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4. F ORSCHUNGSERGEBNISSE

4.2. Bewältigungsstrategien

4.2.3. Kognitive Bewältigungsstrategien

Unterschiedliche Strategien, die alle auf der Verstandesebene stattfinden, werden kogni-tive Bewältigungsstrategien genannt. Dazu zählen beispielsweise rationale Erklärungs-versuche für krankhaftes Verhalten, Umdeutungen und Neubewertungen sowie die Kon-zentration auf positive Aspekte der durch die Krankheit veränderten Lebenssituation.

Kognitive Normalisierung

Vor allem am Beginn der Erkrankung suchen Angehörige nach plausiblen, logischen Er-klärungen für verändertes und auffälliges Verhalten. Sie versuchen krankheitsbedingte Symptome zu normalisieren, indem sie diese dem Kontext zuschreiben — zum Beispiel dem Drogenkonsum, Pubertätsproblemen oder der Persönlichkeit des/der Erkrankten.

Solche alternativen Erklärungsmuster lassen die Deutung zu, dass der/die Angehörige ja gar nicht psychisch krank ist. Damit nimmt die Bedrohung, die eine psychische Krankheit darstellt, ab.

Zwei Mütter von schizophren erkrankten Söhnen haben über Jahre als Ursache für selt-sames Verhalten und Symptome Cannabiskonsum ausfindig gemacht:

„Das haben wir so nicht bemerkt, als Krankheit, weil er nämlich in seiner Lehrzeit begonnen hat mit dem Cannabisrauchen. […] ich habe dann nur be-merkt, dass er einen komischen Blick hat, so einen starren Blick. Und dann ist er aggressiv geworden.“ (T1: 11-15)

Eine Mutter beschreibt, dass sie die depressiven Symptome ihrer Tochter auf eine schwierige Entwicklungsphase zurückgeführt habe, die ja bei Jugendlichen normal sei.

Dies war verbunden mit der Erwartung, dass die Schwierigkeiten recht bald vorbei sein würden:

„Und wir haben immer gedacht: Ok, das ist jetzt eine Krise, eine Teenager-Lebenskrise, […] vielleicht ist es ein notwendiger Prozess, […] das wird eine Zeitlang dauern, und dann sind das halt zwei, drei Monate, und [dann ist es]

für immer vorbei.“ (T6: 83-86)

Eine Ehefrau hat depressive Symptome der Persönlichkeit des Mannes zugeordnet. Die Erkenntnis, dass es sich um eine Krankheit handelt, kam später:

„Ich kenne meinen Mann seit meinem fünfzehnten Lebensjahr, ich habe mit ihm zum Lernen angefangen. […] Wie ich mit ihm zusammen gekommen bin [nach dem 30. Lebensjahr], habe ich nicht gewusst, was er hat. […] Er war sehr ruhig, sehr verschlossen, und, wie soll ich sagen, für mich war das da-mals normal.“ (T3: 10-16)

Akzeptanz und Neubewertung der Krankheit

Zu Beginn können Angehörige die Krankheit oft nicht annehmen — eine Welt bricht für sie zusammen. Mit zunehmendem Wissen und den gemachten Erfahrungen lernen sie aber nach und nach, mit der Krankheit umzugehen. Der Schritt, den Angehörige dann gehen, ist, die Krankheit und die damit verbundene Lebenssituation neu zu bewerten (reappraisal nach Lazarus, siehe Kapitel 2.5.2). Wenn das Leben mit der Krankheit nun als handhabbar empfunden wird, nimmt die emotionale Belastung deutlich ab:

„Also die Belastungen, jetzt mittlerweile, sind wirklich nicht groß, weil wir das irgendwie — jetzt haben wir schon sechs Jahre — jetzt haben wir das ir-gendwie im Griff. […] Und ich glaube, dass ich relativ stark bin und relativ gut damit umgehen kann.“ (T6: 556-557, 541)

Die Krankheit kann nun akzeptiert und ins Leben integriert werden. Das ist jedoch ein Prozess, der nicht sofort vonstatten geht, sondern eine gewisse Zeit benötigt und im Zu-ge dessen eine pragmatisch-zuversichtliche Haltung entstehen kann:

„Aber es hat einige Jahre gedauert, bis wir [als Eltern] das zur Kenntnis neh-men konnten […] dass er etwas hat, was vorher nicht da war. […] Und jetzt ist es so, wo, ich kann das für mich nur so sagen, mich damit jetzt abgefunden habe, dass das jetzt so ist. Es ist nicht zu ändern, und man kann nur schau-en, dass man das Beste daraus macht.“ (T5: 284-285, 318-320)

„Ich habe mich mit dem ganzen irgendwie abgefunden, also ich komme zu-recht damit. […] Ich nehme es an, wie es ist.“ (T1: 687-689)

Die Sicht auf die Krankheit und auf das eigene Leben ändert sich dann zum Positiven:

„Ich muss jetzt oft mit Verwunderung feststellen, es ist dann auch kein ganz schlechtes Leben. […]. Es ist nicht alles negativ.“ (T5: 464, 468)

Mit einer akzeptierend-positiven Haltung ist für die Mutter eines schizophrenen Sohnes auch Hoffnung verbunden:

„Ich denke nur positiv, und dass ich mit der Zeit wieder anfangen werde mit ihm, zum Beispiel zu pro mente, dass ich da mitgehen werde. Ich denke, er wird einmal mitgehen. Wenn ich einen guten Tag erwische, geht er vielleicht mit. So denke ich dann... ich nehme das jetzt leichter. Man muss das anneh-men, und trotzdem immer wieder versuchen, etwas Positives herauszuneh-men, und ihm auch immer wieder ein bisschen zureden. Zureden hilft meis-tens bei der Krankheit eh nicht, aber wenn er dann wieder seine lichten Mo-mente hat, dass ich dann wieder etwas mitgeben kann.“ (T1:890-896)

Eine Angehörige schildert, dass sie sich in den ersten Jahren der Erkrankung, wenn ihr alles zu viel war, auch fragte: „Wieso tue ich mir das an?“ (T3: 542) Im Laufe der Zeit kam es dann zu einer Neueinschätzung der Lebenssituation. Die Einsicht, dass der Kranke für seine Krankheit ja nichts kann, und ihr Optimismus halfen, zuversichtlich und positiv in die Zukunft zu sehen:

„Und er ist krank, er kann nichts dafür. Wir werden das schaffen. Wir haben dreißig Jahre geschafft, […] wir werden auch die nächsten dreißig Jahre schaffen.“ (T3: 544-546)

Das Positive am Lebenspartner bzw. an der Lebenspartnerin sehen

Wenn man den Fokus nicht nur auf den krankheitsbedingten belastenden Aspekten hat, sondern sich die positiven Seiten des erkrankten Angehörigen bewusst macht, hilft es einem, die Lebenssituation anzunehmen und besser zu meistern.

Eine Angehörige schildert, dass der Partner, der über Jahre Hilfe von ihr empfangen hat, ihr während ihrer eigenen Erkrankung hilfreich zur Seite gestanden ist, für sie da war und sie liebevoll umsorgt hat:

„Er ist mit mir immer ins Spital mitgefahren, er ist bei den Operationen drau-ßen gesessen und hat gewartet, bis ich herauskomme. Also, er hat das jetzt zurückgegeben wieder.“ — (Interviewerin: „Ihr seid füreinander da, wirklich, einer unterstützt den anderen.“) — „Ja. Für mich war das selbstverständlich, und für ihn ist es auch so. Ganz egal, was die Zukunft bringt.“ (T3: 521-528)

Positive Aspekte an der Krankheit

Das gemeinsame Durchleben der Schwierigkeiten, die eine psychische Krankheit mit sich bringt, kann eine starke Verbundenheit zwischen den PartnerInnen/Angehörigen bewir-ken. Die Ehefrau eines depressiv Erkrankten sieht das als sinnhafte Lebenserfahrung:

„Es prägt, […] das hat uns wahrscheinlich alles so zusammengeschweißt, sonst gibt es das nicht. Und es wird immer der eine für den anderen da sein.

[…] Ich sage auch, wahrscheinlich weil wir sehr viel auf uns alleine gestellt waren. Das schweißt noch mehr zusammen, als wenn du von außen immer [Hilfe bekommst].“ (T3: 511-513, 551-552)

Ein enges Zusammenleben von Mutter und erwachsenem Kind, das vermutlich ohne die Krankheit nicht mehr so gewesen wäre, kann auch als positiv erfahren werden:

„Ich habe eine sehr starke Verbindung zu meinem Sohn, das hätte ich viel-leicht sonst gar nicht so.“ (T5: 465-466)

Die Lebenseinstellung verändert sich – reifer aus der Krise kommen

Die Mehrheit der interviewten Angehörigen gibt an, dass ihre Erfahrungen mit einem psy-chisch kranken Familienmitglied ihre Lebenseinstellung grundlegend verändert hat. Sie machen sich darüber Gedanken, was im Leben wirklich wichtig ist. Prioritäten können sich verändern: Das was früher wichtig war, verliert an Bedeutung, anderes wird wichti-ger:

„Ich denke mir jetzt im Nachhinein, was war ich für ein unzufriedener Mensch.

Nichts war genug! […] Und das sehe ich jetzt auch bei meinem […] Freun-deskreis, und genau so war ich auch. Ich habe mich in Dinge hineinma-növriert, die es für mich jetzt gar nicht mehr wert sind, auch nur eine Sekunde darüber zu jammern, ob das jetzt 5 Euro mehr gekostet hat, und so.“ (T5:

302-314)

Auch eine andere Angehörige legt jetzt weniger Wert auf Materielles:

„Braucht jeder ein immer größeres Haus und immer mehr Autos, und ist das wirklich so wichtig? Mehr Schuhe, wo man eh keinen Platz mehr für Schuhe hat?“ (T6: 778-779)

Generell berichten Angehörige, dass sie gelernt haben, das Leben mit anderen Augen zu sehen, dass andere Werte wichtig geworden sind. Eine Angehörige berichtet, dass sie erkannte, wie zerbrechlich das Leben ist, dass es wichtig ist, im Jetzt zu leben und den Augenblick zu genießen:

„Ich bin irgendwo schon ein anderer Mensch geworden. Ich versuche jeden Tag so gut es geht zu genießen. […] Früher war ich so: Es hat alles müssen etepetete sein. Heute ist mir das wurscht. Und wenn ich meine Wäsche heute nicht bügle, bügle ich sie halt morgen. Die Arbeit nimmt mir keiner weg. Aber ich will das tun, nach dem mir jetzt gerade ist. […] Es kann so schnell alles vorbei sein. […] Ich versuche jeden Tag das Beste daraus zu machen. Ge-lingt zwar nicht immer, aber alleine wenn ich am Abend heimkomme und mich nur hinsetze und nichts mehr tue, die Seele baumeln lasse, ja, ist auch schön warm.“ (T3: 230-231, 1120-1122, 1111-1114)

Dieselbe Interviewteilnehmerin sieht die gemeinsame Krankheitserfahrung mit dem Part-ner als Prozess an, aus dem man reifer hervorgeht. Dies drückt sich unter anderem in einer größeren Zufriedenheit aus — auch mit kleinen Dingen:

„Wie soll ich sagen. Aufgrund der ganzen Situationen und Sachen, die wir hinter uns haben, denkt man schon sehr viel nach, und man wird sehr genüg-sam. Ich bin mit Kleinigkeiten mehr zufrieden, als wenn mir irgendjemand sein Haus gibt. Ich will einfach, dass wir ein normales, unter Anführungszeichen

‚normales‘ Leben haben, dass es uns einigermaßen gut geht, und mehr will ich gar nicht.“ (T3: 1097-1101)

Das gleiche empfindet eine andere Interviewteilnehmerin:

„Ich bin jetzt zufriedener. Ich meine, […] das kann kein Mensch glauben, wahrscheinlich. Aber ich bin jetzt ein zufriedenerer Mensch, als ich vor zehn Jahren war.“ (T6: 362-364)

Mit der Zufriedenheit geht auch Dankbarkeit einher:

„Also, man entwickelt dann für ganz kleine Momente eine Dankbarkeit.“ (T5:

302)

Menschen mit einer psychischen Erkrankung bilden eine Randgruppe der Gesellschaft.

Dadurch dass ein eigenes Familienmitglied betroffen ist, entwickeln Angehörige mehr Verständnis und Toleranz für Menschen, die ebenso am Rande der Gesellschaft stehen:

„Man wird gelassener, […] und verständnisvoller anderen gegenüber. Sonst tut man oft Menschen ab. Also, mich stört das nicht mehr, wenn jetzt am Bahnhof einer sitzt und bettelt. Ich denke mir, er muss etwas haben, sonst tut er das nicht. Ich bin wahrscheinlich irgendwie großzügiger geworden, dass ich mir denke, man kann nicht jeden abstempeln.“ (T1: 900-904)

Ähnliche Gedanken äußert eine weitere Interviewteilnehmerin — sie sieht in der Krise auch eine Chance zu wachsen:

„Ich habe viel mehr Verständnis für andere... und Respekt auch irgendwie ...

für andere Lebensweisen, was auch immer die sein sollen. [… zum Beispiel]

homosexuell […] ich finde es gut, dass diese Menschen die Rechte haben gleich zu leben wie wir, weil sie können ja nichts dafür, genauso wie mein Kind nichts dafür kann. […] Toleranz! […] das ist diese Bewältigung, wo man auch selber wächst.“ (T6: 798-812)