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Daten und Besonderheiten der National Insurance

Im Dokument Tabellen- und Abbildungsverzeichnis (Seite 103-130)

9 Ergebnisse und Fazit

5.2.4 Daten und Besonderheiten der National Insurance

auch zu unterschiedlichen Ansprüchen und Leistungen führen.429 Die Beitragsklassenzugehörigkeit wird über Merkmale wie Arbeitnehmer, Arbeitnehmer mit Sachbezügen bzw. geldwerten Vorteilen wie z.B.

Dienstwagen, bestimmte freiwillig Versicherte und Selbständige über oder unter bestimmter Verdienstgrenzen gesteuert. Innerhalb der Beitragsklassen kann weiter unterschieden werden, ob der Versicherte zur staatlichen einkommensbezogenen Zusatzversorgung (SERPS) beiträgt oder ob er alternativ einem anerkannten betrieblichen (occupational pension scheme) oder privaten Altersversorgungssystem (personal pension scheme) angehört.430 Wenn ein Arbeitnehmer das contracting-out in Anspruch nimmt, wird ein Teil der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge als „Rabatt“ für die Nichtinanspruchnahme der staatlichen Zusatzrente gewährt und in den betrieblichen bzw. privaten Altersvorsorgeplan eingezahlt. Entscheidet sich der Arbeitnehmer für ein contracting-out, dann erwirbt er für den Zeitraum des contracting-out keine weiteren Ansprüche aus der staatlichen Zusatzversorgung. Die bis dahin erworbenen Ansprüche gehen nicht verloren. Eine Rückkehr in das staatliche Zusatzversorgungssystem ist jährlich möglich.431

Das gesetzliche Rentenniveau ist in Großbritannien erheblich niedriger als in Deutschland. Die staatliche Grundrente (basic state retirement pension oder in der üblichen Ausprägung category A retirement pension) ist so ausgelegt, dass die maximale Rente, d.h. nach 44 Beitragsjahren bzw.

428 „Public/private mix“ dann 40% zu 60%; vgl. Schulte, B., Alterssicherung im Vereinigten Königreich, in: Reinhard, H.-J. (Hrsg.), [Wandel], Baden-Baden 2001, S. 287 (S. 290, S. 306).

429 Class 1, 1A, 1B, 2, 3, 4.

430 Vgl. Schulte, B., [Invaliditätssicherung], DRV 1998, S. 471 (S. 474). Zur Berechnung der Beiträge der unterschiedlichen Beitragsklassen vgl. im Einzelnen Rechmann, S., [Großbritannien], Berlin 2001, S. 113-122.

431 Vgl. FSA (Hrsg.), [Contracting-out], UK 1999, S. 3.

qualifizierenden Jahren (qualifying years) und mit Vollendung des 65.

Lebensjahrs,432 15% - 20% des durchschnittlichen Einkommens eines Arbeitnehmers beträgt.433 Das staatliche Versorgungsziel sieht nach 44 Beitragsjahren eine zusätzliche SERPS-Rente in Höhe von derzeit etwa 20% - 25% des durchschnittlichen angepassten Einkommens vor.434 Tatsächlich erhält die Mehrheit der Rentner insgesamt weniger als ein Drittel des letzten aktiven Erwerbseinkommens.435

Die volle Grundrente (100% basic state retirement pension) beträgt für das Jahr 2002/03 £ 75,50 / Woche. Im Vergleich dazu betrug die volle Grundrente 1998/99 £ 64,70 / Woche. Durch einen freiwilligen Aufschub des Rentenzugangsalters bis höchstens dem 70. Lebensjahr lassen sich Rentensteigerungen erzielen. Die Minimum Income Guarantee (MIG) soll ein Existenzminimum von £ 98,15 je Woche (Steuerjahr 2002/03) für einen alleinstehenden Rentner sicherstellen. Sollte dem Rentner dieser Betrag nicht zur Verfügung stehen, kann nach einer Bedürftigkeitsprüfung zusätzlich staatliche Unterstützung beansprucht werden.436

Die Basisversorgung korreliert weniger stark mit dem bisherigen Einkommen, sondern ist nach Steinmeyer437 vielmehr eine steuerfinanzierte Grundversorgung.438 Die Grundrente ist vergleichsweise unabhängig von den geleisteten Beiträgen. Anders als in Deutschland ergibt sich dadurch für verschieden hohe Beitragsleistungen eine ähnliche Grundrente. Die Grundsicherung in Großbritannien folgt in der Tendenz dem Konzept des „Volksrentensystems“.439 Die Charakteristika von

432 Gilt für Männer; die Altersgrenze für Frauen wird ab 2010 bis 2020 stufenweise von derzeit 60 auf 65 Jahre erhöht; entsprechend steigen die notwendigen

qualifizierenden Beitragsjahre für Frauen von derzeit 39 Jahre auf dann 44 Jahre.

433 In der Spitze etwa 20% (1977-1978); vgl. Budd, A. / Campbell, N., The Roles of the Public and Private Sectors in the U.K. Pension System, in: Feldstein, M. (Hrsg.), [Privatizing], Chicago / London 1998, S.99 (S. 101); vgl. Disney, R., in: Börsch-Supan, A. / Miegel, M. (Hrsg.), [Six Countries], Berlin / Heidelberg u.a. 2001, S. 87 (S. 96f.);

vgl. Emmerson, C. / Johnson, P., Pension Provision in the United Kingdom, in: Disney, R. / Johnson, P. (Hrsg.), [OECD], Cheltenham, UK / Northampton, USA 2001, S. 296 (S. 300); vgl. Steinmeyer, H.-D., [Reformpläne], DRV 1997, S. 474 (S. 480); vgl.

Waiglein, H., [Wende], VR 7-8/1999, S. I (S. I f.).

434 Vgl. DSS (Hrsg.), [State pensions], UK 2001, S. 15f.; Ternent, K., Großbritannien, in:

Cramer, J.-E. / Förster, W. / Ruland, F. (Hrsg.), [Handbuch], Frankfurt am Main 1998, S. 1117 (S. 1118f.); Rechmann errechnet in einer Simulation für den

Standardrentenfall ein Bruttorentenniveau von 20,42% im Rahmen der Grundrente.

Zusammen mit der einkommensabhängigen Zusatzrente ergibt sich ein Bruttorentenniveau von 40,32%. Durch für Rentner günstige Besteuerung und Freibetragsregelungen ergibt sich bei Betrachtung des Nettorentenniveaus sogar ein Wert von knapp 50%; vgl. Rechmann, S., [Großbritannien], Berlin 2001, S. 179ff.

435 Vgl. Ternent, K., Großbritannien, in: Cramer, J.-E. / Förster, W. / Ruland, F. (Hrsg.), [Handbuch], Frankfurt am Main 1998, S. 1117 (S. 1118ff.). Zur Einkommenslage älterer Menschen vgl. im Einzelnen Rechmann, S., [Großbritannien], Berlin 2001, S.

260-320.

436 Vgl. Senior, A., [Government], The Times v. 6.4.2002, S. 10.

437 Vgl. Steinmeyer, H.-D., [Reformpläne], DRV 1997, S. 474 (S. 477).

438 Zu den Anspruchsvoraussetzungen der Grund- und Zusatzrenten vgl. im Einzelnen Rechmann, S., [Großbritannien], Berlin 2001, S. 94-99.

439 Auch als Volksversicherungssystem, Beveridge- oder Volksrentenmodell bezeichnet.

Volksrenten wurden 1891 in Dänemark eingeführt. Der britische Sozialpolitiker Sir (später: Lord) William Beveridge baute ideologisch auf diesem System auf. Vgl.

Volksrentensystemen sind Einheitsleistungen bzw. pauschale Leistungen auf niedrigem Niveau, die der gesamten Bevölkerung zugute kommen.440 Die Grundsicherung erfasst grds. alle in Großbritannien ansässigen Erwerbstätigen. Auch Angestellte im öffentlichen Sektor und Selbständige441 werden von dieser Pflichtversicherung erfasst. Für Selbständige gelten andere Einkommensgrenzen und deutlich niedrigere Beitragssätze.442 Entsprechend niedriger sind auch die Leistungen, die Selbständige aus der NI erwarten können. Die Zusatzsicherung ist individuell und beitragsbezogen, steht daher dem deutschen Konzept des beitragsbezogenen Sozialversicherungssystems näher.443 Die Zusatzversorgung erstreckt sich im Wesentlichen auf abhängig Beschäftigte, die mit einkommensabhängiger Beitragsleistung individuelle Ansprüche erwerben. Das britische gesetzliche Rentensystem ist somit eine Mischform aus Volksrentensystem und beitragsbezogenem Sozialversicherungssystem.444

Für die Beitragsklasse 1 (reguläres Arbeitnehmerarbeitsverhältnis) galten oberhalb der unteren Beitragsbemessungsgrenze (lower earnings limit) folgende Beitragssätze zur NI:445

Dürkop, H., [Bestandsaufnahme], Bayreuth 1992, S.14 m.w.N.; vgl. Wittrock, A., [Landesbericht], DRV 1998, S. 383 (S. 385).

440 Vgl. Dederer, R., in: VDR (Hrsg.), [Vergleich international], Neuwied / Frankfurt am Main 1989, S. 9f.

441 Hier gelten allerdings andere Verdienstgrenzen.

442 Vgl. Casmir, B., [Rentenversicherungssysteme], 2. Aufl., Frankfurt am Main u.a. 1990, S. 264ff. m.w.N.

443 Vgl. DSS (Hrsg.), [Contracted-out pensions], UK 2001, S. 2.

444 Für einen ausführlichen Systemvergleich der beiden Rentenversicherungssysteme mit Untersuchung einzelner Merkmale wie z.B. erfasster Personenkreis,

Finanzierungsverfahren, Mittelaufbringung, Renteneintrittsalter,

Vorruhestandsregelungen, Leistungsbemessung, Leistungsanpassungen, u.v.a.m.

vgl. VDR (Hrsg.), [Vergleich international], Neuwied / Frankfurt am Main 1989; vgl.

VDR (Hrsg.), [Vergleich], Frankfurt am Main 1999; vgl. Dürkop, H., [Bestandsaufnahme], Bayreuth 1992.

445 Vgl. http://www.inlandrevenue.gov.uk/rates/nic.htm und

http://www.ifs.org.uk/taxsystem/natin1atime.shtml (Stand 27.12.2002); vgl. DSS (Hrsg.), [Personal pensions guide], UK 2001, S. 4.

Arbeitnehmer-Beitragssatz Arbeitgeber-Beitragssatz Steuerjahr

regulär rebate für contracting-out

regulär rebate für contracting-out

1975/76 5,5% 8,5%

1976/77 - 1977/78 5,75% 8,75%

1978/79 - 1979/80 6,5% 2,5% 10,0% 4,5%

1980/81 6,75% 2,5% 10,2% 4,5%

1981/82 7,75% 2,5% 10,2% 4,5%

1982/83 8,75% 2,5% 10,2% 4,5%

1983/84 - 1984/85 9,0% 2,15% 10,45% 4,1%

in Abhängigkeit des Alters des Arbeitnehmers 1985/86 - 1987/88 5,0%-9,0% 2,15% 5,0%-10,45% 4,1%

1988/89 5,0%-9,0% 2,0% 5,0%-10,45% 3,8%

1989/90 - 1990/91 9,0% 2,0% 5,0%-10,45% 3,8%

1991/92 - 1992/93 9,0% 2,0% 4,6%-10,4% 3,8%

1993/94 9,0% 1,8% 4,6%-10,4% 3,0%

1994/95 10,0% 1,8% 3,6%-10,2% 3,0%

1995/96 10,0% 1,8% 3,0%-10,2% 3,0%

1996/97 10,0% 1,8% 3,0%-10,2% 3,0%

1997/98 10,0% 1,6% 3,0%-10,0% 1,8%-7,4%

1998/99 10,0% 1,6% 3,0%-10,0% 1,8%-7,4%

1999/00 10,0% 1,6% 12,2% 1,8%-7,4%

2000/01 10,0% 1,6% 12,2% 1,8%-7,4%

2001/02 10,0% 1,6% 11,9% 1,8%-7,4%

in Abhängigkeit des Alters und der Einkommenshöhe des Arbeitnehmers

2002/03 10,0% 1,6% 11,8% 0,5%-8,9%

Tab. 11

Hieraus ist ersichtlich, dass in den vergangenen Jahren der Arbeitgeber geringfügig von Lohnnebenkosten entlastet wurde. Der Beitragssatz für Arbeitnehmer blieb stabil. Die Beitragssätze (ohne contracting-out) betragen zusammen 21,8% und sind somit etwa halb so hoch wie die Summe der Beitragssätze zu den deutschen Sozialversicherungen. Tritt der Arbeitnehmer aus der staatlichen Zusatzrente (SERPS, seit 2002:

SSP) aus, dann verringern sich die Beitragssätze deutlich.

Die folgende Übersicht zeigt für verschiedene Zeiträume untere und obere Beitragsbemessungsgrenzen zur NI:446

446 Vgl. Inland Revenue (Hrsg.), [minimum contributions], UK 2002, Appendix 2; vgl.

http://www.inlandrevenue.gov.uk/rates/nic.htm und

http://www.ifs.org.uk/taxsystem/natin1atime.shtml (Stand 27.12.2002); beachte: Die unteren Jahresgrenzen werden mit 52 Wochen p.a. und die oberen Jahresgrenzen werden mit 53 Wochen p.a. berechnet.

Tax Year Lower Earnings

Bis einschließlich Steuerjahr 1998/99 galt für den Arbeitnehmer die lower earnings limit und upper earnings limit als untere und obere Beitragsbemessungsgrenze. Für den Arbeitgeber existierte keine Beitragsmessungsgrenze. Er hatte auf das gesamte Einkommen des Arbeitnehmers National Insurance Contributions (NICs) zu entrichten.

Für den Zeitraum ab April 2000 gelten folgende Beitragspflichten: Der Arbeitnehmer hat nur zwischen der employee´s earnings threshold (EET;

untere Beitragsmessungsgrenze für Arbeitnehmer) und der upper earnings limit (UEL; obere Beitragsbemessungsgrenze) NICs zu bezahlen.

Der Arbeitgeber muss für den Arbeitnehmer Arbeitgeberbeiträge entrichten, wenn der Arbeitnehmer oberhalb der employer´s earnings threshold (EET; untere Beitragsbemessungsgrenze für Arbeitgeber) verdient. Beitragspflichtig ist nur das Einkommen oberhalb der employer´s earnings threshold. Eine obere Beitragsbemessungsgrenze existiert für den Arbeitgeber nicht. Seit April 2001 entspricht die employee´s earnings threshold der employer´s earnings threshold.447

Verdient der Arbeitnehmer zwischen der lower earnings limit und der earnings threshold, werden keine Beiträge fällig. Der Arbeitnehmer wird aber sozialleistungsmäßig beitragenden Arbeitnehmers gleichgestellt, d.h.

der Arbeitnehmer erwirbt Ansprüche aus der NI.

Zu beachten ist, dass die Beiträge zur NI für sämtliche Sozialversicherungszweige (Rentenversicherung, Krankenkasse, Arbeitslosenversicherung, Pflegeversicherung) einheitlich in einem Beitrag erhoben werden. Eine den deutschen Sonderausgaben vergleichbare Abzugsmöglichkeit für Arbeitnehmerbeiträge zur NI existiert nicht. Die obere Beitragsbemessungsgrenze, die in England nur für Arbeitnehmer existiert, ist etwas höher als in Deutschland. Da die Beitragsbemessungsgrenzen vielfach entsprechend der Inflationsrate und im Gegensatz zu Deutschland nicht entsprechend der Lohnentwicklung

447 Vgl. ebenda S. 4.

angehoben wurde, ist die obere Beitragsbemessungsgrenze relativ gesunken und heute nur geringfügig über dem durchschnittlichen Einkommen eines männlichen Arbeitnehmers angesiedelt.448

Zur Besteuerung der Beiträge und Leistungen aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung und der britischen National Insurance vgl. nachfolgende Kapitel im Zusammenhang mit der Besteuerung von Beiträgen und Leistungen bei Lebensversicherungen.

448 Vgl. Emmerson, C. / Johnson, P., Pension Provision in the United Kingdom, in:

Disney, R. / Johnson, P. (Hrsg.), [OECD], Cheltenham, UK / Northampton, USA 2001, S. 296 (S. 300); vgl. Schulte, B., [Invaliditätssicherung], DRV 1998, S. 471 (S. 474).

6 Staat, Wirtschaftsordnung und Altersversorgung

Von der Geburt bis hin zum Tod eines Menschen findet ein fortlaufender Konsum von Gütern statt. Die zur Finanzierung dieser Güter nötige Einkommenserzielung ist aber nicht in jeder Lebensphase möglich. Der Konsum in der Lebensphase der Kindheit und Jugend wird grds.

abgesichert von den Eltern. Die Methode der Finanzierung des Lebensabends hat sich im Laufe der Zeit erheblich verändert. Ursächlich für diese Veränderung ist im weitesten Sinne die Industrialisierung. Waren vor der Industrialisierung meist die Familienverbünde der Großfamilie für die Sicherung des Konsums im Lebensabend eines Familienmitglieds verantwortlich, so verlagerte sich die Verantwortlichkeit von den im Zuge der Industrialisierung zerfallenden Familienverbünden auf karitative Organisationen und den Staat. Der Staat errichtete Institutionen, die für definierte Kreise der Bevölkerung zunächst Zuschüsse zur Existenzsicherung zur Verfügung stellten. Diese Zuschüsse, die ehemals nur dem Ausgleich verminderter aktiver Erwerbsfähigkeit im Alter dienten, wurden im Zeitablauf großzügiger und führten dazu, dass Arbeit im Alter nicht mehr zwingend war. Sie entwickelten sich zu einer Basissicherung und gipfelten letztlich in einer Lebensstandardsicherung. Die derzeitige und erwartete zukünftige Entwicklung zeigt, dass dieses kollektive Lebensstandardsicherungssystem zugunsten einer Individualisierung der Altersversorgung durch z.T. verpflichtende aber individuelle, private Vorsorge abgelöst wird und die staatliche Versorgung auf eine Grundsicherung gekürzt werden muss. Die Notwendigkeit der Kürzung der Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung ist, abgesehen von Faktoren wie etwa Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit, im Wesentlichen auf die demographische Entwicklung zurück zu führen. Die Individualisierung der Altersversorgung könnte als weitere Phase im Rahmen der fortlaufenden Industrialisierung gesehen werden, als ein weiteres Aufbrechen von sozialen Gefügen, die beginnend mit der Auflösung der Familienverbünde fortgesetzt wird durch die Auflösung der Beziehungen zwischen Staat und Bürger.

Diese Entwicklungen sind sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien zu erkennen, wenngleich die Entwicklungsstufen nicht zeitgleich durchschritten wurden.

Staatlich-gesellschaftliche Ordnungen reichen von Individualismus bis hin zum Kollektivismus und ermöglichen vielfältige Kombinationen dazwischen. Innerhalb dieses Ordnungsrahmens für Staat und Wirtschaft wird festgelegt, welche Aufgaben der Staat und die Steuerpolitik haben sollen.449

Individualistisch-marktwirtschaftlich organisierte Wirtschaftssysteme sollten nicht durch gesetzliche Maßnahmen in die Alterssicherung der Individuen eingreifen. Die Individuen sorgen für ihre eigene Altersversorgung. Die Höhe dieser Altersversorgung ist abhängig von den

449 Zu den verschiedenen Persönlichkeiten, die die jeweiligen Systeme vertraten vgl.

Burbach, H.-D., [Steuerbegünstigungen], Nürnberg 1960, S. 16ff.

individuellen Präferenzen der Bürger, die sich entscheiden müssen zwischen Konsum heute und Ersparnisbildung zwecks zukünftigen Konsums. Individualversicherungssysteme die nach dem versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip arbeiten, wären diesem Wirtschaftssystem angemessen. Individualversicherungsverhältnisse werden eingegangen um sich persönlich gegen Risiken abzusichern und nicht um anderen Mitversicherten gegenüber solidarisch zu handeln.450 Dieses System finanziert sich durch freie Entscheidungen der Individuen, die aus ihrem leistungsabhängigen Einkommen eine individuelle Altersversorgung aufbauen. Eigene Beiträge sind Voraussetzung für dieses System.

Ein marktwirtschaftlich orientierter Rechtsstaat sollte nach Engels451 seinen Bürgern Versicherungszwang auferlegen – ohne dabei eine Zwangsversicherung vorzuschreiben. Dem Bürger sollte eine Auswahl an grds. privat organisierten Systemen zur Verfügung stehen. Der Staat wird in die Rolle des Überwachenden zurückgedrängt, der dafür Sorge zu tragen hat, dass die Bürger dieser Vorsorgepflicht nachkommen und dass die Versicherungsunternehmen in ihrer Tätigkeit entsprechend überwacht werden. Von dieser marktwirtschaftlichen Idealvorstellung ist man in Deutschland weit entfernt. In Großbritannien steht der versicherungs-pflichtige Bürger dagegen zumindest teilweise unter einem Versicherungszwang ohne in eine Zwangsversicherung beitragen zu müssen. Es stehen eine Vielzahl alternativer privater Vorsorgemodelle zur Verfügung.

Kollektivistisch organisierte Wirtschaftssysteme sind bedarfsorientierte Systeme. Sie orientieren sich am Bedarf der Bürger, der i.d.R. so festgelegt sein wird, dass ein bestimmtes, als angemessen angesehenes Konsumniveau erreicht werden kann. Alle Bürger haben einen Anspruch auf Versorgung durch den Staat.

Liberalistische Wirtschaftssysteme bauen nicht allein auf die private, individuelle Vorsorge. Sie erkennen an, dass nicht alle Bürger die gleichen Vorsorgemöglichkeiten haben. In diesen Fällen hat man sich für Fürsorge bzw. Sozialhilfe zu entscheiden.452 Der Anspruch auf Fürsorge ist abhängig vom Ergebnis einer Bedürftigkeitsprüfung. Im Gegensatz zur Versorgung haben nicht alle, sondern nur die bedürftigen Anspruch auf Fürsorge. Im Gegensatz zur Versicherung werden sowohl bei der Versorgung als auch bei der Fürsorge eigene Beiträge für eine Leistungsberechtigung nicht zwingend vorausgesetzt.453

450 Vgl. Petersen, H.-G., [Ansatzpunkte], Gießen 1986, S. 7 m.w.N.

451 Vgl. Engels, W. u.a., [Reform], Bad Homburg 1987, S. 12f.

452 Vgl. Petersen, H.-G., [Ansatzpunkte], Gießen 1986, S. 8f. m.w.N.

453 Vgl. Pagenkopf, H., [Sozialpolitiker], Bonn 1965, S. 68; vgl. Petersen, H.-G., [Ansatzpunkte], Gießen 1986, S. 9.

6.1 Deutschland

Die Begriffe Wohlfahrtsstaat und Sozialstaat werden im Folgenden synonym verwendet. Sesselmeier454 weist auf die international nicht vorgenommene Trennung der Begriffe hin: Der Begriff Sozialstaat entstamme der im Obrigkeitsstaat Bismarcks entstandenen Sozialstaatsidee. Mit ihm sollte die herrschende gesellschaftliche Ordnung stabilisiert und Distributionsdefekte in der Marktwirtschaft vermindert werden. Die Idee des Wohlfahrtsstaats entstamme dagegen der Emanzipation und Aufklärung.455

Unterschiedliche Ansichten zur Alterssicherung führen zur Notwendigkeit, die Begriffe Versicherung, Versorgung und Fürsorge zu unterscheiden.

Das Sozialversicherungssystem in Deutschland folgt grds. dem Vorsorge- und Versicherungsprinzip. Das Versicherungsprinzip wiederum folgt dem Äquivalenzprinzip. Die soziale Sicherung eines Sozialstaats umfasst neben den Sozialversicherungssystemen auch Maßnahmenbündel, die dem Versorgungs- bzw. Fürsorgeprinzip folgen, z.B. Sozialhilfe. Sie haben regelmäßig nicht Versicherungsmerkmale inne, sondern folgen verteilungspolitischen Aspekten.456

Die Bedeutung des Begriffs „Alter“ hat sich im Zeitraum Ende des 19.

Jahrhunderts bis heute gewandelt. War „Alter“ im 19. Jahrhundert noch mit fehlender Arbeitskraft und zwangsläufiger Armut verbunden, so ist der Begriff heute nicht mehr zwangsläufig mit mangelnder Leistungsfähigkeit in Verbindung zu bringen. Selbst bei vorhandener Arbeitskraft soll es dem Einzelnen ab einem gewissen Alter nicht mehr zugemutet werden für seinen Lebensunterhalt aktiv sorgen zu müssen.457

Vor der Einführung der gesetzlichen Rentenversicherung 1889 gab es für die Mehrheit der Arbeitnehmer nur wenige Möglichkeiten der sozialen Absicherung. Sie waren bis dahin im Zweifelsfall angewiesen auf die sozialen Komponenten des eigenen Familienverbunds, die Kirche, Gutsherren bzw. der feudalen Gutswirtschaft, Genossenschaften, Zünfte, Gemeinden o.ä. Diese Institutionen, in der vorindustriellen Zeit im Wesentlichen die Familie, boten nicht mehr als eine Existenzsicherung.458 Die industrielle Revolution mit den Folgen des Bevölkerungswachstums,

454 Vgl. Sesselmeier, W., [Nachhaltigkeit], Sozialer Fortschritt 6/2000, S. 138 (S. 138, Fn.

1 m.w.N.).

455 Vgl. auch Ritter, G. A., [Sozialstaat], München 1989, S. 2; Ritter verwendet die Begriffe ebenfalls grds. synonym. Zu den Schwierigkeiten beim Versuch den Wohlfahrtsstaat zu erklären vgl. Thieme, H. J. / Steinbring, R., Wirtschaftspolitische Konzeptionen kapitalistischer Marktwirtschaften, in: Cassel, D. (Hrsg.),

[Wirtschaftspolitik], München 1984, S. 45 (S. 60). Sie ordnen den Wohlfahrtsstaat jedenfalls den interventionistischen Staatskonzeptionen und nicht den liberalen Staatskonzeptionen zu. Zur Diskussion um die Ursachen der Gründung von

Sozialstaaten vgl. Melling, J., Sozialkapitalismus und die Gründung von Sozialstaaten:

Britische Arbeitgeber, Arbeiterwohlfahrt und Sozialpolitik im Vergleich 1850-1914, in:

Machtan, L. (Hrsg.), [Sozialstaat], Frankfurt am Main / New York 1994, S. 163ff.

m.w.N.

456 Vgl. Sesselmeier, W., [Nachhaltigkeit], Sozialer Fortschritt 6/2000, S. 138 (S. 139).

457 Vgl. Schmähl, W., Das Gesamtsystem der Altersicherung, in: Cramer, J.-E. / Förster, W. / Ruland, F. (Hrsg.), [Handbuch], Frankfurt am Main 1998, S. 59 (S. 60).

458 Vgl. Bäcker, G. u.a., [soziale Lage], 3. Aufl., Wiesbaden 2000, S. 243f.

Veränderungen der Arbeitswelt, Ausweitung der Lohnarbeit und der Verstädterung führten auch zur Veränderung der bisherigen sozialen Gefüge, die bis dahin in den genannten Institutionen zu finden waren.

Neue und insbesondere für Arbeiter geltende Lösungen mussten gefunden werden. Diese Problematik wurde als „Arbeiterfrage“ bzw.

allgemeiner gefasst als „soziale Frage“ betrachtet. Die „soziale Frage“ ist nach Willgerodt eine vereinfachende Umschreibung für die seit Beginn der Industrialisierung vorherrschende Debatte um das Verhältnis von Arbeit und Kapital.459

Im Sinne der klassischen Volkswirtschaftslehre liberale Wirtschaftsordnungen, insbesondere Verbesserungen auf dem Gebiet des Freihandels, begünstigten die Industrialisierung. Im Gegensatz zu England hatte eine spürbare Industrialisierung in Deutschland wesentlich später eingesetzt. Die ökonomische Wissenschaft stand den Erfolgen des britischen ökonomischen Liberalismus angesichts der Schattenseiten der Industrialisierung, z.B. durch Entstehung der Arbeiterklasse, skeptisch gegenüber und war noch Anfang des 19. Jahrhunderts geprägt von überholten ständisch geprägten kameralistischen Auffassungen.460 Die Entstehung einer Arbeiterklasse („Industrie-Proletariat“) wurde mit dem strukturellen Wandel des Wirtschaftssystems begünstigt.461 Anders als in Großbritannien konnte in Deutschland aufgrund späterer Industrialisierung auf die britischen Erfahrungen mit der Industrialisierung zurückgegriffen werden. Die Skepsis und die zeitliche Verzögerung begünstigten die Entstehung der Historischen Schule und sozialistischen Gegenpositionen zu liberaler Wirtschaftspolitik.462 Neo-merkantilistische Ansichten setzten sich durch. Der Staat sollte vor revolutionärem Umsturz bewahrt werden und soziale Verantwortung übernehmen.463 Im Sinne dieses Zeitgeistes kann versucht werden zu erklären, weshalb die Lebensversicherung als individuelles Produkt erst mit der Einrichtung der gesetzlichen Rentenversicherung erstmals gefördert wird. Der englische ökonomische Liberalismus war in Deutschland niemals vergleichbar stark ausgeprägt.

Aufgrund späterer Industrialisierung und zeitlich verzögerten Wirtschaftswachstums entwickelte sich auch die Lebensversicherungswirtschaft später. Neo-merkantilistischer Zeitgeist oktroierte dem Staat, auch zum Schutz des Staates vor Umsturz, soziale Verantwortung auf. Geförderte individuelle Vorsorge wurde erst mit Errichtung kollektiver Vorsorgeeinrichtungen ermöglicht. Die kollektive Vorsorge entsprach nicht mehr der ökonomisch liberalen klassischen Lehre. Kollektive Vorsorge steht dem Gedankengut der Historischen Schule und der sozialistischen Lehre näher.

459 Vgl. Willgerodt, H. u.a., [Vermögen], Düsseldorf / Wien 1971, S. 13. Nach Ritter ist die Diskussion um die soziale Frage sehr viel älter. Sie lebte durch eine schwerwiegende ökonomische Depression Ende der 1870er Jahre und durch die Furcht vor sozialer Revolution nur wieder auf, vgl. Ritter, G. A., [Sozialversicherung], München 1983, S.

9.

460 Vgl. Ott, A. E. / Winkel, H., [theoretische VWL], Göttingen 1985, S. 110; vgl. Kolb, G., [Geschichte VWL], München 1997, S. 74.

461 Vgl. Berlepsch v., H.-J., Konsensfähige Alternativen zu Bismarcks Modell

sozialpolitischer Gestaltung, in: Machtan, L. (Hrsg.), [Sozialstaat], Frankfurt am Main / New York 1994, S. 61 (S. 61).

462 Vgl. zur Historischen Schule auch Kolb, G., [Geschichte VWL], München 1997, S. 99ff.

463 Vgl. Ott, A. E. / Winkel, H., [theoretische VWL], Göttingen 1985, S. 115, S. 123, S.

151f.

Verarmte Arbeiter waren regelmäßig auf staatliche Unterstützung angewiesen. Die von der Allgemeinheit der Steuerzahler getragene öffentliche Armenfürsorge, die in Form von bescheidener Existenzsicherung „älteste Aufgabe“464 des Sozialstaats, sollte mit Einführung der gesetzlichen Rentenversicherung entlastet und eine Solidargemeinschaft innerhalb der Arbeiterschaft konstruiert werden. Mit dem Zwang zur Beitragszahlung und somit dem Zwang zur eigenen, individuellen Vorsorge sollte dieses Ziel erreicht werden. Der Staat sorgte für die Vorsorgepflicht, betrieben wird die Vorsorge aber von den Individuen. Die Rentenversicherung sollte eine staatliche organisierte Pflichtversicherung sein, ein Mittelweg zwischen einer von sozialistischer Seite geforderten Versorgung aus Steuermitteln und einer liberalisierten individuellen, eigenverantwortlichen Vorsorge. Die Höhe der Rentenansprüche sollten abhängig gemacht werden von der Beitragsleistung während des Erwerbslebens.465 Diese Merkmale kennzeichnen noch heute die deutsche gesetzliche Rentenversicherung.

Da die Renten eben keine Fürsorgemaßnahmen des Staates sind, sondern auf der eigenen Beitragszahlung beruhen, genießen Ansprüche und Anwartschaften auf Renten heute den Eigentumsschutz des Grundgesetzes.466 Dieser auch als „Beitragsäquivalenzprinzip“

bezeichnete Eigentumsschutz besagt letztlich, dass die Rente aus eigenen Beiträgen467 aufgebaut sein muss und dass Berechtigung und Eigenleistung zwar nicht deckungsgleich, aber in einem angemessenen Verhältnis stehen müssen.468 Die eingeführte gesetzliche Altersrente hatte als primäre Zielsetzung die Eindämmung der Altersarmut der Arbeiter. Ein altersbedingtes Ausscheiden aus dem Beruf war i.d.R. nicht üblich. Grds.

wurde bis zum Lebensende gearbeitet. Ein Ruhestand als Lebensabschnitt im heutigen Sinne war nicht bekannt. Die Altersrente aus dem frühen Sozialversicherungssystem sollte nur die nachlassende Arbeitskraft im Alter oder bei Invalidität kompensieren und eine Ergänzung bzw. einen Zuschuss zum noch verbleibenden Arbeitsverdienst darstellen.

Die eingeführte Altersrente war daher kein Einkommens- bzw. Lohnersatz.

Der Gesetzgeber ging davon aus, dass die Erwerbstätigkeit beibehalten wird.469 Bei einem Beitragssatz von weniger als 2% im Jahr 1891 waren die Leistungsverhältnisse der Invaliditäts- und Altersversicherung entsprechend gering und aus heutiger Sicht mangelhaft.

Die ursprünglich auf 70 Jahre festgesetzte und 1916 auf 65 Jahre gesenkte Altersgrenze diente der Verwaltungsvereinfachung. Bei diesem

Die ursprünglich auf 70 Jahre festgesetzte und 1916 auf 65 Jahre gesenkte Altersgrenze diente der Verwaltungsvereinfachung. Bei diesem

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