• Keine Ergebnisse gefunden

4. F ORSCHUNGSERGEBNISSE

4.2. Bewältigungsstrategien

4.2.1. Problemorientierte Bewältigungsstrategien

Besonders der Beginn der psychischen Erkrankung wird von den befragten Angehörigen als sehr belastend erlebt, da das Wissen über die Erkrankung, über den Umgang mit be-lastenden Verhaltensweisen der Kranken und über Unterstützungsmöglichkeiten fehlt.

Die Angehörigen versuchen sich Wissen aus unterschiedlichen Quellen anzueignen: Von den behandelnden ÄrztInnen, über Internetrecherche, über Lesen von Fachliteratur und Ratgebern und über andere betroffene Angehörige.

Krankheitsbezogene Informationen stellen die Grundlage dafür dar, mit der Krankheit selbst besser umgehen zu können und die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten zu erwei-tern. Damit erhöht sich die Selbstwirksamkeitserwartung der Angehörigen.

Auf die Frage, wie man lernt, mit der Situation und mit den Schwierigkeiten am besten umzugehen, antworten Interviewpartnerinnen:

„Mit dem Einlassen auf diese Situation, indem ich mich auseinandersetze, indem ich so viel als möglich in Erfahrung bringe über die Erkrankung, indem ich mit anderen Leuten darüber rede.“ (T5: 428-430)

„Lesen, informieren […] hat mir geholfen.“ (T6: 848)

Als wertvollste Informationsquelle bezeichnen mehrere Angehörige die Selbsthilfegruppe für Angehörige psychisch Kranker, weil sie dort von gleich betroffenen Menschen lernen, die aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen:

„Die Information, das muss ich auch sagen, habe ich meistens von HPE.

[Verein Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter]. […] Bei HPE krieg ich […]

Verständnis und die Ratschläge, die wertvoller sind, weil das die Menschen sind, die das verstehen, mitgemacht haben, mehr Erfahrung in dem Bereich haben.“ (T6: 1234, 867-869)

Als sehr hilfreich wird beschrieben, dass es dort neben dem medizinisches Wissen auch praktische Ratschläge gibt, zum Beispiel wo man welche Unterstützungsleistungen be-kommen kann:

„Ja, durch den Verein, ja. Durch den Verein erfährt man sehr viel, durch die verschiedenen Angehörigen, die da das Gleiche durchmachen oder Ähnli-ches. Die ganzen Wege, wo man hingehen muss.“ (T1: 970-972)

Das psychiatrische Versorgungssystem als Ressource

Eine weitere wichtige problemorientierte Bewältigungsstrategie stellt die Nutzung des psychiatrischen Hilfesystems sowie die Unterstützung des kranken Familienmitglieds bei der medizinischen Behandlung dar.

Angehörige wissen, dass die medizinische Unterstützung — trotz häufig kritisierter Män-gel — notwendig ist. Daher bemühen sie sich, dass der/die Kranke eine solche in An-spruch nimmt. Das kann auch bedeuten, dass Angehörige versuchen, den Kranken/die Kranke zu einer psychiatrischen Behandlung zu überreden. Bei einer akuten psychischen Krise ist oft ein stationärer klinischer Aufenthalt notwendig, die Langzeitbehandlung er-folgt meist durch niedergelassene psychiatrische FachärztInnen.

Manche Angehörigen sehen es auch als notwendig und wichtig an, die Erkrankten dabei zu unterstützen, die vom Arzt/von der Ärztin empfohlene Therapie einzuhalten, indem sie erinnern oder motivieren, die verordneten Medikamente einzunehmen. Eine Mutter schil-dert, wie sie ihren Sohn bei der Einnahme der Medikamente unterstützt:

„ ‚Das ist eine Teilschizophrenie‘, hat die Pensionsärztin gesagt, ‚das ist gut behandelbar, er [der Sohn] soll die Tabletten nehmen.‘ […] Die Tabletten ha-be ich mitgekriegt. […] Die haha-be ich ihm jeden Tag gegeha-ben. Auch manchmal mit Überredungskunst, aber die hat er dann immer genommen. […] Er aber gibt nicht zu, dass er eine Krankheit hat. Über das redet er nicht. Dann habe ich gesagt: ‚Du weißt ja, dass du die Tabletten nimmst, damit du dir nicht im-mer so viele Sachen einbildest, die es gar nicht gibt. Die Tabletten helfen dir.‘

[…]‚Da, nimm deine Tablette.‘ [Der Sohn antwortet:] ‚Ok, später.‘ Habe ich gesagt: ‚Die Tablette nimmst du entweder geschwind, was heißt später?‘, [Der Sohn sagt:] ‚Ja ich bin zu satt.‘ Habe ich gesagt: ‚Du, seit wann sättigt eine Tablette?‘ “ (T1: 485-491, 610-615)

Dadurch, dass Angehörige ihr krankes Familienmitglied bei der Einhaltung der medizini-schen Therapie unterstützen, erwarten sie sich eine Verbesserung der Krankheitssymp-tomatik und damit einhergehend eine Verbesserung der für beide belastenden Lebenssi-tuation.

Gerade am Anfang haben Angehörige großes Vertrauen in die psychiatrischen Institutio-nen. Der erste Krankenhausaufenthalt kann für Angehörige somit eine große Entlastung bedeuten. Sie sind erleichtert — endlich gibt es Hilfe — und sind voller Zuversicht und Hoffnung, dass sich durch die ärztliche Behandlung der Gesundheitszustand ihres Fami-lienmitglieds bessert:

„Ich habe gewusst, er ist im Krankenhaus — es wird ihm geholfen. […] Im Großen und Ganzen habe ich gewusst, er ist eigentlich gut aufgehoben, […]

und er hat endlich einmal eine Hilfe.“ (T3: 668-669, 676-678)

Der Familienalltag wird der Krankheit angepasst — Hilfeleistung und Rücksicht-nahme auf die Kranken

Die befragten Angehörigen sind im Allgemeinen bemüht alles zu tun, damit es ihrem er-krankten Familienmitglied wieder besser geht. Sie versuchen den Alltag für die Erkrank-te/den Erkrankten gesundheitsförderlich zu gestalten. Das Ziel ist, Belastungsfaktoren, die eine Verschlimmerung des psychischen Zustandes zur Folge haben oder einen Krankheitsschub auslösen können, zu vermeiden und so ein optimales Umfeld für eine

Gesundung zu schaffen. Praktisch bedeutet das vor allem, übliche alltägliche Anforde-rungen bzw. Stress von den Erkrankten fernzuhalten, weil schon geringe Belastungen zu viel sein können. Damit möchten die Angehörigen aktiv einen Beitrag zur Genesung leis-ten.

Die Ehefrau eines depressiven Mannes erzählt, dass am Anfang der Krankheit ihre Stra-tegie war, ihn zu umsorgen und ihm alle Arbeiten abzunehmen:

„Am Anfang habe ich ihm alles abgenommen. […] Und ich habe ihn komplett abgeschirmt, […] weil er die meiste Zeit nur geschlafen hat. Und ich habe eben gedacht, […] er braucht das, ich habe ihn halt in Ruhe gelassen.“ (T3:

388, 65-66, 424-426)

Eine Mutter berichtet, dass sie ihrem schizophren erkrankten Sohn das Essen zubereitet und aufräumt, weil sie erwartet, dass sich diese Bemühungen positiv auf sein Befinden auswirken:

„Und es tut ihm schon gut, wenn alles sauber ist, wenn die Essengeschichten geregelt sind, wenn er dann wieder nicht mehr hinauskann. Sie [die Kranken]

haben dann auch so Sozialängste und können sich nicht mehr unter Leuten aufhalten, und das erledige dann ich. Das Essen kommt geregelt nach Hau-se. […] Damit nicht diese Dinge auch noch außer Kontrolle geraten, die dann natürlich das [den Krankheitszustand] dann noch verschlimmern und ver-schlechtern.“ (T5: 138-146)

Weiters nehmen Angehörige besondere Rücksicht auf die Empfindlichkeit der Erkrankten und versuchen für Ruhe zu sorgen und Lärm zu vermeiden:

„Und zum [Sohn] habe ich immer gesagt, wir müssen leise sein, dem Papa geht es nicht gut.“ (T3: 71-72)

„Oder zum Beispiel auch, dass man die Tür ganz leise zumacht, weil sie [die Schwester] sehr empfindlich war und alles sehr stark wahrgenommen hat.“

(T4: 24-25)

Praktische soziale Unterstützung

Die Krankheit selbst stellt viele Anforderungen an Angehörige — in Form von zeitaufwän-digen Unterstützungsleistungen und Hilfestellung für die Kranke bzw. den Kranken. Bei Erkrankung eines Ehepartners/einer Ehepartnerin müssen außerdem noch jene Aufga-ben — zum Beispiel in der Kinderbetreuung und im Haushalt — übernommen werden, die der Partner/die Partnerin bisher ausgeführt hat und nun dazu nicht mehr in der Lage ist. Um diese schwierige Lebenssituation zu bewältigen, organisieren Angehörige sich praktische Hilfe — zuerst vor allem im Familienkreis. Können die Angehörigen auf ein soziales Netz aus hilfsbereiten Verwandten oder auch FreundInnen zurückgreifen, so ist das eine bedeutende Entlastung.

Die Mutter einer depressiven Tochter schildert, dass vor allem der Beginn der Erkrankung sie vor eine enorme Herausforderung gestellt hat, da sie nicht wusste, wie sie neben ihrer Berufstätigkeit die Tochter betreuen sollte. Schließlich sind die Eltern aus Kroatien ange-reist:

„Wirklich, ich habe Glück. Meine Eltern sind wirklich unglaublich. […] Am An-fang auch, wo das alles [begann], wo ich echt nicht gewusst habe, kann ich

überhaupt arbeiten gehen, war meine Mutter da. Sie hat nichts gefragt, […]

sie war einfach da.“ (T6: 579-580, 922-927, 935-936)

Da ihr Beruf häufig Reisen erfordert, ist es gut, dass neben den Eltern auch FreundInnen da sind, die praktische Hilfe anbieten:

„Ich meine wir haben jetzt so gesehen echt Glück, dass wir wirklich Unterstüt-zung von Familien, von Freunden [haben]. Wenn wir weg sind [beruflich], dann habe ich Freundinnen, und die sagen: ‚Ok, wenn sie [die Tochter] was braucht, kann sie sich melden.‘ […] Dann besorgt uns die Freundin Medika-mente zum Beispiel. Die würden kommen und ihr das bringen.“ (T6: 870-72, 887, 896)

Wenn kleine Kinder in der Familie sind und plötzlich ein Elternteil ausfällt, weil dieser in die Klinik muss, ist es ganz besonders wichtig, rasch auf familiale Ressourcen zurück-greifen zu können. Ein betroffener Ehemann und Vater dreier Kinder erzählt von der Zeit des Krankenhausaufenthalts seiner Frau:

„Da war es eben, dass sich die Schwiegermutter und meine Mutter quasi ab-gewechselt haben, so im Zwei-Wochen-Rhythmus, eben da beide in Pension [sind]. […] Und das hat das Ganze jetzt schon rein vom täglichen [Arbeitsauf-wand], also was halt untertags passiert, doch sehr erleichtert.“ (T2: 72-73, 77-78)

Auch in sehr belastenden Situationen, wenn sich der/die kranke Angehörige gerade in einer akuten psychischen Krise befindet, ist der schnelle Zugriff auf familiäre Unterstüt-zungsleistungen essentiell:

„Als er [der kranke Sohn] dann nicht mehr schlafen konnte, […] habe ich zum Beispiel meine Mutter gebeten, ob sie kommt. Und da war dann mein Ex-Mann auch gerade im Lande, sein Vater. Und da haben sie angerufen, dass sie im Bett liegen, bei mir im Ehebett. Er [der Sohn] in der Mitte, die Oma auf einer Seite, der Vater auf der anderen Seite, und die beiden haben geschla-fen und er nicht.“ (T5: 378-383)

Auf Dauer ist es für diese berufstätige Mutter eine große Erleichterung, dass sie nicht alleine dasteht und Unterstützung bei der Krankenbetreuung erfährt:

„Also, meine Mutter hat jetzt auch angeboten, dass sie in die Wohnung kommt, wenn ich arbeite. Damit das nicht mehr so ist, dass er [der kranke Sohn] so lange alleine ist.“ (T5: 450-452)

Das Bewusstsein, in einem sozialen Netz aufgehoben zu sein, hilft einem die schwere Last leichter zu tragen und mit Krisen erfolgreich umzugehen.