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1.1. Ausgangslage

Mit der Psychiatriereform in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts und dem damit einhergehenden Aufbau gemeindenaher Psychiatrie hat sich die Rolle der Angehörigen in der psychiatrischen Versorgung stark verändert. Es werden heute die meisten Patien-tInnen nach relativ kurzem Klinikaufenthalt wieder nach Hause zurück zu ihren Familien entlassen, womit die Bedeutung der Familie für die Betreuung erheblich zugenommen hat. Heute wird die Mehrzahl der chronisch psychisch Kranken von ihren Angehörigen betreut (vgl. Kardorff et al. 2016).

Eine psychische Erkrankung betrifft somit nicht nur die PatientInnen, sondern immer auch ihre Angehörigen. Sie bedeutet eine große Herausforderung und Belastung für die ganze Familie. Familienangehörige sind oft verzweifelt, fühlen sich überfordert und alleine ge-lassen und stoßen an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit. So manche Angehörige leisten die Betreuungsarbeit — anders als professionell in der Psychiatrie Tätige — 24 Stunden täglich und 365 Tage im Jahr, ohne Supervision und ohne Bezahlung (vgl.

Koenning 2014: 33).

Die Angehörigen spielen eine wichtige Rolle für psychisch Kranke, denn sie stellen ein wichtiges Bezugssystem für die Erkrankten dar und leisten somit einen wertvollen Beitrag im Genesungsprozess. Jungbauer et al. sprechen davon, „dass kein noch so gutes pro-fessionelles Unterstützungsangebot die natürlichen sozialen Einbindungen in Familie und Partnerschaft ersetzen kann.“ (Jungbauer et al. 2001) Aber nur Angehörige, denen es selbst physisch und psychisch gut geht, können für die Betroffenen Hilfe und Unterstüt-zung sein.

Familienangehörige tragen viel Verantwortung. Sie übernehmen viele Aufgaben der All-tagsbegleitung und Versorgung, aber auch der Krisenintervention. Familien leisten oft Unglaubliches. Sie helfen den Erkrankten, soziale Beziehungen zu haben, Selbstvertrau-en zu gewinnSelbstvertrau-en und motivierSelbstvertrau-en zu produktivSelbstvertrau-en TätigkeitSelbstvertrau-en (vgl. Pauls 2013: 340). Sie strukturieren den Alltag und übernehmen häufig die Begleitung oder Vertretung in rechtli-chen und finanziellen Angelegenheiten. Die Herkunftsfamilie stellt den wichtigsten, oft auch einzigen, Sozialkontakt für die Kranken dar (vgl. Jungbauer et al. 2002).

Die Rolle der Angehörigen, die in ihrer Familie mit einer psychischen Erkrankung konfron-tiert sind, ist extrem kräfteraubend und belastend. Das gesamte Familiensystem ist lang-fristig und schwerwiegend betroffen. Die Belastungen betreffen zahlreiche Lebensberei-che: Störung des Familienalltags, Umgang mit schwierigen Verhaltensweisen des/der Kranken, Veränderung der Partner- bzw. Eltern-Kind-Beziehung sowie finanzielle Beein-trächtigungen. Angehörige leiden unter Sorgen, Ängsten und Erschöpfung und sind anfäl-lig, selbst an einer Depression zu erkranken. Oft kommt es zu Scham, Schuldgefühlen und letztendlich zu sozialem Rückzug, der bis zur völligen Isolierung der ganzen Familie führen kann. Diese inhärenten Tendenzen werden durch das hohe Risiko der Stigmatisie-rung seitens des sozialen Umfelds noch verstärkt (vgl. Pauls 2013: 340).

Damit Angehörige diese Situation bewältigen können und nicht selbst krank werden, müssen passende Unterstützungsangebote für alle Familienmitglieder, nicht nur für die Erkrankten, verfügbar sein — dies ist eine wesentliche Aufgabe der sozialpsychiatrisch Tätigen, insbesondere auch der Klinischen Sozialarbeit. Gerade Klinische Sozialarbeite-rInnen haben ihren Fokus auf person in environment (Person in der Situation), das heißt,

dass auch die Angehörigen bzw. das soziale Umfeld der Erkrankten mitbedacht und mit-betreut werden sollen. Ziele dieser psychosozialen Angehörigenarbeit sind, die betroffe-nen Familien bei der Bewältigung ihrer vielfältigen und erheblichen Sorgen und Probleme zu begleiten und zu entlasten. Angehörige können von Angeboten wie Beratung, Psychoedukation, Erlernen von Coping-Strategien oder Angehörigenrunden profitieren (vgl. Pauls 2013: 342).

Besonders die Klinische Sozialarbeit ist mit ihrer Alltags- und Lebensweltorientierung dafür geeignet, Probleme und Belastungen, die im Alltag auftreten, zu bearbeiten und bedürfnisdeckende Unterstützungsarbeit zu leisten.

1.2. Innovationswert, Ziele und Forschungsfragen

Es gibt bereits zahlreiche Forschungsarbeiten, die sich mit Angehörigen psychisch Er-krankter und deren Belastungen auseinandersetzen, sogenannte caregiver burden stu-dies. Allerdings sind sie mehrheitlich quantitativ, wodurch eine Standardisierung und da-mit auch Simplifizierung gegeben ist. Die Möglichkeiten, subjektive Bedeutungen zu er-fassen, sind dadurch stark eingeschränkt, genau diese aber machen die Lebenswirklich-keit der betroffenen Angehörigen aus (vgl. Jungbauer et al. 2001). Um diese subjektiven Bedeutungen zu erfassen, eignen sich qualitative, sinnverstehende Verfahren besonders gut. In der vorliegenden Arbeit soll, unter Zuhilfenahme von qualitativen Erhebungs- und Auswertemethoden der Sozialforschung, die Lebenssituation von Angehörigen psychisch Erkrankter erforscht werden.

Dabei sollen die Belastungen und der Hilfebedarf im Kontext der Klinischen Sozialarbeit betrachtet werden, was bisher in der Forschung weitgehend unbeachtet geblieben ist — der überwiegende Teil der Publikationen wurde aus der Sicht von PsychiaterInnen und PsychologInnen verfasst.

Es ist notwendig, dass Angehörige jene Unterstützungen und Hilfen bekommen, die sie benötigen, damit ihre Lebensqualität aufrechterhalten oder sogar verbessert werden kann und gesundheitliche Beeinträchtigungen vermieden werden. Interventionen für Angehöri-ge wirken sich nicht nur positiv auf die Familie aus, sondern brinAngehöri-gen auch positive Effekte für die Erkrankten. Das Rückfallrisiko verringert sich, ein positiver Krankheitsverlauf und Reintegration in die Gesellschaft werden gefördert (vgl. Bening/Schläppi 2016: 8, Scherer/Lampert 2017: 44).

Um effizient und passgenau helfen zu können, ist es unabdingbar, dass die Mitarbeite-rInnen stationärer oder ambulanter sozialpsychiatrischer Dienste die konkreten Probleme Angehöriger psychisch Erkrankter kennen.

Das Ziel dieser Masterarbeit ist es daher, die Belastungen aufzuzeigen und den Hilfe-bedarf zu erkunden, der notwendig ist, um das Leid der Angehörigen zu verringern und ihre Situation zu verbessern. Aus den Ergebnissen sollten sich Ansatzpunkte hinsichtlich einer Verbesserung in der sozialpsychiatrischen Versorgung bzw. Anregungen für die praktische Klinische Sozialarbeit ergeben, wobei es nicht unbedingt darum geht, völlig neue Konzepte zu entwickeln, sondern vorhandene Hilfemöglichkeiten passgenau zu gestalten und zu verbessern. Deshalb ist es auch wichtig zu wissen, welche persönlichen Bewältigungsstrategien die Angehörigen bereits haben, weil die Unterstützungsarbeit durch Klinische SozialarbeiterInnen nicht defizitorientiert ist, sondern ressourcen- und stärkenorientiert.

In dieser Arbeit werden Angehörige Erkrankter mit zwei der wichtigsten psychiatrischen Diagnosen befragt: Depression und Schizophrenie. Die Einschränkung auf diese beiden Krankheitsbilder erfolgte, um nicht ein allzu divergierendes Bild von Einzelfällen zu erhal-ten, in dem sich keine gemeinsame Struktur mehr zeigt, aber dennoch herauszuarbeierhal-ten, welche individuellen als auch krankheitsübergreifenden gemeinsamen Belastungen es gibt.

Folgende Forschungsfragen sollen beantwortet werden:

1. Welche Belastungen haben Angehörige psychisch erkrankter Menschen?

2. Was tun Angehörige, um sich zu entlasten, welche Bewältigungsstrategien haben Sie und auf welche Ressourcen greifen sie zurück?

3. Welche positiven und negativen Erfahrungen haben Angehörige psychisch er-krankter Menschen mit dem professionellen Unterstützungssystem, und was sind ihre Bedürfnisse und Wünsche?

Zur Beantwortung dieser Forschungsfragen werden qualitative Interviews mit Angehöri-gen psychisch Erkrankter durchgeführt und analysiert.

1.3. Aufbau der Masterarbeit

Diese Arbeit gliedert sich in einen Theorieteil und einen empirischen Teil.

Im Theorieteil werden relevante Themen skizziert, die dazu beitragen, die herausfordern-de Lebenssituation herausfordern-der Angehörigen zu verstehen. Zu Beginn wird ein Einblick in die Krankheitsbilder von Depression und Schizophrenie gegeben. Danach folgen mit den Themen Stigma und Familien-Schuld-Theorie typische historisch gewachsene Problema-tiken, mit denen Angehörige heute noch zu kämpfen haben. Die anschließende theoreti-sche Auseinandersetzung mit Belastungs- und Bewältigungskonzepten hilft zu verstehen, wie Menschen generell mit Krisen und belastenden Situationen umgehen. In der Folge werden für die Angehörigenarbeit wichtige Grundlagen und Konzepte der Klinischen So-zialarbeit vorgestellt: Resilienz und Recovery, das biopsychosoziale Modell sowie Social Support.

Im empirischen Teil wird zuerst das methodische Vorgehen, um die Forschungsfragen zu beantworten, begründet und beschrieben: Prinzipien der qualitativen Forschung sowie die genaue Art der Datenerhebung und Datenauswertung. Im Anschluss werden die For-schungsergebnisse mit zahlreichen Originalzitaten strukturiert präsentiert. In der Diskus-sion erfolgt eine Verknüpfung der wichtigsten Ergebnisse mit der Theorie und der aktuel-len Literatur. Darauf folgen Schlussfolgerungen und Anregungen für die klinisch-sozialarbeiterische Praxis. Den Abschluss bilden Stärken und Limitationen dieser Arbeit sowie eine Forschungsempfehlung.

2. Theoretischer Teil