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4. F ORSCHUNGSERGEBNISSE

4.2. Bewältigungsstrategien

4.2.2. Emotionsorientierte Bewältigungsstrategien

Diese Strategien der Bewältigung dienen der Regulierung der durch die Belastungen aufgekommenen Emotionen. Sie zielen darauf ab, Spannungszustände abzubauen bzw.

positiv zu beeinflussen.

Erholung und Zeit für sich

Positive Gegengewichte zu den alltäglichen Belastungen können, je nach Interesse, auf verschiedenste Weise gesammelt werden. Ein Hobby zu pflegen ist für viele ein guter

Ausgleich. Das kann in einem Fall Lesen und Yoga sein, im anderen Fall die Bewegung in der Natur oder auch Handarbeit:

„Ich lese sehr viel, alles Mögliche. Da kann ich mich sehr entspannen — oder häkeln.“ (T1: 827)

„Ich liebe Musik. Wenn ich alleine daheim bin, geht den ganzen Tag der Ra-dio. […] Die paar Tage, auf der Musikantenreise, […] da lebe ich auf. Das ist einfach mein Leben, die Musik.“ (T3: 868, 857-858)

„Das, was am hilfreichsten ist, […] ist, dass ich mit dem Radl in die Arbeit fah-re. Das merke ich, gibt sehr viel. […] Dass ich mich diese knappe Stunde so richtig auspowern kann und dass das einfach eine Entlastung oder ein Aus-gleich ist, oder einfach so eine Stunde für mich.“ (T2: 495-498)

Eine Interviewpartnerin berichtet, dass sie sich immer wieder Zeit für sich selbst reserviert hat und diese kleine Freude als Ritual bewusst in ihren Alltag eingebaut hat:

„Ich bin ja früher irrsinnig gern zum Interspar einkaufen gegangen in […], den habe ich geliebt. Und nachher bin ich meinen Kaffee trinken gegangen und habe meine zwei Zigaretten geraucht, und dann bin ich heimgefahren. […] Ja, das war ein Ritual. Aber das hat mir getaugt.“ (T3: 913-919)

Sich emotional entlasten kann man auch, indem man Zeit mit FreundInnen verbringt, um Spaß zu haben und um von der Stresssituation zu Hause abgelenkt zu sein. So erzählt die Schwester einer Erkrankten:

„Und sonst, was ich schon vorher gesagt habe, dass ich oft nicht zu Hause war, bei Freunden war, mich einfach abgelenkt habe.“ (T4: 187-188)

Eine Interviewpartnerin beschreibt ihr soziales Netzwerk als wichtigsten Entlastungsfak-tor. Sie hat bereits seit dem Jugendalter Erfahrung mit psychischen Krankheiten, da schon die eigene Mutter betroffen war, und nun der Sohn. Die Zeit mit FreundInnen bildet da ein bedeutendes Gegengewicht:

„[Ich entlaste mich,] indem ich dann natürlich auch bewusst meinen Freun-deskreis pflege. Ich habe sehr lange dadurch, dass meine Mutter psychisch erkrankt war, immer sehr starke Außenkontakte gehabt. Das war immer so ein bisschen mein Leitfaden auch, wenn zu Hause dieser Wahn wieder gras-siert hat. Das war so ein bisschen dieser Neutralisationspunkt. […] Überhaupt war mir der Freundeskreis wichtig, immer, aus dem Grund heraus. Und das versuche ich, mit aller Kraft zu halten.“ (T5: 434-440)

Abreagieren als Entlastung

Emotionale Entlastung heißt auch, Emotionen herauszulassen und damit akute Span-nung abzubauen. Eine junge Erwachsene schildert schwierige Situationen mit der er-krankten Schwester, mit der sie Konflikte nicht so wie unter gesunden Geschwistern aus-tragen konnte:

„Wenn einfach so ein plötzlicher Emotionsausbruch auf Seiten meiner Schwester passiert ist und ich mich so zurückhalten habe müssen, dann sind mir oft die Tränen gekommen. Oder ich bin einfach in mein Zimmer gegangen und habe mal kurz meine Energie herausgelassen, aufs Bett geschlagen oder so etwas.“ (T4: 181-185)

Berufstätigkeit als Entlastung

Nicht nur Freizeitaktivitäten können entlastend sein, auch die berufliche Arbeit kann als wohltuender Ausgleich empfunden werden.

Für eine Mutter war in der Zeit der Daueranspannung wegen der Sorgen um den psycho-tischen, wohnungslosen Sohn die eigene Berufstätigkeit eine Ressource, jener Bereich, wo sie abschalten und für kurze Zeit nicht an die Krankheit denken musste:

“Durch die Arbeit war ich wieder abgelenkt. […] Ich habe total abschalten können, das war wichtig für mich. Nur zu Hause dann, zu Hause war es dann schlimmer, weil ich viel mehr nachgedacht habe.“ (T1: 349, 358-359)

Eine ähnliche Erfahrung schildert auch diese Ehefrau:

„Die Arbeit war schon, also nicht eine Entlastung, sondern ein Ausgleich. Hin-auskommen ein paar Stunden. […] Ich war für meinen Mann viel da, aber es war das Arbeiten gehen für mich schon toll. Es war wirklich ein Ausgleich.

Das war kein Stress jetzt für mich, für mich war das wirklich ein Ausgleich, ich konnte mich auf etwas anderes konzentrieren, etwas anderes tun,“ (T3: 747-752)

Eine andere Mutter schafft sich mit ihrer Berufstätigkeit ganz bewusst einen Rückzugsort bzw. eine Auszeit von der Krankheit. Im beruflichen Umfeld spricht sie nicht über die Krankheit ihrer Tochter, obwohl sie sonst sehr offen damit umgeht. Die Krankheit soll nicht das ganze Leben einnehmen:

„Ich habe einen super Beruf, mir geht es beim Arbeiten sehr gut. […] Ich mag meinen Beruf sehr, und ich rede nicht darüber [über die Krankheit]. Also mit meinen Freunden rede ich darüber, aber in meinem Beruf rede ich nicht dar-über. Das ist irgendwie meine Welt, […] mein Rückzug! […] Weil ich will nicht darüber ständig reden.“ (T6: 460-461, 475-476, 485, 497)

Entlastung durch Gespräche

Das soziale Netzwerk wurde von allen InterviewpartnerInnen als wichtigster Bereich zur Entlastung genannt. Es erfüllt gleichzeitig mehrere Funktionen: Es kann einerseits all-tagspraktische Hilfeleistung bereitstellen, wie in Kapitel 4.2.1 (Abschnitt ‚praktische sozia-le Unterstützung‘) beschrieben, andererseits kann mit FreundInnen Freizeit verbracht werden, was Erholung, Ablenkung und Spaß bedeutet (siehe Abschnitt ‚Erholung und Zeit für sich‘). Eine dritte, vielleicht die wichtigste Funktion ist, in entlastenden Gesprä-chen Zuwendung, Verständnis und Rückhalt zu erfahren.

Jede/r der InterviewpartnerInnen berichtet, jemanden zu haben, mit dem er/sie sich aus-sprechen kann. Das können FreundInnen oder die eigene Familie sein:

„Ich habe meine Familie, […] die ich so zum Reden habe, wenn ich reden möchte.“ (T4: 144, 146)

Verwandte oder FreundInnen, die einfach nur zuhören oder mit Rat und Tat zur Seite stehen, werden als sehr hilfreich erlebt:

„Ich habe an und für sich eine sehr, sehr gute Freundin. Die war jetzt am Samstag 84 Jahre alt. Das ist wie eine zweite Mutter, die weiß alles von mir.

Mit ihr habe ich über alles geredet, die habe ich angerufen, wenn es mir nicht gut gegangen ist.“ (T3: 799-801)

Angehörige schildern, dass es einfach gut tut, mit vertrauten Menschen über belastende Situationen reden zu können:

„Aber ich glaube dass es gut ist/ also in meinem Fall ist es gut, darüber zu re-den.“ (T5: 346-347)

Als besonders positiv und hilfreich erleben die InterviewpartnerInnen außerdem Selbsthil-fegruppen für Angehörige. Hier lernt man andere Betroffene kennen und kommt mitei-nander ins Gespräch. Bei den regelmäßigen Gruppenabenden trifft man auf verständnis-volle ZuhörerInnen, die in einer ähnlichen Situation sind wie man selbst — man erlebt Solidarität unter Gleichbetroffenen:

„Dieser HPE-Verein zum Beispiel ist für mich ganz wichtig geworden.“ (T5:

322)

„Im Februar bin ich dort hingegangen. Da habe ich gesehen, die haben alle ein offenes Ohr für mich, da kann ich reden, und ich kann zuhören, das hat mir getaugt.“ (T1: 878-880)

Auf die Frage, was das Hilfreiche an der Selbsthilfegruppe ist, antworten Angehörige:

„Man merkt, man ist nicht allein, sondern es gibt andere, die eine ähnliche Si-tuation haben.“ (T2: 889-890)

Durch den gegenseitigen Erfahrungsaustausch bekommt man wertvolle Ratschläge, fasst Mut, und das Beispiel anderer kann Hoffnung geben und das Selbstbewusstsein stärken:

„Die ganzen Ratschläge, die man so gehört hat. Da habe ich einiges umset-zen können, dass man eben auch nicht aufgeben soll, sondern immer schaut, dass man Hilfe holt, und dass man eben auf sich selber schaut. Und wie das eben die anderen machen, dass die das auch schaffen und trotzdem noch ihr Leben haben. […] Eine andere [Frau] auch hat mir sofort ihre Telefonnummer gegeben. Wir treffen uns, wir setzen uns zusammen […], die habe ich schon zwei-, dreimal gesehen. […] da ist man sehr gut aufgehoben.“ (T1: 857-860, 864-866)

Mehrere der Angehörigen empfinden darüber hinaus professionelle psychotherapeuti-sche Gespräche als Entlastung, besonders wenn sie sich gerade in einer schwierigen Situation befinden:

„Sicher, ich muss sagen, mir hat Psychotherapie geholfen — darüber zu re-den und dort zu weinen.“ (T6: 721-722)

Grenzen setzen

Grenzen zu setzen ist eine erfolgreiche emotionale Entlastungsmöglichkeit, die mehrere der InterviewpartnerInnen angewandt haben. Diese Form der Bewältigung wird von An-gehörigen meist dann gewählt, wenn sie am Ende ihrer Kräfte angelangt sind und fest-stellen, dass es so einfach nicht mehr weitergehen kann. Am Beginn der Erkrankung steht die Verantwortung und die Fürsorge für das kranke Familienmitglied im Vorder-grund. Im Laufe der Zeit erkennen Angehörige aber, dass ihre Kräfte beschränkt sind und sie Verantwortung auch für sich selbst übernehmen müssen. Sie beginnen dem/der Kranken Grenzen zu setzen, um ihr eigenes seelisches Gleichgewicht zu behalten.

Die Mutter eines schwer psychotischen Sohnes beschreibt, wie sie schrittweise zum Selbstschutz bzw. zum Schutz der übrigen Familie Grenzen setzen musste. Mit

zuneh-mender Krankheitsdauer hatten sich die unerträglichen Verhaltensweisen des kranken Sohnes sehr negativ auf die ganze Familie ausgewirkt:

„Also, das war nichts mehr. Mein jüngerer Sohn war inzwischen einmal be-trunken, weil er die Zustände [in der Familie] nicht mehr ausgehalten hat. Er [der kranke Sohn] hat fünfzigmal, ohne Untertreibung, geläutet, und die ganze Zeit irgendetwas gebraucht. Einmal passt das nicht, einmal passt das nicht.

Dann hat er wieder keine Socken, dann ist wieder sein Rucksack kaputt, dann hat ihm wieder einer was gestohlen. Also, da wird man verrückt.“ (T1: 497-501)

Sie begann einzusehen, dass sie für Ihren kranken Sohn nicht ununterbrochen zur Ver-fügung stehen kann…

„Ich habe mir gedacht, so können wir nicht weitermachen wie bisher.“ (T1:

492-493)

… und führte die Regel ein, dass er nur kommen darf, wenn der jüngere Bruder nicht zu Hause ist:

„Und dann habe ich das so gemacht, dass er [der Erkrankte] nur einmal, zweimal in der Woche kommt, wenn halt der andere Bub nicht daheim ist, in der Schule war oder arbeiten gegangen ist. Und dann ist er da gekommen.“

(T1: 288-290)

Als weitere Regel führte sie ein, dass er nicht einfach anläuten darf, sondern vorher anru-fen und sich anmelden muss:

„Und jetzt läutet er nicht mehr, sondern wenn er kommen kann [will], dann ruft er an, er muss sich an die Regeln halten.“ (T1: 504-505)

Grenzen können auch in Form einer zeitweiligen Kontaktvermeidung gesetzt werden.

Dadurch, dass diese Mutter vorgibt nicht zu Hause zu sein, schafft sie sich einen persön-lichen Freiraum und schützt sich damit vor einer übergroßen Belastung:

„Wenn er anfängt mich wieder zu tyrannisieren, zwanzig Mal anzurufen, das passiert nach wie vor zwischendurch, dann sage ich, du, ich bin nicht zu Hau-se. […] Aus. Das muss er akzeptieren. Ich muss mich abgrenzen, und das funktioniert so.“ (T1: 585-588)

Mit dieser Strategie einer Grenzsetzung hat sie einen Umgang gefunden, mit dem der Alltag bewältigbar erscheint. Das hilft ihr wiederum, positiver und optimistischer zu sein.

Zugleich sieht die Angehörige aber auch eine günstige Auswirkung auf den Erkrankten:

„Ja, es ist dadurch, dass ich meinem kranken Sohn Grenzen gesetzt habe, sehe ich, dass er doch sehr wohl auch die Grenzen einhalten kann oder auch muss. Das tut ihm ja auch gut, auf jeden Fall. Und dadurch denke ich eigent-lich nur mehr positiv, negativ eher weniger. Ich denke nur positiv.“ (T1: 887-890)

Manchmal ist es notwendig, dass Angehörige sich räumlich distanzieren, um sich abzu-grenzen. Eine solche Distanzierungsstrategie wendet die Mutter einer depressiven Toch-ter an. Für sie war die räumliche Trennung von der TochToch-ter eine große ErleichToch-terung. Die Dauerpräsenz der Krankheit empfand sie als sehr einengend:

„Aber als sie [die Tochter] ausgezogen ist, das war für uns eine große Entlas-tung. Das muss ich schon sagen, weil, da war im Haus Unordnung, und diese

Präsenz [der Krankheit], […] dieses Einnehmen von allem. […] Ja, uns geht es besser, wenn sie selbstständig ist.“ (T6: 686-688, 225-226)

Wie schon im Kapitel 4.1.1.5 (Abschnitt ‚Anspannung‘) erwähnt, ist auch ständige Rufbe-reitschaft — Tag und Nacht — eine Belastung, bei der Angehörige schließlich eine Gren-ze ziehen. Eine Mutter schildert, dass sie früher, am Anfang der Krankheit, immer er-reichbar war — auch nachts — und das dann geändert hat:

„Also sie [die kranke Tochter] weiß, dass für mich das wichtig ist [die Nacht-ruhe], und das ist jetzt viel besser. Also ich schalte mein Handy in der Nacht aus.“ (T6: 448-449)

Eine andere Problematik liegt der Bewältigungsstrategie der Ehefrau eines depressiv Erkrankten zugrunde. Sie erzählt, dass sie anfangs ihrem Mann alle Pflichten abgenom-men hat und ihn in Ruhe ließ, wenn er sich antrieblos zurückzog. Aus eigener Überlas-tung hat sie dann aber eine Grenze gezogen und die Forderung an ihn gestellt, wieder familiäre Pflichten zu übernehmen:

„Ich habe ihn komplett abgeschirmt. […] Er hat damals auch sehr viel ge-schlafen. Es hat sein können, dass, wenn er um zehn aufgestanden ist, dass er um zwölf wieder gelegen ist. Und zum [Sohn] habe ich immer gesagt, wir müssen leise sein, dem Papa geht es nicht gut. Irgendwann ist aber der Zeit-punkt gekommen, wo mir das irgendwo zu blöd geworden ist, weil ich mir ge-dacht habe, […] wenn ich ihn da jetzt komplett isoliere, im Prinzip, wie soll das weitergehen? Ich kann nicht immer nur auf das Rücksicht nehmen. Und da habe ich dann […] irgendwann angefangen, nicht mehr ständig nur Mitleid mit ihm zu haben. Du bist so arm, und, und, und. Ich finde auch, das ist kom-plett verkehrt. Ich habe ihn einfach oft vor Tatsachen gestellt: Das und das ist zu machen, und ihn viel mehr in die Erziehung vom [Sohn] mit einbezogen.

[…] Bleib im Bett, bleib im Zimmer, komm ja nicht heraus, das tue ich nicht mehr.“ (T3: 65-79, 826-827)