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2. T HEORETISCHER T EIL

2.5. Belastungskonzepte

Am Beginn der psychiatrischen Forschung interessierte man sich nur dafür, wie sich die Familie und das soziale Umfeld auf den Erkrankten oder die Erkrankte auswirkt — das familiäre System wurde ja als ursächlich für die Krankheit vermutet. In den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts begann man sich auch für die umgekehrte Wirkungsrichtung zu interessieren — wie sich eine psychische Erkrankung auf die Angehörigen auswirkt (vgl.

Jungbauer et al. 2001).

2.5.1. Objektive und subjektive Belastungsfaktoren

Das erste Belastungskonzept wurde von J. Hoenig und Marian Hamilton entworfen. Sie differenzierten objektive und subjektive Belastungsfaktoren. Objektive Belastungen sind

— unabhängig von der Einzelperson — alle beobachtbaren negativen Auswirkungen der psychischen Krankheit, wie zum Beispiel Verhaltensauffälligkeiten, notwendiger Betreu-ungsaufwand, Beeinträchtigungen des Familienlebens oder zusätzliche Kosten. Subjekti-ve Belastungen jedoch beziehen sich auf das Ausmaß, in dem sich die einzelnen Ange-hörigen dadurch tatsächlich beeinträchtigt und belastet fühlen (vgl. Hoenig/Hamilton 1966 zit.n. Jungbauer et al. 2001).

In einer Befragung stellten Hoenig und Hamilton fest, dass zwar 81% der Familien objek-tive Belastungen aufwiesen, sich subjektiv aber nur 11% schwer belastet und 60% mittel-stark belastet fühlten. Immerhin 29% gaben an, sich gar nicht belastet zu fühlen (vgl.

Hoenig/Hamilton1966 zit.n. Jungbauer et al. 2001).

Samuel Noh und R. Jay Turner beschreiben, dass nur die subjektiven Belastungen, nicht aber die objektiven, für das psychische Wohlbefinden der Angehörigen ausschlaggebend sind. Das heißt, objektive Belastungsfaktoren sind nur dann relevant, wenn sie überhaupt als Belastung oder Einschränkung wahrgenommen werden (vgl. Noh/Turner 1987).

Das klassische Belastungskonzept mit der Einteilung in objektive und subjektive Belas-tungsfaktoren wird auch heute noch verwendet, jedoch setzen sich zunehmend

differen-ziertere Modelle — die sogenannten stresstheoretischen Modelle — durch, um das Be-lastungserleben und die Belastungsbewältigung der Angehörigen zu erforschen (vgl.

Jungbauer et al. 2001).

2.5.2. Stresstheoretische Modelle

Im Zentrum dieser Modelle steht dabei zumeist das kognitiv-transaktionale Stressmodell von Richard Lazarus und Susan Folkman. In Anlehnung an dieses Konzept können krankheitsbedingte Symptome und krankheitsbedingtes Verhalten der PatientInnen als Stressoren betrachtet werden, die bei Angehörigen zu psychischen, physischen und so-zialen Stressreaktionen führen können. Ob Stress empfunden wird, ist abhängig von kognitiven und gefühlsmäßigen Prozessen, in denen es zu bewertenden Gedanken kommt (vgl. Jungbauer 2002: 51).

Lazarus und Folkman gehen von einer komplexen Wechselbeziehung zwischen einer belastenden Situation und den kognitiv-emotionalen Prozessen der handelnden Person aus.

„Psychological stress is a particular relationship between the person and the environment that is appraised by the person as taxing or exceeding his or her resources and endangering his or her well-being.” (Lazarus/Folkman 1984:

19)

Wird eine Situation von einer Person als Gefährdung des Wohlbefindens bewertet, weil sie als schwierig wahrgenommen wird bzw. keine ausreichenden Ressourcen für die Be-wältigung zur Verfügung stehen, dann sprechen Lazarus und Folkman von Stress oder Belastung. Sie gehen davon aus, dass nicht die objektive Situation für eine Stressreakti-on ausschlaggebend ist, sStressreakti-ondern die subjektive Bewertung, ob die SituatiStressreakti-on bewältigt werden kann oder nicht. Menschen sind für Stressoren unterschiedlich anfällig. Was für die eine Person ein Stressor ist, ist für die andere (noch) keiner. Das Bewältigungsmodell von Lazarus und Folkman ist transaktional, weil zwischen Stressor und Stressreaktion ein Bewertungsprozess dazwischengeschaltet ist (vgl. Lazarus/Folkman 1984: 51 ff.).

Verglichen mit dem Modell der objektiven und subjektiven Belastungsfaktoren enthält dieses Modell also zusätzlich den kognitiv-emotionalen Bewertungsprozess unter Einbe-zug der persönlichen und sozialen Ressourcen. Lazarus und Folkman unterscheiden zwischen zwei Bewertungsprozessen in Folge und einem dritten Bewertungsschritt, der nach einer gewissen Zeit folgen kann.

Primärer Bewertungsprozess (primary appraisal)

Der erste Bewertungsschritt ist eine Beurteilung der Situation anhand deren Schädi-gungs- oder Bedrohungspotentials. Jede Situation kann als positiv, stressend/belastend oder irrelevant eingeschätzt werden. Stressende Situationen können wiederum als schä-digend, bedrohend oder herausfordernd angesehen werden. Schädigung bzw. Verlust bezieht sich auf bereits eingetretene psychische, physische oder soziale Beeinträchti-gungen oder einen Verlust, wie zum Beispiel ein Selbstmord eines Angehörigen. Bedro-hung bezeichnet latente, noch nicht eingetretene Schädigungen. Herausforderungen sind Situationen, die die Möglichkeit einer positiven Bewältigung beinhalten (vgl.

Lazarus/Folkman 1984: 53).

Der primäre Bewertungsschritt bezieht sich demnach im Falle eines psychisch kranken Familienmitgliedes darauf, ob die Erkrankung als nicht stressend oder aber als Bedro-hung, Verlust oder Herausforderung empfunden wird. Anschließend folgt ein zweiter Be-wertungsschritt.

Sekundärer Bewertungsprozess (secondary appraisal)

Im sekundären Bewertungsprozess geht es um die Einschätzung, ob die belastende Si-tuation bzw. die erkrankungsbedingten Schwierigkeiten mit den eigenen Kompetenzen bzw. Ressourcen bewältigt werden können (vgl. Jungbauer et al. 2005: 20). Nur wenn die persönlichen bzw. sozialen Ressourcen als nicht ausreichend eingeschätzt werden, um die Situation zu meistern, entsteht eine Stressreaktion.

Ob also eine psychische Erkrankung von Angehörigen als Belastung wahrgenommen wird, hängt von individuellen Bewertungsprozessen und vorhandenen Bewältigungsstra-tegien ab. Erst wenn ein subjektives Missverhältnis zwischen den Anforderungen eines Ereignisses oder einer Situation und den verfügbaren Ressourcen zur Bewältigung be-steht, wird von einer tatsächlichen Belastung gesprochen.

Für die Bewertung der krankheitsbezogenen Belastungen scheint es weiters von Bedeu-tung zu sein, ob außer der psychischen Erkrankung noch weitere belastende Lebensum-stände vorliegen (z.B. Arbeitslosigkeit), die eine Kumulation von verschiedenen Stresso-ren bewirken (vgl. Jungbauer 2002: 51).

Tertiärer Bewertungsprozess (reappraisal)

Außer der primären und sekundären Bewertung einer Stress- oder Belastungssituation beschreiben Lazarus und Folkman noch einen tertiären Bewertungsschritt, das re-appraisal oder die Neubewertung, in dem die Ersteinschätzung überdacht und geändert werden kann. Damit schließt sich der Kreis des kognitiv-transaktionalen Bewältigungs-modells. In diesem dritten Schritt — der Neubewertung — wird die Situation anhand von veränderten Informationen neu bewertet bzw. der Erfolg der eingesetzten Bewältigungs-strategie beurteilt (vgl. Lazarus/Folkman 1984: 53).

Im Zusammenhang mit einer psychischen Krankheit kann man davon ausgehen, dass es durch die beständige Auseinandersetzung der Familie mit der Erkrankung unweigerlich zu adaptiven Veränderungsprozessen kommt, die zu einer Neubewertung führen (vgl.

Jungbauer 2002: 51).

Die Defizitorientierung der traditionellen Belastungskonzepte mit der Unterscheidung von objektiven und subjektiven Belastungsfaktoren weicht im stresstheoretischen Konzept einer komplexeren Sicht, in der Bewältigungspotentiale, Ressourcen und Entwicklungs-möglichkeiten in den Familien stärker berücksichtigt werden (vgl. Jungbauer et al. 2001).

2.5.3. Zusammenhänge zwischen Belastungen, Belastungserleben und Belas-tungsbewältigung

Ausgehend vom stresstheoretischen Konzept nach Lazarus beschreiben Samuel Noh und William Avison ein Modell für die Entstehung von Belastungen speziell bei Angehöri-gen von psychisch erkrankten Menschen. In diesem Modell werden neben krank-heitsspezifischen Symptomen auch psychosoziale Ressourcen und mögliche Risikofakto-ren, beispielsweise weitere belastende Lebensereignisse, berücksichtigt. Besonders

wichtig für das Belastungserleben und die Belastungsbewältigung der Angehörigen sind die generalisierte Selbstwirksamkeitserwartung sowie auch die erlebte soziale Unterstüt-zung. Das bedeutet, dass persönliche und soziale Ressourcen als Schutzfaktoren für das seelische Wohlbefinden der Angehörigen gesehen werden können (vgl. Noh/Avison 1988 zit.n. Jungbauer et al. 2005: 23 f.).

Diejenigen Angehörigen können besser mit der belastenden Situation umgehen, die gleichzeitig optimistisch sind, die schwierige Lebenssituation zu bewältigen, und über reichliche soziale Unterstützung verfügen. Dass soziale und personale Ressourcen für das Belastungserleben wichtig sind, wurde auch im internationalen Vergleich bestätigt:

Magliano et al. stellten in ihrer europaweiten Befragung Angehöriger fest, dass geringe soziale Unterstützung bzw. geringe Bewältigungskompetenz der Angehörigen mit hohem Belastungsgrad korrelierten (vgl. Magliano et al. 1998).

Eng verknüpft mit dem Belastungserleben sind die Expressed Emotions.

2.5.4. Bezug zur Expressed-Emotion-Forschung

Bei den Expressed Emotions (EE) geht es um die Emotionalität in den Familien der psy-chisch Erkrankten. Es wird unterschieden zwischen Angehörigen mit high Expressed Emotions und solchen mit low Expressed Emotions. Angehörige mit high EE zeigen ein emotionales Überengagement, oft auch Kritik und Feindseligkeit gegenüber ihrem kran-ken Familienmitglied (vgl. Jungbauer et al. 2001).

Im Gegensatz zu high EE-Familien, in denen ein angespanntes Familienklima herrscht, wird in low EE-Familien die/der Erkrankte so, wie sie/er ist, akzeptiert. Autonomie und Selbstständigkeit der erkrankten Person werden gefördert, Überforderung vermieden.

Aber nicht nur die erkrankte Person ist wichtig, sondern auch die Angehörigen mit ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen (vgl. Milles 2007: VI).

Am Beginn der EE-Forschung interessierte man sich für Angehörige nur hinsichtlich ihrer Rolle für den Verlauf der psychischen Erkrankung des/der Betroffenen. Es handelt sich dabei um eine patientInnenorientierte Perspektive, das heißt, es ging nur um die Auswir-kung des Familienklimas auf die PatientInnen — auf ihren Krankheitsverlauf und ihre Krankheitsprognose. Gesichert ist, dass die Art und Weise, wie die Angehörigen mit ih-rem erkrankten Familienmitglied umgehen, für den Krankheitsverlauf von großer Bedeu-tung ist. Eine stark ausgeprägte Emotionalität (high EE) der Angehörigen erhöht das Risi-ko von Krankheitsrückfällen (vgl. Jungbauer et al. 2001).

In der angehörigenzentrierten Perspektive befasst man sich umgekehrt mit den Auswir-kungen der psychischen Erkrankung auf die Familie. Durch die Angehörigenforschung weiß man, dass high EE in einer Familie auch Folge der psychischen Krankheit und da-mit ein Indikator für ein sehr belastetes Familienklima sein kann. Angehörige da-mit einem hohen Grad an emotionalem Engagement erleben oft gleichzeitig besonders starke Be-lastungen. Belastungserleben und EE können somit als zwei Seiten derselben Medaille gesehen werden (vgl. Jungbauer et al. 2001).

Christine Barrowclough und Michael Parle fanden im Rahmen ihrer Angehörigenstudie heraus, dass Expressed Emotions eng mit Stresserleben und Bewertungsprozessen zu-sammenhängen. Diejenigen Angehörigen, die sich durch die psychische Erkrankung am meisten belastet fühlten und ihre Einflussmöglichkeiten besonders pessimistisch ein-schätzten, zeigten mit hoher Wahrscheinlichkeit überprotektives, kritisches oder feindse-liges Verhalten (vgl. Barrowclough/Parle 1997).