vor 1993 umstritten.647 Gerichtlich geltend gemachte Beschwerden wurden aber von den Senaten nicht zur Entscheidung angenommen. Begründet wurde die Ablehnung mit der ursprünglich ausstehenden Entscheidung zur Besteuerung von Alterseinkünften. Das Urteil wurde inzwischen gefällt und räumt dem Gesetzgeber eine Frist zur Neuregelung bis zum 1. Januar 2005 ein.648

In Anbetracht der Tatsache, dass ein durchschnittlicher Arbeitnehmer früher sämtliche Beiträge zu den Sozialversicherungskassen abziehen konnte, dies bei schlechterer Versorgung heute nicht mehr kann, stehen verschiedene Erklärungen zur Verfügung:

1. Die Höchstbeträge waren früher zu großzügig bemessen, der Gesetzgeber hat dies im Laufe der Jahre durch geringere Anpassungen korrigiert.

2. Ein durchschnittlicher Arbeitnehmer hat von der wirtschaftlichen Entwicklung und vom wachsenden Wohlstand profitiert und ist jetzt steuerlich leistungsfähiger als ein durchschnittlicher Arbeitnehmer es früher war.

3. Die Höchstbeträge sind nicht ausreichend angepasst worden, die subjektive steuerliche Leistungsfähigkeit eines durchschnittlichen Arbeitnehmers wird heute nicht mehr ausreichend berücksichtigt.

Zu 1. Die Annahme, der Gesetzgeber hätte die Höchstbeträge früher zu großzügig gesetzt kann m.E. ausgeschlossen werden. Es war stets der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers Vorsorgeaufwendungen zu fördern.

Dass heute nicht mehr sämtliche Sozialversicherungsbeiträge eines durchschnittlichen Arbeitnehmers steuerwirksam abgesetzt werden können, resultiert nicht nur aus relativ gesunkenen Höchstbeträgen, sondern auch aus relativ gestiegenen Beiträge zu den Sozialversicherungen. Nur weil heute ein Großteil dieser Zwangsabgaben nicht mehr abgezogen werden kann, darf nicht darauf geschlossen werden, die Höchstbeträge seien ehemals „großzügig“ gesetzt worden.

Einzig in den frühen Nachkriegsjahren konnten erhebliche Vorsorgeaufwendungen, z.B. in Form von Beiträgen zu Kapitallebens-versicherungen, abgezogen werden. Dieser Umstand basierte allerdings nicht primär auf dem Willen des Gesetzgebers die Vorsorge zu fördern, sondern auf der Förderung der Kapitalbildung in der Volkswirtschaft, in der kriegsbedingt Vermögen vernichtet worden war.

645 Leibfritz, W. u.a., [Aufgabenteilung], München 1986, S. 195.

646 ebenda.

647 Vgl. Heinicke, W., in: Schmidt, L., EStG, § 10 Rz. 212.

648 Vgl. hierzu Kapitel 7.5.1.5 Pensionen und Renten.

Zu 2. Die Annahme ein durchschnittlicher Arbeitnehmer habe spürbar vom Produktivitätsfortschritt profitiert und sei daher steuerlich leistungsfähiger, ist nur bis Ende der 70er Jahre haltbar. Seit Ende der 70er Jahre stiegen zwar die Bruttoentgelte weiter deutlich stärker als die Preise, dieser Anstieg wurde jedoch durch höhere Abgaben nahezu vollständig kompensiert. Die durchschnittlichen Nettoentgelte sind seit Ende der 70er Jahre kaum mehr gestiegen. Die Arbeitnehmer haben gemessen am Nettoeinkommen daher kaum an weiteren Produktivitätsfortschritten teilgehabt und sind daher nicht deutlich steuerlich leistungsfähiger geworden.649

Zu 3. Daher ist anzunehmen, dass die Höchstbeträge nicht ausreichend angepasst wurden. Zurück zu führen ist dies m.E. insbesondere auf die seit Jahren angespannte Haushaltssituation. Leibfritz650 unternimmt den Versuch die Kosten für die staatliche Förderung von Vorsorgeaufwendungen zu quantifizieren. Er ermittelt hierbei Steuermindereinnahmen die durch die Vorsorgeaufwendungen in Form von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung sowie zu Lebensversicherungen von Arbeitnehmern entstehen. Bereits 1986 – aber erst recht heute durch die insgesamt gestiegene Last an Sozialabgaben – darf bei der Untersuchung von Steuermindereinnahmen nicht die subjektive steuerliche Leistungsfähigkeit des Individuums vergessen werden. Die Frage müsste also nicht nur nach den Steuermindereinnahmen, sondern auch nach den Steuermehreinnahmen gestellt werden, die aus einer teilweisen Besteuerung von Einnahmen resultiert, das für Pflichtbeiträge verwendet werden muss. Die Finanzierbarkeit öffentlicher Ausgaben darf m.E. nicht der verfassungsmäßig verankerten Besteuerung nach der subjektiven Leistungsfähigkeit vorgehen. Leibfritz651 empfiehlt neben der vollständigen steuerlichen Anerkennung sämtlicher Beiträge zur Rentenversicherung noch ausreichend Potential für die Anerkennung von privaten Vorsorgemaßnahmen.

Bis einschließlich 2001 waren seit vielen Jahren für einen durchschnittlichen Arbeitnehmer zusätzliche freiwillige Beiträge zu Lebensversicherungen offensichtlich nicht förderwürdig im Rahmen der Vorsorgeaufwendungen. Seit 2002 hat sich dies insofern geändert, als

„Riester-fähige“ Rentenversicherungen im Rahmen eines zusätzlichen Sonderausgabenhöchstbetrags652 abgezogen werden können. Dieser zusätzliche Höchstbetrag ist allerdings nicht als Verbesserung der Vorsorgesituation zu sehen, da er nur von dem Personenkreis in Anspruch genommen werden kann, der von der zukünftigen Rentenniveauabsenkung betroffen sein wird. Der zusätzliche Höchstbetrag dient nur der Kompensation weiterer Leistungs-verschlechterungen innerhalb der gesetzlichen Versorgung.

649 Vgl. VDR (Hrsg.), [Zeitreihen 2002], Frankfurt am Main 2002, Kapitel 11, Tab.:

Rentenniveau, Nettoentgelt und Preisniveau. Die preisbereinigten Realwerte (Basis 1995) der durchschnittlichen Nettoentgelte betragen für 1979 EUR 16.239 und für 2001 EUR 16.588.

650 Vgl. Leibfritz, W. u.a., [Aufgabenteilung], München 1986, S. 179f.

651 Vgl. Leibfritz, W. / Parsche R., [Umverteilung], München 1988, S. 163f.

652 § 10a EStG.

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