• Keine Ergebnisse gefunden

2. T HEORETISCHER T EIL

2.3. Stigma

Schwere psychische Krankheiten sind mit Diskriminierungen und Stigmatisierungen ver-bunden. Es sind Erkrankungen, über die man möglichst nicht spricht. Nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch unter psychiatrisch Tätigen sind Vorurteile und negative Ein-stellungen gegenüber Menschen mit psychischen Störungen weit verbreitet (vgl. Finzen 2013: 11, Sibitz et al. 2012).

„Ein Stigma ist mehr als ein Vorurteil. Es ist eine Zuweisung — und Empfindung — von Scham, Schuld, Schimpf und Schande zugleich.“ (Finzen 2013: 17)

Der Medizinsoziologe Erving Goffman bezeichnet ein Stigma im historischen Sinn als ein Zeichen, das dazu dient, „etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand des Zeichenträgers zu offenbaren.“ (Goffman 1975: 9) Finzen weist auf die sozi-ologische Bedeutung des Begriffes Stigmatisierung hin, in dem Sinne, dass jemandem von der Gesellschaft negativ bewertete Merkmale zugeordnet werden bzw. jemand in diskriminierender Weise gekennzeichnet wird (vgl. Finzen 2013: 37).

Aber nicht nur die Erkrankten sind von Stigmata betroffen, sie betreffen die gesamte Fa-milie. Stigmata sind eine enorme Last für die Kranken und deren Angehörigen. Finzen bezeichnet „das Leiden unter dem Stigma, unter Vorurteilen […] und Schuldzuweisun-gen“ als „zweite Krankheit.“ (Finzen 2013: 36)

Negative Zuschreibungen

Zu allen Zeiten und in allen Kulturen ging die Gesellschaft mit psychisch Erkrankten oft in irrationaler Weise um (vgl. Hinterhuber 2012). Tief verankerte negative Zuschreibungen von Unbehandelbarkeit und Unberechenbarkeit schüren Ängste. Weitere Vorurteile und Mythen, die mit einer psychischen Krankheit einhergehen, sind Krankheitsuneinsichtig-keit, VerantwortungslosigKrankheitsuneinsichtig-keit, Arbeitsunwilligkeit und sexuelle Ungezügeltheit, aber auch Vererbung und Schuldhaftigkeit der Eltern (vgl. Schöny 2012).

Eine Erkrankung, deren Betroffene ganz besonders starker Stigmatisierung ausgesetzt sind, ist die Schizophrenie. Das Stigma der Schizophrenie entwickelt eine eigene Dyna-mik, der sich niemand entziehen kann. In ihm begegnen sich Fantasien und Ängste, his-torische und religiöse Mythen (vgl. Finzen 2013: 10). Mit Schizophrenie assoziiert sind Vorstellungen von unverständlichem, widersinnigem Verhalten sowie von Gewalt. Schi-zophrenie wird für eine Verwirrung der Seele gehalten, besonders der Mythos der gespal-tenen Persönlichkeit hält sich hartnäckig. „Und: Schizophrenie signalisiert Gefahr.“

(Finzen 2013: 25)

Wurzeln

Die Ursprünge all dieser Zuschreibungen reichen weit zurück und liegen einerseits im religiösen Bereich, wo psychisch Kranke lange Zeit als von Dämonen besessen angese-hen wurden. Andererseits trug auch die Psychiatrie selbst zur Entwicklung von Vorurtei-len bei, indem sie psychische Krankheiten als selbstverschuldet und als Strafe für sündi-ges Verhalten ansah. Diese Ansichten, die im 19. Jahrhundert entstanden waren, sind zum Teil auch heute noch anzutreffen. Auch dadurch, dass über Jahrhunderte psychisch erkrankte Menschen in geschlossenen Anstalten betreut und behandelt wurden, hat die Psychiatrie ein Bild von unberechenbaren Kranken transportiert (vgl. Finzen 2013: 86, Meise 2012).

Eine weitere Wurzel liegt in der Degenerationslehre und Eugenik, die die gesundheitspoli-tische Idee hervorbrachte, dass vermeintlich positive Erbanlagen in der Bevölkerung zu vermehren und vermeintlich negative zu vermindern sind. Ihren schrecklichen Höhepunkt fanden diese Lehren in der Euthanasie des Nationalsozialismus. Dieses Gedankenmodell der Degenerationslehre und Erbbiologie wirkt bis heute unausgesprochen nach (vgl.

Meise 2012).

Vorurteile aufgrund von sozialwissenschaftlichen Theorien wie die der schizophrenoge-nen Mutter (siehe Kapitel 2.4), die wissenschaftlich längst widerlegt sind, führen noch heute zur Stigmatisierung von Angehörigen (vgl. Finzen 2013: 105).

Einen nicht geringen Anteil an der Meinungsbildung hat auch die Boulevardpresse, die über Schizophrenie fast ausschließlich im Zusammenhang mit Gewaltverbrechen berich-tet. Das Bild vom gemeingefährlichen Geisteskranken ist allgegenwärtig (vgl. Finzen 2013: 86).

Folgen von Stigmatisierung

Stigmatisierung hat eine ganze Reihe von negativen Auswirkungen: Ausgrenzung, Dis-kriminierungen, wie zum Beispiel Benachteiligung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls und Verminderung der Lebensqualität bis hin zu Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung (vgl. Finzen 2013: 60, Schöny 2012).

Das unbewältigte Leiden der mitbetroffenen Angehörigen

Stigmata betreffen nicht nur die psychisch erkrankten Personen, sondern auch ihre An-gehörigen. Aufgrund des veränderten Sozialverhaltens des/der Kranken ziehen sich Freunde, Bekannte und Verwandte zurück, Geschwister werden in der Schule verspottet und gemobbt — es kommt zur sozialen Ausgrenzung der gesamten Familie (vgl. Finzen 2013: 52 f.).

Typische Reaktionen des sozialen Umfelds sind außerdem mehr oder weniger versteckte Schuldvorwürfe und Fragen nach den Ursachen — wie zum Beispiel Vererbung, Vermu-tungen über ein falsches Erziehungsverhalten und gestörte Beziehungen zwischen Eltern und Kind bzw. zwischen PartnerInnen — irgendwer muss ja schuld sein! Auf die Angehö-rigen kommen zur Isolation auf diese Weise noch schmerzvolle Schuldgefühle zu. Somit stehen die Angehörigen unter einer Doppelbelastung: Neben der Herausforderung der unmittelbaren Krankheitsfolgen müssen sie noch ihre eigene Stigmatisierung bewältigen (vgl. Finzen 2013: 52 ff.).

Bewältigungsversuche der Angehörigen

Im Bewusstsein von möglicher Stigmatisierung und Vorurteilen versuchen Angehörige oft das Krankheitsgeschehen zu verbergen. Das kann dazu führen, dass der/die Kranke vor der Öffentlichkeit versteckt wird. Für die Angehörigen ist das eine große Belastung, zum einen, weil die ständige Heimlichtuerei und die Sorge entdeckt zu werden einen großen emotionalen Spannungszustand bewirkt, zum anderen, weil es zu Scham und Schuldge-fühlen der/dem Erkrankten gegenüber führt. Man kann aber nicht auf Dauer so tun, als gebe es die psychische Krankheit nicht. Langfristig kommt es zu sozialem Rückzug und in der Folge zu einer Ausdünnung (Verarmung) des sozialen Netzes der Angehörigen — damit fällt jedoch die mögliche soziale Unterstützung durch Freunde und Freundinnen

weg. Die Auswirkungen des Verbergens betreffen aber auch die Kranke bzw. den Kran-ken. Diese/r fühlt sich nun auch von ihrer/seiner eigenen Familie ausgegrenzt und diskri-miniert (vgl. Finzen 2013: 54 f.).

Ein weiterer Versuch, sich einer möglichen Stigmatisierung zu entziehen, besteht darin, die Krankheit zu verleugnen bzw. die Situation in der Familie zu ‚normalisieren‘: Für das veränderte Verhalten des/der Erkrankten werden alternative Erklärungsmodelle gesucht, wie zum Beispiel Liebeskummer oder Probleme am Arbeitsplatz. Dies kann dazu führen, dass professionelle Hilfe für das erkrankte Familienmitglied erst sehr spät gesucht wird (vgl. Finzen 2013: 55).

Antistigma-Bewegung

Unter dem Oberbegriff der Entstigmatisierung gab es in den letzten beiden Jahrzehnten zahlreiche Kampagnen und Interventionen, um die öffentliche Meinung gegenüber psy-chisch Kranken und ihren Angehörigen positiv zu beeinflussen und Tendenzen zu Stig-matisierung und Diskriminierung zu verringern. Die World Psychiatric Association (WPA), nationale psychiatrische Fachgesellschaften und Angehörigenvereine versuchten, der Bevölkerung Wissen über psychiatrische Krankheitsbilder und Behandlungsmethoden, Fakten über die Gefährlichkeit der Schizophrenie und aktuelle Theorien über die Ursa-chen der Erkrankungen zu vermitteln (vgl. Schöny 2012).

Trotz dieser Bemühungen der Antistigma-Bewegung blieben Vorurteile und negative Ein-stellungen gegenüber psychisch kranken Menschen und deren Familien weitgehend be-stehen. Es handelt es sich um tiefverwurzelte Einstellungen und irrationale Ängste, die die Stigmatisierung aufrechterhalten und auch durch Aufklärung schwer aufzuheben sind (vgl. Finzen 2013: 50).

Stigmamanagement

Neben den Entstigmatisierungskampagnen sind deshalb sowohl für Kranke als auch für ihre Angehörigen Hilfen notwendig, um die Stigmata zu bewältigen und deren negative Folgen abzuwenden. Dafür gibt es ein neues Konzept — das Stigmamanagement. Hier-bei geht es darum, die Stigmaresistenz der Betroffenen zu stärken. Stigmaresistenz be-zeichnet „die individuelle Widerstandskraft gegenüber der mit psychischer Erkrankung verbundenen Stigmatisierung und Diskriminierung.“ (Sibitz et al. 2012) Stigmaresistent zu sein bedeutet immun gegen verletzende Äußerungen zu sein, über die psychische Krankheit offen reden zu können und Vorurteilen etwas entgegensetzen zu können.

Im Konzept der Stigmaresistenz geht es um Entwicklung von Selbstwert, Selbstwirksam-keit und Resilienz. Methoden und Strategien des Empowerments (der Selbstbefähigung, siehe Kapitel 2.7.2) werden eingesetzt, um Partizipation zu fördern und Lebensqualität zu erreichen (vgl. Sibitz et al. 2012).

2.4. Familien-Schuld-Theorie – die historische Rolle der Angehörigen