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Großbritannien

Im Dokument Tabellen- und Abbildungsverzeichnis (Seite 75-80)

4 Entwicklung der Lebensversicherung

4.2 Großbritannien

„Großbritannien ist der älteste der entwickelten Lebensversicherungsmärkte der Welt.“278 Ursprünglich war die Lebensversicherung eine reine Risikoversicherung.279 Die moderne Lebensversicherung hat sich in England aus Gesellschaften bzw.

Versorgungskassen, die der Witwen- und Waisenversorgung dienten, entwickelt.280 Die oben dargestellten Kennzeichen der modernen Lebensversicherung entstanden mit dem Zeitgeist der Aufklärung unter Anwendung rationaler wissenschaftlicher Überlegungen. Bereits Mitte der 1760er Jahre war die Lebensversicherung als Versicherungsinstrument bekannt. Die erste mit modernen, mathematisch basierten Methoden arbeitende Lebensversicherungsgesellschaft der Welt, „The Society for Equitable Assurances on Lives and Survivorships“, wurde 1762 in London gegründet. Auch in Großbritannien setzte sich die Lebensversicherung erst im Laufe des 19. Jahrhunderts gegen die bis dahin für Zwecke der Hinterbliebenenversorgung dominierenden Versorgungskassen durch.281 Das Versicherungsgeschäft erfuhr zwischen 1850 und 1870 deutliche Zuwächse. Wie später in Deutschland, beruhten die Zuwächse im Wesentlichen auf Kleinlebensgeschäft mit der Arbeiterschaft.282

275 Vgl. Farny, D., [Versicherungsbetriebslehre], 2. Aufl., Karlsruhe 1995, S. 137ff.

276 Vgl. hierzu bereits Kapitel 3.4 Bedeutung der Lebensversicherung.

277 Vgl. hierzu Kapitel 7.6 „Riester-Rente“.

278 Dürkop, H., [Bestandsaufnahme], Bayreuth 1992, S. 59.

279 Vgl. Trimm, L., [Planning], 2. Aufl., London 1984, S. 1.

280 Diese Gesellschaften begannen mit ihrer Tätigkeit insbesondere in den Jahren 1696-1721; vgl. Schmoller, G., [Frage], München / Leipzig 1918, S. 357f.

281 Vgl. Borscheid, P., [Sicherheit], Greven / Münster 1989, S. 4 und S. 9; vgl. Braun, H., [Lebensversicherung], 2. Aufl., Berlin 1963, S. 145ff.; Ebersperger, K., [Konsumstil], München 1967, S. 26.

282 In England als industrial life assurance bezeichnet, vgl. Wasner, P., [britische Lebensversicherung], München 1991, S. 2.

Der Limited Liability Companies Act von 1862 sollte u.a. dem Schutz von Aktionären und Versicherungsnehmern dienen und hatte erhöhte Publizitätspflichten zur Folge. Firmenzusammenbrüche führten zu weiter verschärften Publizitätspflichten, Rechnungslegungsvorschriften und Vorschriften betreffend die Kapitalverwaltung, Sicherheiten und Prämienreserven im Rahmen des Life Assurance Companies Act von 1870. Insbesondere sollte die Gründung von Gesellschaften verhindert werden, die Geschäfte in betrügerischer Absicht tätigen.283

Die Staatsaufsicht wird durch die Reform des Assurance Companies Act 1909284 und durch den Industrial Life Assurance Act 1923 zum Schutz der Versicherungsnehmer ausgeweitet.

Der erste und der zweite Weltkrieg führte anders als bei den deutschen Lebensversicherungen nicht zu einem vergleichbaren Vermögensverlust.

Wasner ist folgender Ansicht: „Damit hatten sowohl die Versicherer als auch die Versicherungsnehmer beider Länder sehr ungleiche Erfahrungen und Startbedingungen, die sowohl Anlageverhalten und Strategien als auch Einstellungen, Mentalitäten und Wertvorstellungen beider Marktpartner bis in die heutige Zeit prägen [...].“285

Der Beveridge-Report aus dem Jahr 1942 sollte der britischen Bevölkerung eine Perspektive für große soziale Veränderungen bieten. In der Folge dieser Erwartungen wurde 1945 die Labour Partei an die Regierung gewählt. Sie vertrat weitreichende Verstaatlichung, den National Health Service als nationalen Gesundheitsdienst, soziale Sicherheit, mehr Wohnraum und Lebensmittel. Sogar die Verstaatlichung der Versicherungswirtschaft war im Rahmen von Überlegungen der Labour Partei seit dem Jahr 1942 angedacht und wurde in einer Resolution von 1949 hinsichtlich der Verstaatlichung von Lebensversicherungsunternehmen ernsthaft weiter verfolgt. Die Wahlniederlage von Labour im Jahr 1951 beendete – zumindest bis in die 1970er Jahre – diese Überlegungen.286

In der Zeit nach dem 2. Weltkrieg wuchs die Bedeutung der mit Hilfe von Lebensversicherern angebotenen Modelle der betrieblichen Altersversorgung. Bereits in den 50er Jahren betrug der Anteil der Prämieneinnahmen und des Vermögens der Standard Life, einem der großen britischen Lebensversicherer, der aus betrieblichen Alters-versorgungsmodellen generiert wurde 70% der gesamten Prämien-einnahmen und des verwalteten Vermögens von Standard Life.287

Ab 1960 kam die fondsgebundene Lebensversicherung in Großbritannien auf den Markt. Sie vereint den Sicherheitsaspekt von Versicherungen mit einer spekulativen Komponente. Als Ende der 60er Jahre die fondsgebundenen Lebensversicherungen in Deutschland verkauft wurden,

283 Vgl. Braun, H., [Lebensversicherung], 2. Aufl., Berlin 1963, S. 260f.

284 In Kraft getreten am 1. Juli 1910; vgl. Braun, H., [Lebensversicherung], 2. Aufl., Berlin 1963, S. 339f.

285 Wasner, P., [britische Lebensversicherung], München 1991, S. 4f.

286 Vgl. Royal Insurance Holdings plc (Hrsg.), [Integrity], London 1995, S. 29.

287 Vgl. Moss, M., [Standard Life], Edinburgh / London 2000, S. 242.

betrug ihr Anteil am britischen Neugeschäft für Policen mit laufenden Beiträgen bereits ein Drittel. In den 70er Jahren entstand als neues Marktsegment das Einmalbeitragsgeschäft. Es wurde von Anfang an von fondsgebundenen Verträgen dominiert.288 Die fondsgebundene Lebensversicherung bleibt in Deutschland bis in die 90er Jahre ein unbedeutendes Nischenprodukt.289

Das Jahrzehnt ab 1970 war in Großbritannien gezeichnet von hoher Inflation und wirtschaftlicher Schwäche. Die Inflation hatte sich seit den 60er Jahren beschleunigt, verursacht durch nachhaltige Ausweitung der Staatsausgaben beim Versuch die Wirtschaft nachfrageorientiert anzuregen und Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Die wirtschaftliche Schwäche wurde durch den dramatischen Anstieg der Ölpreise im Jahr 1973 verstärkt. Im Jahresvergleich von 1974 fiel der FT Actuaries Index (Index der Financial Times für im Versicherungsbereich tätige Unternehmen) um 54%.290 Hierin spiegelten sich auch die realen Verluste der von Versicherungsunternehmen getätigten Kapitalanlagen wider.

Seit Ende der 60er kamen zudem erneut die Pläne von Labour zur Verstaatlichung von Versicherungsgesellschaften auf den Tisch. Sie konkretisierten sich im Jahr 1976, wurden aber von dem Labour-Premierminister James Callaghan zunächst noch verschoben. Die Wahlniederlage von Labour im Jahr 1979 veränderte die Rahmenbedingungen vollständig.291 Die Conservatives unter der Leitung von Margaret Thatcher verfolgten genau das gegenteilige Ziel, nämlich Rückzug des Staates aus diversen Aktivitäten des Marktes und Privatisierung.

Ab Mitte der 80er Jahre wurde das Geschäft mit „personal pensions“, d.h.

privaten Altersvorsorgemodellen, die einen Austritt aus der staatlichen Zusatzversorgung SERPS ermöglichen, für Lebensversicherer zu einem bedeutenden Geschäftszweig mit großen Wachstumsraten. Dieses Geschäft wurde auch von der Angst getrieben, die von staatlicher Seite gegeben steuerlichen Anreize könnten wieder entfallen.292 Tatsächlich wurde die Förderung kontinuierlich verstärkt.

Ein strukturierter Markt für Gebrauchtpolicen, der sich in Deutschland bisher nicht etabliert hat, entstand in Großbritannien ab dem Ende der 1980er Jahre. Vereinzelt hat bereits vorher Handel mit gebrauchten Lebensversicherungen stattgefunden, allerdings ohne breites öffentliches Interesse an dieser Kapitalanlageform. Bereits im Life Insurance Act von 1774 waren Policen verboten worden, an denen der Versicherungsnehmer kein eigenes Interesse am Leben der versicherten Person hat.293 In einem

288 Vgl. Turtle, C., [fondsgebundene LV (I)], VW 1993, S. 663 (S. 663).

289 Anteil am Neuzugang 1991: 3%; Vgl. Borscheid, P., [Sicherheit], Greven / Münster 1993, S. 76.

290 Vgl. Moss, M., [Standard Life], Edinburgh / London 2000, S. 282.

291 Vgl. Royal Insurance Holdings plc (Hrsg.), [Integrity], London 1995, S. 31f.

292 Vgl. Moss, M., [Standard Life], Edinburgh / London 2000, S. 311; vgl. Kapitel 8.4 personal pensions.

293 Insbesondere um Lebensversicherungen den Charakter von Wetten zu nehmen. Bsp.

waren Wetten auf das Leben verschiedener Mitglieder des Königshauses

Gerichtsurteil von 1854 wurde diese Regelungen auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beschränkt. Dies eröffnete rechtlich die Möglichkeit mit gebrauchten Policen zu handeln. 1992 entstand der erste Investmentfonds, der in gebrauchte Policen investierte.294

Der britische Lebensversicherungsmarkt zeichnet sich traditionell durch eine hohe Flexibilität aus, die auch auf eine im Gegensatz zu Deutschland weit weniger strikte Versicherungsaufsicht zurück zu führen ist.

Tarifgestaltung, Preisstellung, Reserveberechnung und die Wahl der Vermögensanlagen werden von der Versicherungsaufsicht nicht in der aus Deutschland bekannten Art der materiellen Versicherungsaufsicht durch aktive Eingriffe in den Versicherungsbetrieb vorgeschrieben. Es finden seitens der britischen Versicherungsaufsicht zwar Solvenzkontrollen statt, im Gegensatz zum deutschen Aufsichtsrecht sind Zahlungsunfähigkeiten aber i.d.R. zu spät erkannt worden, Konkurse von Versicherungs-unternehmen bereits unvermeidbar gewesen. Millionen Lebens-versicherungsnehmer wurden durch derartige Konkurse und Finanzskandale in den 1970er und 1980er Jahren geschädigt. Um die Versicherungsaufsicht zu verbessern, den Verbraucher verstärkt zu schützen und den Wettbewerb unter den Versicherungsunternehmen zu erhöhen verabschiedete die Regierung im Jahr 1986 den Financial Services Act (FSA).295 Der Vertrieb von Versicherungsprodukten und anderen Kapitalanlagen wird mit dem FSA reglementiert.296

In den 90er Jahren machten Lebensversicherer negative Schlagzeilen, insbesondere im Zusammenhang mit falscher Beratung beim Wechsel von betrieblichen Altersvorsorgeplänen zu ungünstigeren individuellen privaten Plänen.297 Der spektakuläre finanzielle Zusammenbruch der Barings Bank im Januar 1995 beschleunigte eine Überarbeitung der staatlichen Aufsicht über Finanzdienstleistungsunternehmen. Im Jahr 1999 wurde zu diesem Zweck der Financial Services and Markets Bill verabschiedet.

In den vergangenen Monaten kamen vermehrt endowment mortgages in das Blickfeld des öffentlichen Interesses. In Großbritannien ist es üblich, in Verbindung mit dem fremdfinanzierten Erwerb eines Eigenheims gleichzeitig eine Kapitallebensversicherung abzuschließen.298 Die Kapitallebensversicherung ist so ausgelegt, dass der Vertrag im Erlebensfall am Ende der Darlehenslaufzeit fällig wird und zur Tilgung des Darlehens maßgeblich beiträgt. Der Versicherer investiert das Sparkapital schwerpunktmäßig in den Aktienmarkt. Nachdem sich die Kapitalmärkte in den vergangenen drei Jahren deutlich schwächer als zuvor entwickelt haben, kann es sein, dass die Ablaufleistungen der Kapitallebensversicherungen nicht mehr zur Tilgung des Darlehens

vorgenommen worden; vgl. Wasner, P., [britische Lebensversicherung], München 1991, S. 2 m.w.N.

294 Vgl. Bühler, G. A. / Ruß, J., [Gebrauchtpolicen], VW 2000, S. 24 (S. 24).

295 In Kraft getreten am 1.1.1990.

296 Vgl. Dürkop, H., [Bestandsaufnahme], Bayreuth 1992, S. 59f. m.w.N.

297 Vgl. Moss, M., [Standard Life], Edinburgh / London 2000, S. 343f.

298 ABI gibt für 2002 an, dass etwa 10,3 Mio. Briten eine Kapitallebensversicherung mit einem Darlehen gekoppelt haben; vgl.

http://www.abi.org.uk/Display/File/87/Endowment_Website.doc (Stand 27.12.2002).

ausreichen.299 Dies kann insbesondere deshalb problematisch sein, da Eigenheime in Großbritannien mit bis zu 90% des Verkehrswertes fremdfinanziert werden.

299 Vgl. stellvertretend für regelmäßige Berichterstattung in der brit. Tagespresse Nugent, H., [Shortfalls], The Times v. 3.8.2002, S. 8.

5 Entwicklung der gesetzlichen

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