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Zusammenfassung und Reflexion der wichtigsten Ergebnisse in Bezug zur Literatur und zur Theorie

Diese Arbeit hatte zum Ziel herauszufinden, unter welchen Belastungen Angehörige psy-chisch erkrankter Menschen leiden und welche Unterstützungen notwendig und ge-wünscht sind. Dabei wurden auch die Bewältigungsstrategien betrachtet, die die Angehö-rigen entwickelt haben, um mit diesen Belastungen umzugehen.

Die Auswertung der durchgeführten Interviews zeigt, dass sich eine psychische Erkran-kung sehr stark auf nahe Angehörige auswirkt und mannigfache Belastungen zutage tre-ten. Angelehnt an das biopsychosoziale Modell (siehe Kapitel 2.9) lassen sich die aufge-fundenen Belastungen grundsätzlich drei Gruppen zuordnen: Emotionale Belastungen, gesundheitliche Belastungen und soziale Belastungen.

Besonders der Beginn der Erkrankung geht mit enormem Stress einher. Alle interviewten Angehörigen berichten von Gefühlen des Schocks, der Hilflosigkeit oder der Angst. Auch Edith Scherer und Thomas Lampert heben hervor, dass emotionale Belastungen wie Hilflosigkeit, Ohnmacht und Angst zu den am häufigsten genannten Belastungen von Angehörigen zählen und allgegenwärtig sind (vgl. Scherer/Lampert 2017: 29).

Angehörige berichten über unterschiedlichste Stressoren, die den familiären und partner-schaftlichen Lebensalltag beeinträchtigen. Einerseits stellen Verhaltensauffälligkeiten und Persönlichkeitsveränderungen des/der Erkrankten eine emotionale Herausforderung dar, andererseits bedeuten die Unterstützung und Fürsorge für den Kranken/die Kranke sowie das Aufrechterhalten des Alltags mit Haushalt, eigener Berufstätigkeit und eventueller Kinderbetreuung eine große zeitliche Mehrbelastung. Auch Nadine Bull schreibt, dass der Alltag der gesamten Familie betroffen ist. Besonders PartnerInnen seien sehr belastet, weil sie Aufgaben der betroffenen Kranken mitübernehmen müssen. Weiters weist Bull auch auf finanzielle Belastungen der Familie hin (vgl. Bull 2015: 122 f.). Interessanter-weise erwähnen die InterviewpartnerInnen der vorliegenden Forschungsarbeit zwar fi-nanziellen Mehraufwand bedingt durch die Erkrankung, dieser stellt für sie aber keine Belastung dar. Möglicherweise ist dies durch den durchwegs guten ökonomischen Status der InterviewteilnehmerInnen bedingt.

Die meisten der in dieser Arbeit beschriebenen Belastungen werden sowohl von Eltern als auch PartnerInnen genannt. Hervorzuheben ist, dass es neben diesen gemeinsamen zentralen Belastungsaspekten auch noch partner- bzw. elternspezifische Belastungen gibt.

Bei Eltern steht besonders die Sorge um die Zukunft der Kinder im Vordergrund. Wie wird es dem psychisch kranken Kind gehen, wenn sie, die Eltern, als Betreuungs- und Unter-stützungspersonen nicht mehr zur Verfügung stehen? Zudem bezieht sich die Sorge auch darauf, wie eine dauerhafte finanzielle Absicherung erreicht werden kann, da viele psychisch Erkrankte keiner Erwerbsarbeit nachgehen können. Eltern fühlen sich oft ein Leben lang verantwortlich für das Wohlergehen ihrer Kinder. Scherer und Lampert er-wähnen die erstaunlich hohe Zahl von Lebensgemeinschaften betagter Eltern mit ihren psychisch erkrankten Kindern, was maßgeblich zur Lebensqualität der Kranken beitrage (vgl. Scherer/Lampert 2017: 43 f.). Es erstaunt daher nicht, dass Ines Nitsche et al.

Zu-kunftssorgen als einen der wichtigsten Belastungsfaktoren der Angehörigen identifizieren (vgl. Nitsche et al. 2010).

Die Analyse der Ergebnisse zeigt darüber hinaus, dass sich nicht nur Eltern sondern auch Geschwister verantwortlich für das künftige Wohlergehen der Erkrankten fühlen.

Dies zeigt sich in der Schilderung der jungen Interviewteilnehmerin, die sich Gedanken darüber gemacht hat, wie es nach dem Tod der Eltern mit der erkrankten Schwester wei-tergehe. Ähnliche Ergebnisse gehen aus der aktuellen Literatur hervor, wo Zukunftsängs-te und künftige Verantwortungsübernahme durch GeschwisZukunftsängs-ter thematisiert werden (siehe etwa Nouvel 2019: 66, Straub/Möhrmann 2015: 28). Dass Geschwister ähnliche Belas-tungen wie Eltern haben, wird häufig unterschätzt — aber auch sie sind Mitbetroffene und leiden unter der Situation.

Das zweite Thema, das insbesondere für Eltern relevant ist, ist die Frage nach einer eventuellen (Mit-)schuld an der Krankheit des Kindes. Im Standardwerk für Familienan-gehörige psychisch Kranker, ‚Freispruch der Familie‘, wird das Thema Schuld ausführlich behandelt:

„Das alles überschattende Problem für Angehörige psychisch Leidender sind die Schuldgefühle. Jeder fragt sich: ‚Was habe ich falsch gemacht, was habe ich versäumt, was mache ich heute noch falsch, habe ich bei der Erziehung versagt, haben wir in der Familie eine Erbkrankheit?‘ “ (Koenning 2014: 27)

Alle drei interviewten Mütter sprechen das Thema Schuld durch mögliche Erziehungsfeh-ler an. Zwei Mütter wurden von außen — von Seiten der Verwandtschaft — mit Schuld-vorwürfen konfrontiert, die dritte reflektiert selbstkritisch über mögliche Fehler in der Er-ziehung. Daraus geht hervor, dass, wie im Theorieteil beschrieben (siehe Kapitel 2.4), die Frage nach der Schuld für Eltern von Bedeutung ist. Beachtenswert ist, dass von keinen Schuldzuweisungen seitens des psychiatrischen Fachpersonals berichtet wird, was dafür spricht, dass die historische Familien-Schuld-Theorie in Fachkreisen weitgehend über-wunden sein dürfte. Dennoch spielt das Thema Schuld in der Gesellschaft noch eine Rol-le, und die Angehörigen werden nach wie vor damit konfrontiert, wie auch die aktuelle Literatur zeigt (siehe etwa Finzen 2020: 49).

Zu den spezifischen PartnerInnenbelastungen zählen neben Rollenveränderungen in der Partnerschaftsbeziehung und damit einhergehender Neuorganisation von Familie und Haushalt vor allem Persönlichkeitsveränderungen des/der Kranken und der Verlust einer emotionalen Vertrautheit. Solche Veränderungen wiegen in Paarbeziehungen, die auf Freiwilligkeit beruhen und mit bestimmten Erwartungen und Voraussetzungen verknüpft sind, schwerer als zum Beispiel in Eltern-Kind-Beziehungen, die meist als lebenslange und unauflösbare Beziehungen empfunden werden. Der interviewte Ehemann gibt an, sehr unter der Persönlichkeitsveränderung und der emotionalen Entfremdung von seiner Frau zu leiden. Trotz der schwierigen Situation wurde von keinem/keiner der befragten PartnerInnen über Trennungsimpulse berichtet. Es ist jedoch nachvollziehbar, dass es bei einer psychischen Erkrankung des Partners/der Partnerin gehäuft zu einer Trennung kommt, wie in umfangreichen Studien dokumentiert wurde (siehe etwa Breslau et al.

2011).

Die Ergebnisse der Analyse belegen somit, dass PartnerInnen und Eltern neben vielen gemeinsamen Belastungen auch mit beziehungsspezifischen Belastungen konfrontiert

sind. Nachdem in der vorliegenden Arbeit Angehörige von depressiv und von schizophren Erkrankten befragt wurden, stellt sich die Frage, ob es auch erkrankungsspezifische Be-lastungen gibt.

Unter den sechs Interviewten waren zwei Mütter schizophren erkrankter Söhne, von de-nen eine mit äußerst aggressiven Verhaltensweisen ihres Sohnes aufgrund der Posi-tivsymptomatik zu kämpfen hatte. Diese Mutter berichtet weiters von extremen Sorgen und Ängsten, die mit der Obdachlosigkeit und den Wahnvorstellungen des Sohnes zu-sammenhängen. Die vier Angehörigen von depressiv Erkrankten schildern weder psycho-tische Symptome noch aggressive Verhaltensweisen, auch wenn vereinzelt von gestei-gerter Reizbarkeit des/der Erkrankten berichtet wurde. Es lässt sich daraus schließen, dass die Positivsymptomatik und die damit verbundenen problematischen Verhaltenswei-sen, die eine Schizophrenie mit sich bringen kann, ein besonderes Belastungspotential speziell für Angehörige von schizophren Erkrankten darstellen.

Weitere krankheitsspezifische Belastungsunterschiede ließen sich in der vorliegenden Forschungsarbeit nicht feststellen — alle vorgefundenen Kategorien der Belastungen fanden sich sowohl bei Angehörigen von depressiv als auch von schizophren Erkrankten.

Daraus lässt sich ableiten, dass die Angehörigen unabhängig von der Art der psychi-schen Krankheit im Wesentlichen die gleichen Belastungen zu bewältigen haben, ein Ergebnis, zu dem auch Meike Wiese et al. kommen (vgl. Wiese et al. 2008: 228). Interes-sant ist, dass der Themenkomplex Schuld, Scham und Stigma nicht nur bei Schizophre-nie vorkommt, die ja, wie in der Literatur beschrieben, eine besonders stigmatisierende Krankheit ist (siehe Kapitel 2.3 und 2.4), sondern auch bei Depression.

Die vorliegende Forschungsarbeit zeigt weiters, dass aus den lang andauernden seeli-schen Spannungszuständen gesundheitliche Belastungsfolgen resultieren können, vor allem psychische Beeinträchtigungen werden genannt. Es ist besorgniserregend, dass sich die Hälfte der befragten Angehörigen bereits selbst in psychiatrische Behandlung begeben haben und Psychopharmaka einnehmen mussten. Das steht in Übereinstim-mung mit der Literatur, in der berichtet wird, dass Angehörige psychisch Kranker selbst ein hohes Risiko für psychische Störungen, vor allem für Depressionen haben, die Schät-zungen belaufen sich auf 20 – 50% (vgl. Ampalam et al. 2012, Chai et al. 2018).

Zu den häufigsten Problemen, mit denen Angehörige psychisch Erkrankter konfrontiert sind, gehören soziale Belastungen. Die InterviewpartnerInnen beklagen, dass es aus Zeitmangel, aus Rücksichtnahme auf die Kranke/den Kranken und aus Frustration, wenn das Umfeld mit Unverständnis und Stigmatisierung reagiert, zu Einschränkungen in den sozialen Beziehungen kommt — bis hin zur völligen sozialen Isolation. Auch in der Litera-tur wird davon gesprochen, dass es durch die psychische Krankheit zu einer Reduktion des sozialen Netzwerks der Angehörigen kommt. Adam Gater et al. führen als Gründe für die Reduktion sozialer Kontakte an, dass Angehörige das Gefühl haben, zu Hause beim Kranken/bei der Kranken bleiben zu müssen, und dass sie sich scheuen Besuche zu empfangen, weil sie sich für das krankheitsbedingte Verhalten der MitbewohnerInnen schämen (vgl. Gater et al. 2014). Beide Ursachen wurden auch von InterviewpartnerIn-nen der vorliegenden Arbeit genannt.

Als besonders schwere soziale Belastung wird empfunden, wenn den Angehörigen na-hestehenden Personen, wie beispielsweise die eigenen Eltern, auf die psychische

Er-krankung des Familienmitglieds mit Unverständnis reagieren und sich verletzend und stigmatisierend verhalten. Als Folge der Ablehnung schildert eine Interviewpartnerin, dass sie sich von den Eltern zurückgezogen und isoliert habe. Das zeigt, dass — wie im Theo-rieteil (siehe Kapitel 2.3) beschrieben — psychische Krankheiten noch immer mit Vorur-teilen und Stigmata behaftet sind. Auch Jeannette Bischkopf beschreibt sehr anschaulich, wie stigmatisierende Erfahrungen zu sozialer Isolation und Einsamkeit führen (vgl.

Bischkopf 2015: 66).

Es ist daher verständlich, wenn Angehörige aus Angst vor Vorurteilen und Abwertungen nicht über die psychische Beeinträchtigung ihres Familienmitgliedes sprechen wollen.

Mehrere InterviewpartnerInnen haben daher zu Krankheitsbeginn vermieden, mit Freun-den und Bekannten über die psychische Krankheit zu sprechen. Im Laufe der Zeit änder-ten sie jedoch ihre Einstellung und trauänder-ten sich, offener über die Erkrankung zu sprechen.

Interessant ist, dass sie damit im Großen und Ganzen gute Erfahrungen machten, somit konnten sie das Reden über die Krankheit als Entlastung nutzen. Vorsichtig kann man interpretieren, dass sich die Gesellschaft langsam zu wandeln beginnt und psychischen Krankheiten nicht mehr nur ablehnend gegenübertritt. Möglicherweise tragen Antistig-makampagnen und Aufklärung in Medien und Schulen langsam doch Früchte.

Die Analyse der Interviews zeigt deutlich, dass die psychische Erkrankung mit schweren Stressbelastungen in psychischer, körperlicher und sozialer Hinsicht für die Angehörigen einhergeht. Die psychische Erkrankung wird von allen Angehörigen als Stressor im Sinne des Stressmodells von Lazarus (siehe Kapitel 2.5.2) betrachtet (primärer Bewertungspro-zess). Angesichts der Belastungen entwickelten alle interviewten Angehörige unter-schiedliche Bewältigungsstrategien, um mit der Bedrohung umzugehen. Somit konnten sie die Belastungen als handhabbar erleben (sekundärer Bewertungsprozess).

Alle InterviewteilnehmerInnen beschreiben sowohl problemorientierte Bewältigungsstra-tegien, die vor allem am Anfang eingesetzt werden, als auch emotionsorientierte, die ins-besondere dann eingesetzt werden, wenn die persönliche Grenze der Belastung erreicht wird, und, meist nach einiger Zeit im Leben mit den Kranken, kognitive Strategien, die einen längerfristigen Entwicklungsprozess darstellen (siehe Kapitel 2.6).

In gesamten Prozess der Bewältigung spielt neben der Verfügbarkeit von persönlichen, vor allem die Verfügbarkeit sozialer Ressourcen eine große Rolle. Die Angehörigen in der vorliegenden Arbeit bezeichnen das soziale Netzwerk als zentralen und bedeutsamen Entlastungsfaktor, weil es wichtige Unterstützungsleistungen liefert, und bestätigen damit die Bedeutung der sozialen Unterstützung auf mehreren Ebenen, wie in Kapitel 2.10 dar-gestellt wird. Auch die Klinische Sozialarbeit sieht es als eine ihrer zentralen Aufgaben an, das soziale Netzwerk ihrer KlientInnen zu (re)aktivieren oder aber, wenn nötig, zu entwickeln (siehe Kapitel 2.10.4).

Die Bedeutung des sozialen Netzwerks zeigt sich gerade in akuten Krisensituationen, wenn es zum Beispiel zu einem plötzlichen Klinikaufenthalt eines Elternteils kommt oder zu einem psychotischen Schub. Dann war für die InterviewteilnehmerInnen sofortige praktisch-instrumentelle Unterstützung, meist durch Verwandte, unabdingbar und sehr entlastend. Auch emotionaler Support durch entlastende Gespräche und entspannende Aktivitäten mit FreundInnen sind für die Angehörigen offensichtlich sehr wichtig, um die innere Balance aufrechtzuerhalten. Auch Garry Stevens et al. weisen darauf hin, dass der sozialen Unterstützung eine besondere Bedeutung als Schutzfaktor gegen Langzeitstress zukommt (vgl. Stevens et al. 2013 ).

Umgekehrt wird es als sehr schmerzhaft empfunden, wenn die soziale Unterstützung ausbleibt. Eine Interviewpartnerin beklagt die fehlende Unterstützung von Seiten ihrer Verwandten und empfindet große Enttäuschung. Das deckt sich mit der Literatur, auch Alejandra Caqueo-Urízar et al. und Gater et al. kommen in ihren Reviews zur Auffassung, dass Menschen, die auf kein soziales Netz zurückgreifen können, einen höheren Grad an Belastung erleben (vgl. Caqueo-Urízar et al. 2014, Gater et al. 2014).

In den Interviews zeigt sich, dass, neben der Inanspruchnahme von sozialer Unterstüt-zung, auch das Aneignen von krankheitsbezogenen Wissen einen hohen Stellenwert hat und der Entwicklung von Selbstwirksamkeit dient. Sich aktiv mit der Krankheit auseinan-dersetzen, sich zu informieren und Wissen anzueignen, gibt Sicherheit im Umgang mit den Kranken. Alle sechs InterviewpartnerInnen geben an, dass Wissen über die Krank-heit ihnen geholfen habe, diese als weniger bedrohlich einzuschätzen, und verdeutlichen damit, wie wichtig es ist, dass Angehörige mit Professionisten zeitnah Informationsge-spräche führen. Auch Bischkopf betont, dass Angehörige am Beginn zwei Dinge tun müssen: „Erstens erkennen, dass man Informationen braucht, und zweitens relevantes Wissen zusammentragen, das einem im konkreten Alltag hilft.“ (Bischkopf 2015: 10) Als die Quelle schlechthin für krankheits- und praxisrelevantes Wissen bezeichnen die InterviewteilnehmerInnen die lokale Selbsthilfegruppe für Angehörige psychisch Kranker.

Dass Selbsthilfegruppen — auf verschiedenen Ebenen — ausgesprochen hilfreich sind, zeigt sich daran, dass zahlreiche Ratgeber für Angehörige Selbsthilfegruppen ausdrück-lich empfehlen (siehe etwa Bischkopf 2015: 164, Scherer/Lampert 2017: 47, Straub/Möhrmann 2015: 15).

Am Beginn der Krankheit versuchten die befragten Angehörigen alles zu tun, damit es dem/der Kranken wieder gut geht. Sie passten den Familienalltag der Krankheit an, übten Rücksicht und ordneten ihre Bedürfnisse den Bedürfnissen des/der Kranken unter — bis sie an der Grenze ihrer Belastungsfähigkeit angekommen waren. Dass Bewältigen ein Prozess ist, sieht man daran, dass nach dieser ersten Phase der Aufopferung für die/den Kranke/n eine Phase der Selbstreflexion einsetzt. In diesem Prozess werden die Angehö-rigen sich ihrer eigenen Befindlichkeit bewusst. Sie erkennen, dass sie auch auf sich selbst schauen müssen, und beginnen Grenzen zu setzen. Mit dieser Strategie schaffen sich die Angehörigen einen persönlichen Freiraum und erreichen damit eine emotionale Entlastung.

So ein persönlicher Freiraum kann die eigene Berufstätigkeit sein, die von der Mehrheit der InterviewteilnehmerInnen als positives Gegengewicht zum belastenden Alltag gese-hen wird. Auch Laurent Boyer et al. finden in ihrer Studie einen positiven Zusammenhang zwischen Berufstätigkeit der Angehörigen und Lebensqualität (vgl. Boyer et al. 2012). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch Caqueo-Urízar et al., die Berufstätigkeit und Aktivitäten außer Haus als Schutzfaktor für die psychische Gesundheit bezeichnen (vgl.

Caqueo-Urízar et al. 2014). Bemerkenswert ist, dass das nicht für alle Angehörigen gilt:

Ein Interviewteilnehmer bezeichnet seine Berufstätigkeit explizit als großen Belastungs-faktor. Dass Berufstätigkeit sowohl als Ressource als auch als Belastungsfaktor erlebt werden kann, thematisiert Bischkopf (vgl. Bischkopf 2015: 59).

Dadurch, dass Angehörige lernen, auch für sich selber bestmöglich zu sorgen, tragen sie im Sinne von Recovery (siehe Kapitel 2.7.3) dazu bei, wieder eine neue Lebensqualität zu erlangen.

Für die langfristige Belastungsbewältigung spielen, neben den erwähnten problem- und emotionsorientierten Bewältigungsmechanismen, besonders kognitive Prozesse eine ent-scheidende Rolle. Mit zunehmenden Erfahrungen und zunehmender Bewältigungskom-petenz kommt es zu einer Neubewertung der Krankheit (reappraisal nach Lazarus, siehe Kapitel 2.5.2). Nachdem das Leben mit dem/der Kranken als handhabbar wahrgenom-men worden war, konnten die InterviewteilnehmerInnen die Krankheit akzeptieren und ins Leben integrieren. Überraschenderweise haben fast alle (fünf von sechs) Interviewteil-nehmerInnen eine positive, zuversichtliche und gelassene Haltung entwickelt. Vier der Interviewten heben sogar hervor, dass sie durch die psychische Erkrankung des Famili-enmitglieds einen persönlichen Reifeprozess durchgemacht haben. Das Leben wird mit anderen Augen gesehen, andere Werte (wie Dankbarkeit, Zufriedenheit mit kleinen Din-gen, etc.) werden wichtig, die gesamte Lebenseinstellung hat sich zum Positiven verän-dert. Über die Erfahrung persönlichen Wachstums berichten auch Gater et al. in ihrer qualitativen Studie über das Belastungserleben von Angehörigen Schizophrenieerkrank-ter (vgl. GaSchizophrenieerkrank-ter et al. 2014).

Zwei der Angehörigen der vorliegenden Arbeit erkennen auch positive Aspekte an der Krankheit und deuten sie als sinnhafte Lebenserfahrung. Hier zeigt sich, dass diese An-gehörigen ein Kohärenzgefühl im Sinne Antonovskys (siehe Kapitel 2.8.2) entwickelt ha-ben: Die Krankheit wurde verstehbar (durch vermehrtes Wissen), handhabbar (durch Bewältigungsstrategien und vorhandene Ressourcen) und sinnhaft bzw. bedeutsam.

Um den Unterstützungsbedarf der Angehörigen umfassend zu beleuchten, wurden die InterviewteilnehmerInnen gefragt, wie sie den Kontakt bzw. die Unterstützung durch Pro-fessionisten wahrgenommen haben. Alle Angehörigen, bis auf die befragte Schwester einer psychisch Erkrankten, kamen mit professioneller Hilfe in Kontakt. Das waren in ers-ter Linie ÄrztInnen, nur spärlichen Kontakt gab es mit Sozialarbeiers-terInnen. Es werden sowohl negative als auch positive Erlebnisse mit Professionisten geschildert, insgesamt wird jedoch viel Kritik geübt, vor allem an den KlinikärztInnen. Die Angehörigen empfin-den es als große Belastung, dass sie während des Klinikaufenthaltes der Erkrankten kaum die Möglichkeit gehabt haben, mit ÄrztInnen ins Gespräch zu kommen. Sie werfen den ÄrztInnen vor, nicht oder unzureichend informiert worden zu sein, zum Teil nicht einmal die Diagnose erfahren zu haben. Das deckt sich mit der Literatur, beispielsweise schildert in ‚Freispruch der Familie‘ ein Angehöriger: „Die Information, die wir bekommen haben, war meines Erachtens ungenügend, mehr als ungenügend. Selbst wenn man fragte, hatte man ausweichende Antworten bekommen.“ (Koenning 2014: 30) Auch in der Untersuchung von Tamizi et al. beklagen die Angehörigen, dass sie kaum Informationen über die Diagnose und Behandlungsmethode erhalten haben und keinerlei Anleitung, wie mit den Symptomen der Erkrankten umzugehen sei (vgl. Tamizi et al. 2020).

Gerade am Erkrankungsbeginn, wenn noch wenig Wissen über psychische Krankheiten vorhanden ist, ist es besonders wichtig, ausführlich aufgeklärt und in die Behandlung mit-einbezogen zu werden. Es ist verständlich, dass sich Angehörige im Stich gelassen füh-len, wenn keinerlei Kommunikation zwischen Angehörigen und ÄrztInnen stattfindet. Der Grund mag unter anderem darin liegen, dass im Klinikbetrieb zu wenige zeitliche und personelle Ressourcen vorhanden sind, um die Angehörigen mit einzubeziehen oder gar

eine qualitativ ausreichende Betreuung auch für Angehörige zu gewährleisten. Diese An-sicht äußert auch eine Interviewpartnerin.

Während an KlinikärztInnen außerdem mehrfach eine herablassende oder desinteressier-te Haltung kritisiert wird, sind die Erfahrungen mit niedergelassenen FachärztInnen mehrheitlich sehr positiv. Die InterviewteilnehmerInnen schätzen besonders eine vertrau-ensvolle, partnerschaftliche Beziehung und das große Engagement des Arztes bzw. der Ärztin. Es ist nachvollziehbar, dass positive Erfahrungen eher mit niedergelassenen Ärz-tInnen erlebt werden, weil diese ja von den PatienÄrz-tInnen frei gewählt werden können, was in der Klinik im Allgemeinen nicht möglich ist.

Was die Erfahrungen mit SozialarbeiterInnen in der Klinik betrifft, so wird überhaupt nur von einer Interviewpartnerin von einem Gespräch mit dieser Berufsgruppe berichtet — und dieses kam erst mit viel Mühe und Aufwand seitens dieser Angehörigen zustande.

Alle anderen befragten Angehörigen hatten keinen Kontakt zu SozialarbeiterInnen in der Klinik. Zwei InterviewteilnehmerInnen kritisieren, dass sich die SozialarbeiterInnen im Krankenhaus nicht um die Angehörigen kümmern, obwohl diese große Informationsdefizi-te im Hinblick auf mögliche praktische und finanzielle Hilfe- und UnInformationsdefizi-terstützungsleistungen haben. Es scheint, dass in der Klinik psychosoziale Angehörigenbegleitung durch (klini-sche) SozialarbeiterInnen eher vernachlässigt wird. Auch in der Literatur sind dazu kaum

Alle anderen befragten Angehörigen hatten keinen Kontakt zu SozialarbeiterInnen in der Klinik. Zwei InterviewteilnehmerInnen kritisieren, dass sich die SozialarbeiterInnen im Krankenhaus nicht um die Angehörigen kümmern, obwohl diese große Informationsdefizi-te im Hinblick auf mögliche praktische und finanzielle Hilfe- und UnInformationsdefizi-terstützungsleistungen haben. Es scheint, dass in der Klinik psychosoziale Angehörigenbegleitung durch (klini-sche) SozialarbeiterInnen eher vernachlässigt wird. Auch in der Literatur sind dazu kaum