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9 Ergebnisse und Fazit

5.1.2 Entwicklung

Die Rahmendaten des Ursprungsgesetzes von 1889 bestanden in der Erfassung eines Personenkreises von etwa 10 Millionen Versicherten.312 Altersrente wurde Versicherten ab Vollendung des 70. Lebensjahrs und nach 30 Jahren Beitragszeit (sog. Wartezeit) gewährt.313 Nur eine Minderheit erreichte diese Altersgrenze tatsächlich. 1881/90 lag die durchschnittliche Lebenserwartung eines männlichen Neugeborenen bei 37,2 Jahren. Modellrechnungen zufolge erreichten nur etwa zwischen 19,7% bis etwa 23% der männlichen Neugeborenen die Altersgrenze von 70 Jahren.314 Die betragsmäßig höhere Invaliditätsrente hingegen konnte

308 Vgl. Eichenhofer, E., [Bismarck], Berlin 2000, S. 15 (S. 15).

309 Vgl. Machtan, L., Einleitung und Thesen, in: Machtan, L. (Hrsg.), [Sozialstaat], Frankfurt am Main / New York 1994, S. 15ff.; vgl. hierzu ausführlich Breger, M., Der Anteil der deutschen Großindustriellen an der Konzeptualisierung der Bismarckschen Sozialgesetzgebung, in: Machtan, L. (Hrsg.), [Sozialstaat], Frankfurt am Main / New York 1994, S. 25ff.

310 Machtan, L., Einleitung und Thesen, in: Machtan, L. (Hrsg.), [Sozialstaat], Frankfurt am Main / New York 1994, S. 19.

311 Vgl. Ritter, G. A., [Sozialversicherung], München 1983, S. 40.

312 Eine Volkszählung für das Deutsche Reich am 1. Dezember 1890 ergab eine Gesamtbevölkerung von 49,4 Mio. Personen.

313 Mit Übergangsfristen für ältere Arbeitnehmer.

314 Vgl. Döring, D., [System der gRV], Frankfurt am Main / New York 1980, S. 13, S. 16f.

m.w.N.; Der VDR gibt die fernere Lebenserwartung im Zeitpunkt der Geburt 1891/1900 mit nur 35,6 Jahren an. 1997/1999 liegt dieser Wert bereits bei 74,4

nach festgestellter dauernder Erwerbsunfähigkeit bereits mit einer Beitragszeit von 5 Jahren bezogen werden. Die Invalidenrente bestand aus drei Teilen:

• einheitlicher Grundbetrag von der Versicherungsanstalt für grds.

jeden Rentner;

• einheitlicher Reichszuschuss zur Rente;

• beitragsabhängige Ergänzung des Grundbetrags durch die Versicherungsanstalt in Abhängigkeit der Beitragsdauer und Beitragshöhe.

Nur der dritte Bestandteil der Rente führte letztlich zu differenzierten Rentenhöhen. Die Altersrente unterschied sich von der Invalidenrente dadurch, dass kein einheitlicher Grundbetrag von der Versicherungs-anstalt gezahlt wurde und die beitragsabhängige Ergänzung niedriger ausfiel. Dies verdeutlicht wiederum den Zuschusscharakter der Rente.

Die Höhe der Beiträge orientierte sich an der Höhe des Arbeitseinkommens des Versicherten. Allerdings wurden nicht bestimmte Prozentsätze vom Arbeitseinkommen festgesetzt, sondern der Versicherte wurde einer von vier Lohnklassen zugeordnet. Die Beiträge variierten dann von 14 Pfennig wöchentlich in der niedrigsten Lohnklasse bis hin zu 30 Pfennig wöchentlich in der höchsten Lohnklasse. Als Folge der Festlegung absoluter Beitrage in Abhängigkeit einer Lohnklasse lässt sich ein einheitlicher, prozentualer Beitragssatz nicht errechnen. Effektiv schwankte der Beitragssatz etwa zwischen 1,3% und 2,7% des Arbeitseinkommens. Der prozentuale Beitragssatz wird mit durchschnittlich 1,7% angegeben. Wie heute war der Beitrag jeweils hälftig vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu tragen. Eine Hinterbliebenenversorgung existierte noch nicht. Die Witwen- und Waisenversorgung wurde erst im Jahr 1912 geschaffen und war zunächst beschränkt auf arbeitsunfähige Witwen.315

Die Geschichte der gesetzlichen Rentenversicherung von der Gründungsphase bis zur dynamischen Rente 1957 ist gekennzeichnet von zwei wesentlichen Merkmalen: Einerseits werden die Ungleichheiten der Behandlung von Arbeitern und Angestellten in der gesetzlichen Rentenversicherung stufenweise abgebaut.316 Andererseits ist die Rentenversicherung verursacht durch 1. und 2. Weltkrieg sowie Weltwirtschaftskrisen und inflatorischen Tendenzen sowie nicht zuletzt durch sozial- und arbeitsmarktpolitische Absichten von einer instabilen finanziellen Entwicklung geprägt. Darüber hinaus – also auch im Zeitraum nach 1957 – sind weitere Tendenzen erkennbar, nämlich die Ausweitung des von der gesetzlichen Rentenversicherung erfassten Personenkreises

Jahren, vgl. VDR (Hrsg.), [Zeitreihen 2002], Frankfurt am Main 2002, Kapitel 13, Tab.:

Entwicklung der (ferneren) Lebenserwartung und der Überlebenden in Deutschland.

Nach Angaben des VDR erreichten von 100.000 männlichen lebend Geborenen 1891/1900 gerade 31.294 das 65. Lebensjahr. Für 1997/1999 beträgt der Wert bereits 79.784.

315 Vgl. Döring, D., [System der gRV], Frankfurt am Main / New York 1980, S. 18ff.

316 Döring bezeichnet diese Tendenz als „Einheitlichkeit ohne Einheitsversicherung“, da die organisatorische Trennung weiterhin bestehen bleibt, vgl. Döring, D., [System der gRV], Frankfurt am Main / New York 1980, S. 30; Die „Rentenversicherung der Arbeiter“ wurde bis dahin als „Invaliditätsversicherung“ bezeichnet; vgl. Petersen, H.-G., [Ansatzpunkte], Gießen 1986, S. 47.

sowie Leistungsverbesserungen gefolgt von Beitragssatzanhebungen. Die Ausweitung des erfassten Personenkreises wurde auch im Hinblick auf finanzielle Engpässe der Rentenkassen durchgeführt. Derartige Sanierungsmaßnahmen können stets nur kurzfristiger Natur sein.317 Sie erhöhen die zukünftigen Anwartschaften der Beitragenden und führen nur zu einer zeitlichen Verlagerung des Finanzierungsproblems.

Durch das Invalidenversicherungsgesetz (IVG) kommt es 1899 zur ersten Reform. Die wesentlichen Neuerungen waren die Ausweitung des pflichtversicherten bzw. leistungsberechtigten Personenkreises318 und Anhebung der Leistungen. Als Finanzierungssystem war ein Anwartschaftsdeckungsverfahren, d.h. ein kapitalgedecktes und nicht umlagefinanziertes System vorgesehen.319

Im Jahr 1911 wurde das „Versicherungsgesetz für Angestellte“320 verabschiedet. Die Invaliden- und Altersversicherung von 1889 hatte im Wesentlichen nur Arbeiter und geringverdienende Angestellte einbezogen.321 Mit dem neuen Gesetz wurde die Einführung der Angestelltenversicherung zum 1. Januar 1913 mit einem selbständigen Versicherungsträger322 beschlossen.323 Sowohl die Leistungen als auch die Beiträge zur Angestelltenrentenversicherung waren deutlich höher als die der Arbeiterrentenversicherung.324 Im Lauf der Jahre haben sich die Rentenversicherung der Arbeiter und die Rentenversicherung der Angestellten in ihren Leistungen aneinander angeglichen. Seit 1957 sind sie leistungs- und beitragsmäßig vereinheitlicht.325

1917 hatte man in der Rentenversicherung ein Vermögen von etwa 2,5 Mrd. Mark angesammelt. Das entsprach etwa dem Zehnfachen einer Jahresausgabe.326

317 Vgl. Greb, W., [Verhältnis], Karlsruhe 1968, S. 15f. m.w.N.

318 1891 waren 11,5 Mio., d.h. etwa 25% der Bevölkerung rentenversichert. Die

Einnahmen beliefen sich im ersten Jahr auf 95 Mio. Mark, die Rentenzahlungen auf 15 Mio. Mark. Das entsprach weniger als 0,5% des Bruttoinlandsprodukts. Etwa 133.000 Personen bezogen Altersrente. 1901 beliefen sich die Einnahmen bereits auf 165 Mio. Mark, die Rentenzahlungen betrugen 100 Mio. Mark. Der Beitragssatz war von ursprünglich 1,7% bereits auf 2,9% gestiegen. Die Mehrheit der Rentenempfänger bauten ihren Anspruch nicht auf Alter, sondern auf Invalidität auf. So empfingen im Jahr 1913 nur 100.000 Personen Altersrente. Über eine Million Personen bezogen aber zu dieser Zeit Invaliditätsrenten.

319 Vgl. Zöllner, D., Die Funktionserfüllung der gesetzlichen Alterssicherung im Rückblick, in: Schenke, K. / Schmähl, W., [Aufgabe], Stuttgart u.a. 1980, S. 195 (S. 201).

320 Vom 5. Dezember 1911; in Kraft getreten zum 1. Januar 1913.

321 Vgl. Döring, D., [System der gRV], Frankfurt am Main / New York 1980, S. 26.

322 Der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte, heute: Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA).

323 Vgl. Pagenkopf, H., [Sozialpolitiker], Bonn 1965, S. 34.

324 Zu den wesentlichen Leistungsunterschieden vgl. Döring, D., [System der gRV], Frankfurt am Main / New York 1980, S. 27ff.

325 Für die BfA und Landesversicherungsanstalten bestehen zwar unterschiedliche Verwaltungszuständigkeiten, aufgrund eines Finanzausgleichs zwischen diesen Institutionen handelt es sich faktisch um eine einheitliche Versicherung.

326 Vgl. Zöllner, D., Die Funktionserfüllung der gesetzlichen Alterssicherung im Rückblick, in: Schenke, K. / Schmähl, W., [Aufgabe], Stuttgart u.a. 1980, S. 195 (S. 201).

Zu Ende des 1. Weltkriegs (1914-1918) sanken bedingt durch den Krieg sowie die Arbeitslosigkeit nach dem Krieg die Einnahmen der Rentenkassen. Gleichzeitig stieg die Zahl der Leistungsberechtigten insbesondere im Bereich der Invaliditätsrenten und Hinterbliebenenrenten an. Das entsprechend dem Anwartschaftsdeckungsverfahren angelegte Kapital war überwiegend in Aktien und Kriegsanleihen investiert. Sowohl die Kapitalanlagen als auch die Reichszuschüsse waren auf einen stabilen Geldwert ausgelegt. Das angesammelte Kapital ging in der mit dem Krieg beginnenden Inflation weitestgehend verloren. Man wechselte faktisch zum Umlageverfahren und versuchte trotz praktiziertem Umlageverfahren erneut Kapital anzusammeln um wieder zu einem Kapitalansammlungsverfahren zurück zu kehren. Die Renten waren im November 1923 vor der Währungsreform auf real derart niedrigem Niveau, dass Rentner für ihren Unterhalt im Wesentlichen auf die Fürsorgeämter angewiesen waren.327

In der Weimarer Republik (1919-1933) hatte das Rentenversicherungssystem seine Funktionsfähigkeit faktisch verloren.

Staatlich zugesicherte Rentenansprüche konnten nicht wirksam geltend gemacht werden, da der Zusammenhang zwischen Beiträgen und Leistungen weitestgehend nicht mehr existierte. Ursächlich hierfür waren anhaltende Inflation, Vernichtung des angesammelten Kapitals, hohe Arbeitslosigkeit und eine kriegsbedingt angestiegene Zahl an Rentenberechtigten.328 Die Bürger der Weimarer Republik erlebten zwei bedeutende Geldentwertungsphasen: 1922/23 und im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1929-1933. Die Folgen dieser finanziellen Schwierigkeiten wurden nur durch die sog. Notverordnungen überwunden, mit denen der Gesetzgeber das Leistungsniveau drosselte.329 Die in der Weimarer Republik angestrebte großzügige Sozialpolitik blieb ein angestrebter Wunsch, der die wirtschaftliche Grundlage fehlte. Das System der Sozialversicherung entfernte sich vom Prinzip der Versicherung und nahm Fürsorgeelemente an, die ihren Ausdruck in Kriegswohlfahrtspflege und Sozialrentnerfürsorge fanden.330

In der Zeit des Dritten Reiches trug der Versuch der Rückkehr zum Kapitaldeckungsverfahren dazu bei, dass sich die gesetzliche Rentenversicherung durch Bestärkung des Zusammenhangs zwischen Beitrag und Leistung wieder dem Versicherungsprinzip zuwandte.331 Die ursprünglich vorhandene Selbstverwaltung musste aufgegeben werden.

1939 hatte man in der Arbeiterrentenversicherung mit einem Vermögen von etwa 17 Mrd. RM eine Kapitaldecke angesammelt, die den siebenfachen Jahresausgaben entsprach.332 Das Vermögen der

327 Vgl. Döring, D., [System der gRV], Frankfurt am Main / New York 1980, S. 32f.

328 Knie, F. / Korff, M., [Sichere Rente], Idstein 1998, S. 23; vgl. Ritter, G. A., [Sozialstaat], München 1989, S. 108f. m. w. N.

329 Vgl. Ritter, G. A., [Sozialstaat], München 1989, S. 134.

330 Vgl. Geyer, M. H., Bismarcks Erbe – welches Erbe?, in: Machtan, L. (Hrsg.), [Sozialstaat], Frankfurt am Main / New York 1994, S. 280 (S. 287ff.).

331 Vgl. ebenda S. 280 (S. 308); vgl. Roth, K. H., Die nationalsozialistischen Bemühungen um Bismarcks Erbe in der Sozialpolitik, in: Machtan, L. (Hrsg.), [Sozialstaat], Frankfurt am Main / New York 1994, S. 385 (S. 387f.).

332 Vgl. Zöllner, D., Die Funktionserfüllung der gesetzlichen Alterssicherung im Rückblick, in: Schenke, K. / Schmähl, W., [Aufgabe], Stuttgart u.a. 1980, S. 195 (S. 202).

Rentenversicherung wurde seit 1938 zur Finanzierung der Rüstung des bevorstehenden Krieges genutzt. Am Ende des Krieges war das Vermögen der Rentenversicherung durch den Abzug des Vermögens sowie durch Zerstörungen und Geldentwertung ein weiteres mal verloren.

Von Interesse ist, dass sich im Dritten Reich eine Tendenz zur Reformierung des Sozialversicherungssystem in Richtung Universali-sierung und Vereinheitlichung von Leistungen abzeichnete. Vorschläge der Deutschen Arbeitsfront sahen sogar aus Steuermitteln finanzierte einheitliche Staatsbürgerrenten vor. Ritter333 weist darauf hin, dass die Grundzüge dieser Reformbestrebungen mit Ausnahme der vorgesehenen disziplinierenden Elemente inhaltlich mit dem Konzept von Sir (später:

Lord) William Beveridge in Einklang gebracht werden können.

Nach dem Krieg bemühte man sich das System wieder funktionsfähig zu machen. Im Zuge der Einführung der DM wurden die Renten 1:1 umgestellt.334 Diese Umstellung war nur aufgrund des in der Rentenversicherung angewandten Umlageverfahrens möglich. Auch aus diesem Grund wird das Umlageverfahren als krisensicheres System der Finanzierung bezeichnet.

Die Rentenleistungen wurden nach dem 2. Weltkrieg auf der Basis der ursprünglich entrichteten Beiträge berechnet. Durch Inflation verloren diese Rentenansprüche im Laufe der Zeit an Kaufkraft. Die Schere zwischen dem Arbeitseinkommen der aktiven Bevölkerung und den Renten der Rentenempfänger öffnete sich. Das statische Rentensystem wurde als nicht geeignet angesehen, in einer Geldentwertungsphase die

„Proletarisierung der Rentner“335 zu verhindern.336

Die Durchschnittsrente der Alten und Invaliden betrug vor der Reform von 1957 weniger als ein Drittel des durchschnittlichen Arbeitseinkommens.

Die Höhe der Leistungen vor der Reform 1957 ist insofern eher vergleichbar mit den heutigen Leistungen der britischen gesetzlichen Rentenversicherung.

Die wesentliche Neuerung der Rentenreform im Rahmen der großen Sozialreform337 von 1957 war der Ersatz der festen Grundrente durch eine Dynamisierung der Rente.338 Die Rentendynamik sollte sich nach der Lohn- und Gehaltsentwicklung richten.339 Begründet wird die Dynamisierung damit, dass ein schleichendes relatives Absinken des Lebensstandards der nicht mehr aktiv erwerbstätigen Rentenempfänger, die zwar an der Preisniveauentwicklung, nicht aber an der Entwicklung

333 Vgl. Ritter, G. A., [Sozialstaat], München 1989, S. 136.

334 Währungsreform vom 20. Juni 1948. Vgl. Borscheid, P., [Sicherheit], Greven / Münster 1993, S. 17 m.w.N.

335 Döring, D., [System der gRV], Frankfurt am Main / New York 1980, S. 33.

336 Vgl. Borscheid, P., [Sicherheit], Greven / Münster 1993, S. 41ff.

337 Verabschiedet im Deutschen Bundestag am 21. Januar 1957.

338 Die dynamische Rente wurde ursprünglich auch als Produktivitätsrente bezeichnet, da sie die Rentner am Produktivitätsfortschritt beteiligen sollte, vgl. Schäfer, D.-J., [1957], DRV 1997, S. 262 (S. 262). Zur Entwicklung der dynamischen Rente und

insbesondere den Eingriffen des Gesetzgebers in die Anpassungsformel in den Folgejahren vgl. Michaelis, K., [Anpassung], DRV 2000, S. 414ff.

339 Vgl. Lührs, D., [Lebensversicherung], Wiesbaden 1997, S. 253.

des Produktivitäts- bzw. Lohn- und Gehaltsfortschritts teilnehmen, verhindert wird.340 Durch eine bruttolohnbezogene Rentendynamik sollen die Rentner am Wirtschaftswachstum teilhaben. Bereits beim Einstieg in die dynamische Rente existierten Berechnungen, die auf die langfristige Finanzierungsproblematik im Zusammenhang mit Bevölkerungsstruktur und Bevölkerungsentwicklung hinwiesen.341 Das Finanzierungsverfahren in Form der Umlage und der Generationenvertrag als solches waren umstritten. Private Versicherungsunternehmen kamen zu dem Ergebnis, dass die Beiträge zur Rentenversicherung auf bis zu 40% der Löhne und Gehälter steigen könnten.342 Auf vergleichbare Probleme stieß ein bei Georg Heubeck vom Bundesfinanzministerium in Auftrag gegebenes Gutachten. Dennoch wurde die Reform durchgesetzt. Rückblickend wird z.T. behauptet, Konrad Adenauer wollte mit dieser Reform die anstehende Bundestagswahl gewinnen. Daher musste er ein Rentenreformkonzept vorlegen, das dem Konzept der Sozialdemokratischen Partei zumindest ebenbürtig war.343 Selbst der damalige VDR-Geschäftsführer Liebing wies 1957 auf die wesentlich höheren Anwartschaften hin, die im Zusammenhang mit Beitragserhöhungen und Erhöhungen der Bemessungsgrundlage durch die Reform entstehen würden.344 Schwarz ist folgender Meinung: „Während die wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen in der ersten Hälfte der 50er Jahre noch weitgehend von der Not diktiert waren, kam seit 1956 in zunehmenden Maß ein demagogisches Element ins Spiel, das auf die Begehrlichkeiten der Verbände und Wähler mit den Wohltaten des Gefälligkeitsstaates antwortete.“345

Zur Finanzierung der dynamischen Rente kehrt man offiziell ab vom Kapitaldeckungsverfahren, das faktisch bereits durch die Währungsreform nicht mehr betrieben wurde und wendet sich einem modifizierten Umlageverfahren (Abschnittsdeckungsverfahren) mit dem Grundgedanken eines Solidarvertrags zwischen den Generationen zu. Nach zehn Jahren sollte die gesetzliche Rentenversicherung einen Kapitalstock angesammelt haben, der die Ausgaben eines Kalenderjahres deckt.346 Zu einer derartigen Kapitalansammlung kam es nie, da vorhandene Mittel i.d.R. für Leistungsverbesserungen oder vorübergehende Beitragssatzsenkungen genutzt wurden.347 Noch 1956 hatte die gesetzliche Rentenversicherung – obwohl ihr Vermögen durch den Krieg und die Inflation vernichtet worden war – einen Kapitalstock von nahezu zwei Jahresausgaben angesammelt. 1969 wurde die Schwankungs-reserve auf einen Zeitraum von drei Monaten herabgesetzt. 1974 betrug die tatsächlich vorhandene Reserve nur noch neun Monate.348 Seit 1978 musste die Mindestrücklage in Form einer Soll-Schwankungsreserve nur

340 Vgl. Pagenkopf, H., [Sozialpolitiker], Bonn 1965, S. 214.

341 Vgl. Borscheid, P., [Sicherheit], Greven / Münster 1993, S. 45.

342 Aus heutiger Sicher muss erkannt werden, dass diese Berechnungen richtig waren.

Die Prognosen die zu den Riester-Reformen führten gingen von ähnlich steigenden Beitragssätzen aus.

343 Vgl. Borscheid, P., [Sicherheit], Greven / Münster 1993, S. 47.

344 Vgl. Schäfer, D.-J., [1957], DRV 1997, S. 262 (S. 264).

345 Schwarz, H.-P., [Adenauer], Stuttgart / Wiesbaden 1981, S. 327.

346 Vgl. Greb, W., [Verhältnis], Karlsruhe 1968, S. 6.

347 Vgl. Dürkop, H., [Bestandsaufnahme], Bayreuth 1992, S. 102 m.w.N.

348 Vgl. Engels, W. u.a., [Reform], Bad Homburg 1987, S. 17.

noch einen Monat betragen.349 Das Vermögen ist inzwischen auf weniger als eine Monatsreserve geschrumpft.350 Die Schwankungsreserve wurde Ende 2001 auf 0,8 Monatsausgaben reduziert.351 Seit 2003 beträgt die Schwankungsreserve nur noch 0,5 Monatsaugaben.

1965 kündigen sich Finanzierungsschwierigkeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung an, die mit einer weiteren Ausweitung der Beitragszahler kurzfristig überwunden werden sollen. Mit der sog.

„Härtenovelle“ vom 1. Juli 1965 wird die Versicherungspflichtgrenze von DM 1.250,- auf DM 1.800,- erhöht.

1967 hat die gesetzliche Rentenversicherung ein Defizit von etwa DM 2,2 Mrd. Die Beitragssätze steigen um 2 Prozentpunkte. Die Renten steigen um 14%. Die Bundesregierung beschließt eine weitere Ausweitung des Versichertenkreises. Die Versicherungspflichtgrenze für Angestellte wird aufgehoben. Alle Angestellten werden somit grds. versicherungspflichtig.

Vor Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze war die Festsetzung dieser Grenze – neben der Zahl der erwerbstätigen Angestellten – das entscheidende Instrument zur Steuerung der Versichertenzahl in der Angestelltenrentenversicherung.352

Bis Ende 1967353 ermöglichte der Gesetzgeber Angestellten von der Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung durch eine Befreiungsversicherung freizukommen.354

Unter der Führung von Willi Brandt und der Sozialdemokratischen Partei wird Sozialpolitik ab 1969 zur Gesellschaftspolitik. Problematisch ist insbesondere, dass die Sozialpolitik – unabhängig davon von welcher Volkspartei das Konzept vorgelegt wird – auf den Annahmen eines anhaltenden, nachhaltigen Wirtschaftswachstums, Vollbeschäftigung und steigenden Entgelten basiert.355

Die nächste entscheidende Reform nach 1957 wurde im Jahr 1972 im Rahmen der sog. „großen Rentenreform“ umgesetzt.356 U.a. wird die Rentenversicherung für alle Bürger, insbesondere mit Blick auf die Selbständigen, geöffnet. Sie können durch Zuzahlungen für nicht vorhandene Beitragsjahre in das System mit Rückwirkung freiwillig

349 Vgl. Borscheid, P., [Sicherheit], Greven / Münster 1993, S. 85; Zöllner, D., Die Funktionserfüllung der gesetzlichen Alterssicherung im Rückblick, in: Schenke, K. / Schmähl, W., [Aufgabe], Stuttgart u.a. 1980, S. 195 (S. 202).

350 Vgl. Börsch-Supan, A. / Miegel, M. u.a., [Reformerfahrungen], Köln 1999, S. 10f.

351 Gesetz zur Bestimmung der Schwankungsreserve in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten vom 20. Dezember 2001.

352 Vgl. Borscheid, P., [Sicherheit], Greven / Münster 1993, S. 68; vgl. Döring, D., [System der gRV], Frankfurt am Main / New York 1980, S. 29 m.w.N.

353 Sowie nach der deutschen Wiedervereinigung für bestimmte Gruppen ostdeutscher Bürger.

354 Vgl hierzu Kapitel 7.8 Befreiungsversicherungen.

355 Vgl. Borscheid, P., [Sicherheit], Greven / Münster 1993, S. 84f. m.w.N.

356 Vgl. zum RRG 1972 Frerich, J. / Frey, M., [Sozialpolitik], 2. Aufl., München / Wien 1996, S. 53ff.

eintreten.357 Aus heutiger Sicht wäre eine freiwillige Pflichtversicherung eine voraussichtlich schlechte Investition. Die Grenzen für den Eintritt in die Altersrenten werden flexibilisiert. Unter der Voraussetzung einer genügend hohen Zahl an Beitragsjahren können Arbeitnehmer ab dem 63.

Lebensjahr die Altersrente beanspruchen.358

Wie bei jeder wesentlichen Leistungsverbesserung in den Vorjahren war abzusehen, dass die Ausgaben der Rentenversicherung steigen werden.

Die Einnahmenseite konnte u.a. aufgrund steigender Arbeitslosigkeit und unter den ursprünglichen Planungen ausfallenden Lohn- und Gehaltserhöhungen im Wesentlichen nur durch eine Erhöhung der Beiträge gesteuert werden. 1973 stieg der Beitragssatz von 17% auf 18%.

Seit der Reform von 1972 sind die überwiegenden Änderungen in der Rentenversicherung stets im Zusammenhang mit finanziellen Konsolidierungsmaßnahmen zu sehen. Die weitere Entwicklung in der Rentenversicherung ist bis zum heutigen Tage geprägt vom Abbau der in der Rentenversicherung angesammelten Rücklagen und Einsparungen bei den Leistungen. Rentenanpassungen wurden verschoben oder abgesenkt.

Mit dem Rentenreformgesetz von 1992359 verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, den aufgrund der demographischen Entwicklung langfristig ansteigenden Beitragssatz – verursacht durch eine zahlenmäßige Abnahme der Beitragszahler und einer Zunahme der Rentner – zu stabilisieren.360

Die Rentenreform von 1992 wurde am Nachmittag des 9. November 1989 im Bundestag verabschiedet. In dieser Nacht fiel in Berlin die Mauer. Über 4 Mio. Rentenempfänger wurden in die westdeutsche gesetzliche Rentenversicherung aufgenommen. Nur durch das System der Finanzierung durch Umlage war es möglich, die Rentenversicherung funktionsfähig zu halten.361

357 Z.T. wird angenommen, diese Beitragsnachentrichtungen seien viel zu niedrig angesetzt gewesen; vgl. Ruland, F., [Jahrhundertwende], Deutsche

Rentenversicherung 2000, S. 23 (S. 29); Seffen, A., in: Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.), [Vorschläge], Köln 1997.

358 Ohne versicherungsmathematische Abschläge in Kauf nehmen zu müssen, die jedoch aus versicherungsmathematischer Sicht eigentlich notwendig wären. Erst seit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz von 1996 sind diese

versicherungstechnisch notwendigen Abschläge bei Inanspruchnahme der flexiblen Altersgrenze vorgesehen.

359 RRG 92 veröffentlicht am 18.12.1989; in Kraft getreten am 1.1.1992; zu den

Grundzügen des RRG 1992 vgl. Frerich, J. / Frey, M., [Sozialpolitik], 2. Aufl., München / Wien 1996, S. 249ff.

360 Mit dieser Reform wird gem. einer Stellungnahme des Sozialbeirats der Beitragssatz im Jahr 2030 nicht auf 36%, sondern „nur“ auf 27% ansteigen. Vgl. zu den

wesentlichen Reformmaßnahmen Engels, W. u.a., [Reform], Bad Homburg 1987, S.

53; Seffen, A., in: Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.), [Vorschläge], Köln 1997, S.

30f; Kühlmann, K. u.a., [Konsequenzen], München 1992, S. 7f.

361 Vgl. Ruland, F., [Jahrhundertwende], Deutsche Rentenversicherung 2000, S. 23 (S.

30).

Einsparungen stehen seither im Vordergrund, bspw. im Rahmen des Gesetzes zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand, Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) und Beitrags-entlastungsgesetz (BeitrEntlG) aus dem Jahr 1996.362

Der Regierungswechsel 1998 ließ das von CDU/CSU und FDP seit 1997 vorgesehene Rentenreformgesetz 1999 (RRG ´99) scheitern. Es wurde durch das Rentenkorrekturgesetz 1999 der von der SPD angeführten Koalition teilweise ausgesetzt.

Das Altersvermögensgesetz (AVmG) und Altersvermögensergänzungs-gesetz (AVmEG) aus dem Jahr 2001 sind die aktuellsten Rentenreformen mit bedeutenden Auswirkungen für private Altersversorgung. Die von der SPD Regierung durchgesetzte Reform, die in Anlehnung an den zu der Zeit amtierenden Bundesarbeitsminister Walter Riester auch als „Riester-Reform“ bezeichnet wird, führte zur Einführung einer staatlich geförderten privaten Altersvorsorge mit Hilfe von privaten Rentenversicherungen.363

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