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4. Die Szenische Interpretation von Musiktheater im Modell

4.4. Einsatz der Szenischen Interpretation von Musiktheater im Sinne von

4.4.2. Spielkonzept zu Das Kind und die Zauberdinge

Für die dritte Produktion der "Jungen Oper der Staatsoper Stuttgart" Das Kind und die Zauberdinge von Maurice Ravel entstand ein Spielkonzept, dessen thematischer Schwerpunkt die Themen Wut, Aggression und Umgang mit Unlustsituationen bilde-ten.

Die Erfahrungen mit dem Spielkonzept zur West Side Story (Kosuch/Stroh 1997), in dem auch Wut und Aggression Themen der Arbeit sind, zeigten, dass es in Spielpro-zessen immer wieder zu lustvollen und belastenden emotionalen Erfahrungen mit Wut und Aggression kommt. Daher wurde bei diesen Themen dem Rollenschutz eine besondere Bedeutung zugewiesen. Um diesen Rollenschutz herzustellen und zu ge-währleisten, wurden entsprechend den Alterstufen unterschiedliche Verfahren entwi-ckelt. Im folgenden wird die Handlung der Oper skizziert und drei Beispiele

beschrieben:

Das Kind soll seine Hausaufgaben machen, hat dazu aber keine Lust und spielt. Als die Mutter nach den Ergebnissen fragt, wirft das Kind das Tintenfass um und streckt ihr die Zuge heraus (Szenen auf die sich das erste Beispiel bezieht – Szene 1 und 2).

Die Mutter sperrt das Kind im Zimmer ein. Daraufhin zerstört das Kind in einem Wutanfall alles um sich herum, darunter auch Dinge, die ihm sehr lieb sind (Szene auf die sich das zweite Beispiel bezieht – Szene 3).

Alle Gegenstände werden lebendig und sprechen über das Kind und mit ihm. Ein surreales Spiel beginnt, in dem das Kind Sehnsüchte, Ängste, Wünsche, Liebe und Zärtlichkeit erlebt.

Im Garten trifft das Kind auf die Tiere, mit denen es gespielt hat. Darunter auch das Eichhörnchen, das das Kind eingesperrt hat, um ihm nah zu sein (Szene auf die sich das 3. Beispiel bezieht – Szene 18).

Die Tiere und Bäume bedrängen das Kind und wollen sich rächen. Eine Schlägerei jeder gegen jeden beginnt. Das Eichhörnchen wird dabei von den Tieren verletzt und blutet. Die Tiere sind entsetzt. Das Kind rettet das Eichhörnchen.

Die Erlebnisse und Erfahrungen verändern das Kind, danach ist alles anders. (Szena-rio bei Kosuch 1998/2000 S. 10 ff)

Beispiel 1:

Im Spielkonzept improvisieren Schüler den Ausgang der ersten Szene zwischen Mut-ter und Kind. Ausgangspunkt für die Improvisation bilden die beiden ersten musika-lischen Phrasen der Oper:

• Kind: Ich habe keine Lust zur Arbeit, ich hab’ Lust hinaus spazieren zu ge-hen!

• Mutter: Mein Kind warst du auch brav, sind die Hausaufgaben fertig!

Die Schüler spielen unterschiedliche Varianten, wie die Szene zwischen Mutter und Kind ausgehen könnte (Kosuch 1998/2002, S. 13-16). Diese Szenen wurde auch in einem Projekt an einer Grundschule unter Leitung einer Mitarbeiterin der "Jungen Oper der Staatsoper Stuttgart" szenisch interpretiert. Obgleich alle Schüler deutsche Kinder waren4, wurde die Szene in eine ausländische Familie verlegt, in der alle Schüler gebrochen Deutsch sprachen. Offensichtlich wollten die Schüler durch diese Maßnahme einen wirksamen Rollenschutz aufbauen. Denn die improvisiert gespiel-ten Szenen selbst endegespiel-ten zum Erstaunen der Lehrerin und der Spielleiterin alle mit dem Tod der Mutter oder des Kindes oder beider Personen. In der Reflexionsrunde, die am nächsten Unterrichtstag stattfand, sagten die Schüler aus, dass sie sich selbst

„in Wirklichkeit“ niemals so wie in der gespielten Szene verhalten würden, sie aber

„diesen Ausgang gerne mal ausprobiert“ hätten. Dieser Kommentar gab Anstoß zu einer Diskussion, in der die Schüler authentisch über Strategien und Handlungsmus-ter sprachen, die sie in Unlustsituationen anwenden.

In diesem Beispiel haben die Schüler nicht nur einen wirksamen Rollenschutz aufge-baut, sondern dann in der Reflexion der im Schutz der Rolle ausagierten Fantasien sehr authentisch über reale Probleme sprechen können. Der Transfer aus dem Rollen- in das Alltagshandeln scheint hier gelungen zu sein.

Beispiel 2:

Der Wutausbruch des Kindes, bei dem alle Gegenstände zu Bruch gehen, wird ent-lang der Musik spielerisch inszeniert (Kosuch 1998/2002; S. 17/18). Nachdem der Ablauf des Wutausbruchs entlang der Musik in Gruppen entwickelt und skizziert wurde, spielen die Schüler den Wutausbruch zur Musik. Beim Spielen beschränkte die zeitliche Struktur der Musik und das auf Grundlage der Musik entwickelte

4 Nach Aussage der Lehrerin war von keinem der Kinder bekannt, dass es einen Migrationshin-tergrund hatte.

rio den „Wutausbruch“. Musik bildete somit den Halt und die Struktur für die Emo-tion.

Zusätzlich dazu beobachtete die Hälfte der Beteiligten die Umsetzung und etablierte damit nochmals einen äußeren Halt. In diesem Setting erlebten dann alle Teilnehmer den Wutausbruch: als Spielende zur Musik oder als Beobachtende.

Für die Reflexion in der 3. und 4. Klasse wurde eine Puppe in Kindergröße einge-führt, die teilweise von den Kindern selbst hergestellt worden war. Diese Puppe dien-te als Projektionsfläche für die Reflexion. Die Puppe sdien-telldien-te das Kind dar, das im Wutausbruch alles zerstört hat. Die Schüler sollten nun zwei Aussagen der Puppe gegenüber formulieren, indem sie zur Puppe gehen und auf der einen Seite den Satz

„Ich finde toll, was Du, Kind, gemacht hat, weil ...“ und auf der anderen Seite den Satz „Ich finde blöd, was Du, Kind, gemacht hat, weil ...“ vervollständigen. Die Puppe dient dazu, zu verhindern, das ritualisierte Verdrängungsmechanismen (Schel-ler 1981) reproduziert werden, in dem alle den Spaß am Wutausbruch verleugnen und normativ das Erlebnis verdrängen. Hier konnten in der Projektion auf die Puppe beide Aspekte des Wutausbruchs artikuliert und thematisiert werden und so ein Rollenschutz effektiv aufgebaut werden.

Beispiel 3:

In der 18. Szene trifft das Kind auf das Eichhörnchen, das es in einen Käfig gesperrt hatte. Für die szenische Interpretation des in dieser Szene zum Tragen kommenden Problems von „Freiheit“ und „Besitzbedürfnis“ wurde entgegen dem üblichen Ver-fahren der Einfühlung in jeweils eine Rolle, eine doppelte Rolleneinfühlung verwen-det (ebenda S. 30-32). Die Schüler wurden sowohl in das Kind als auch in das Eichhörnchen eingefühlt und sollten im szenischen Spiel dann selbst zwischen bei-den Perspektiven wechseln. Dieses Verfahren des Rollentauschs stammt aus dem Psychodrama und dient hier dem vertiefenden Konfliktverständnis und dem Vermei-den eines ritualisierten Verdrängens der Bedürfnisse des Kindes, die sich im Gefan-gennehmen des Eichhörnchens äußern. Das GefanGefan-gennehmen des Eichhörnchens kann hier als Versuch verstanden werden, Nähe und Vertrautheit herzustellen. Dies ist ein legitimes Bedürfnis. Bei dem Versuch des Kindes Nähe und Vertrautheit her-zustellen, greift es imitierend auf das Verhalten der Mutter zurück, die das Kind zum Hausaufgaben machen einsperrt. Es verwendet damit aber eine „falsche“ Strategie, um sein Ziel zu erreichen. Indem nun die Schüler zwischen beiden Rollen hin und her pendeln, versuchen sie Motive und Ziele des Kindes zu ergründen, ohne dabei

aber das Eichhörnchen mit seinen Bedürfnissen aus dem Blick zu verlieren. Aus den Rückmeldungen der am Projekt beteiligten Lehrer war immer wieder zu entnehmen, dass dieses Spiel des Rollenwechseln mit viel Ernsthaftigkeit und Einsatz gespielt wurde.

Die Beispiele zum Spielkonzept Das Kind und die Zauberdinge zeigen, wie die the-matischen Problemstellungen, die sich aus der jeweiligen Oper ergeben, und die Ar-beit mit Zielgruppen unterschiedlichen Alters, die Entwicklung neuer Techniken und Methoden nötig machen. Gleichzeitig wird exemplarisch sichtbar, welche Lern- und Verarbeitungsprozesse durch die Szenische Interpretation initiiert werden können.