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Erfahrungslernen durch den Aufführungsbesuch, das Gespräch mit Künstlern, den Blick hinter die Kulissen im Modell „Erlebnisraum

3. Die Szenische Interpretation von Musiktheater im Modell

3.4 Wirkungen von "Erlebnisraum Oper"

3.5.2 Erfahrungslernen durch den Aufführungsbesuch, das Gespräch mit Künstlern, den Blick hinter die Kulissen im Modell „Erlebnisraum

Oper“

In der ersten Publikation, die im Rahmen der Arbeit von „Erlebnisraum Oper“

entstanden ist (Kosuch 1997a), werden sechs Thesen zum Erfahrungslernen als Zentrum des Konzepts „Erlebnisraum Oper“ formuliert (ebenda, S. 6/7) . Diese Thesen bildeten die Grundlage der opernpädagogischen Arbeit und wurden als Fortführung der oben angeführten Thesen von Wolfgang Martin Stroh formulierten.

Außerdem zeigen diese sechs Thesen die bildungs- und kulturpolitische Dimension, die beim Transfer der Szenischen Interpretation von Musiktheater in die Institution Oper entstanden ist.

Kosuch - These 1: Die Oper ist eine Gattung, die Schülerinnen und Schülern in der Regel eher fremd ist. Diese Fremdheit bietet den Jugendlichen die Chance, Nähe und Distanz zum Stoff und den Grad ihrer emotionalen Beteiligung selbst zu bestimmen.

Die Fremdheit der Gattung Oper wird in der Diskussion immer wieder als Grund angeführt, sie für Schüler als nicht relevant, nicht interessant und damit als überflüssig zu erklären. In der ersten These wird aus der angeblichen „Not der Fremdheit“ eine Tugend gemacht. Aus der Erfahrung mit der West Side Story [Kosuch, Stroh 1997], bei der die große Nähe zu den Schülern zu einem

methodischen Problem wurde, wird die Fremdheit hier zur Qualität. Die Fremdheit der Gattung Oper bezieht sich im wesentlichen auf die Kunstform und die Musik, zunächst nicht auf die Aufführungspraxis (siehe dazu These 5). Mit der These und dem Begriff der Fremdheit ist nicht die vieldiskutierte antiquierte Aufführungspraxis gemeint. Die Fremdheit liegt in den künstlerischen Materialien selbst. Zum einen weil es sich zumeist um Geschichten aus vergangenen Jahrhunderten handelt, zum anderen, weil die Form, diese Geschichten zu erzählen, artifiziell ist – Menschen singen Worte zu fremder – nicht populärer – Musik. Diese Fremdheit auf der ersten Ebene ist kein Problem, sondern sie wird für die Etablierung des Rollenschutzes genutzt. Die Figuren, in die sich die Kinder und Jugendlichen einfühlen, stehen ihnen fremd gegenüber. Diese Distanz ist wichtig, um im Wechsel zwischen

Rollen-Erlebnis und persönlichem Rollen-Erlebnis Erfahrungslernen zu initiieren. Ohne Distanz kann diese Verarbeitung nicht stattfinden (siehe Kapitel 2). Auf der zweiten Ebene besteht keine Fremdheit, sondern eine Nähe zu Kindern und Jugendlichen. In den Opern werden zumeist grundlegende „allgemein menschliche“ Konflikte thematisiert – Liebe, Eifersucht, Hass, Gewalt, Depression, Konkurrenz, Neid usw.3. Der

Lebensweltbezug entsteht im Rahmen der Einfühlungsprozesse, in denen die Kinder und Jugendlichen auf eigene Erfahrungen zurückgreifen und diese in die Rollenfigur einflechten. Diese grundlegenden menschlichen Konflikt, die die Spieler nun im Rahmen der Szenischen Interpretation durchleben und zu lösen versuchen, werden meist in historischen Kontexten und mit „sozialhistorischen“ Lösungsstrategien erzählt. Dadurch entsteht auf der dritten Ebene eine Fremdheit, die es Schülern ermöglicht ihre eigenen Lösungen zu den Konflikten zu entwickeln und denen der Oper (des Librettisten und Komponisten) gegenüberzustellen.

Daran wird deutlich, dass Lebensweltbezüge nicht gleichbedeutend mit Themen sind, die eins zu eins dem Leben der Schüler entnommen sind. Gerade mit fremden

Themen kann, wie die Arbeit mit der Szenischen Interpretation zeigt, ein sehr

3 Siehe hierzu auch die Liste der Themen, die in der jeweiligen Oper schwerpunktmäßig bearbeitet wird 2. Band Kapitel 2.6. Seite 43/44

intensiver Lebensweltbezug hergestellt werden, da ritualisierte

Verdrängungsmechanismen (Scheller 1981) umgangen werden können und durch den Rollenschutz mit Emotionen, Fantasien und Wünschen gearbeitet werden kann.

Die Gattung Oper ist durch diese Mischung aus Distanz und Nähe, Fremdheit und grundmenschlichen Konflikten ideal, einen starken Rollenschutz aufzubauen, der im dialektischen Pendeln zwischen Rollenfigur und Interpretierendem intensive

Erlebnisse und tiefgehende Verarbeitungsprozesse ermöglicht. Durch die Gattung Oper kann Erfahrungslernen initiiert werden.

Die Fremdheit als Qualität führt dabei keineswegs zu „falschen“

Aneignungsprozessen. Ziel von „Erlebnisraum Oper“ an der Staatsoper Stuttgart war nicht die Aneignung der Oper durch Schüler, wie Christoph Richter sie

beispielsweise als Ideal beschreibt (Richter 2003, S.6 f). Er benennt Atmosphäre, Festlichkeit und vorübergehende Eigenwelt, die von der Regie und der Institution angeboten werden müssen, um das Gesamtkunstwerk ‚Oper’ in seiner

Unmittelbarkeit zur Wirkung kommen zu lassen. „Die Darstellung selbst sollte im Idealfall, die Vermittlung sein. Dieser Idealfall stellt sich jedoch nur im

Ausnahmefall des unmittelbaren Mitgenommenseins ein.“ (Richter 2003, S.8). Damit sagt Richter, dass das unmittelbare Mitgenommensein und das Eintauchen in

Atmosphäre, Festlichkeit und vorübergehender Eigenwelt das eigentliche Ziel eines Opernbesuchs sein sollte. Mit diesem Ziel geht es um die Beseitigung von Distanz und Fremdheit, um quasi symbiotisch mit dem Publikum und dem Kunstwerk zu verschmelzen und darin eine kathartische Reinigung zu erfahren. Lust entsteht hier im Verschmelzen, im „Abschalten vom Alltag“ in der „Erholungspause des Alltags“.

Dies ist nicht das Ziel von „Erlebnisraum Oper“. Das Ziel ist, mit Fremdheit lustvoll umzugehen. Lust entsteht dabei im Erkennen, in der Anregung zur Reflexion und im Pendeln zwischen mitfühlen und mitdenken. Es geht folglich nicht um die

Aneignung der Oper, sondern um die Aneignung von Wirklichkeit mit musikalischen Mitteln, in musikalischen Tätigkeiten. Eine solche musikalische Tätigkeit kann auch ein Opernbesuch sein. Fremdheit soll also nicht aufgelöst, sondern zur Erprobung unterschiedlicher Perspektiven und der Möglichkeit Nähe und Distanz zum Stoff selbst zu bestimmen, genutzt werden.

In diesem Sinne bietet Fremdheit die Chance eine lustvolle Neugierde zu entwickeln.

Foucault schreibt in der Einleitung zu Der Gebrauch der Lüste, Motiv seiner Arbeit sei die Neugier,

„nicht diejenige, die sich anzueignen versucht, was zu erkennen ist, sondern die, die es gestattet, sich von sich selbst zu lösen. (...) Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen und Weiterdenken unentbehrlich ist. (S.15 f)“4

Im Foucault’schen Sinne bedeutet dies: Szenische Interpretation von Musiktheater dient nicht als Aneignung der Oper, als Vereinnahmung und Auflösung der Distanz und Fremdheit sondern als Mittel des Perspektivenwechsels, um auf bekannte allgemein menschliche Konflikte neu zu schauen. Fremdheit als Qualität, die die Distanz und in der Distanz intensives Erleben und Reflexion ermöglicht.

Kosuch – These 2: Durch die Auseinandersetzung mit Opern des aktuellen Spielplans (hier an der Staatsoper Stuttgart) nehmen Schülerinnen und Schüler am derzeitigen kulturellen Geschehen ihrer Region teil.

Die zweite These muss aus heutiger Sicht modifiziert werden:

Durch die Auseinandersetzung mit Opern des aktuellen Spielplans (hier an der Staatsoper Stuttgart) nehmen Schülerinnen und Schüler am Geschehen des Musiktheaters und damit an einer Form des kulturellen Lebens ihrer Region teil.

Diese These ist im Bezug zur bisherigen Ausrichtung der Szenischen Interpretation als Unterrichtskonzept an allgemeinbildenden Schulen und im Zusammenhang mit den Baden-Württembergischen Bildungspläne, wie es sie in ähnlicher Form auch in anderen Bundesländern gibt, zu verstehen.

In der Arbeit mit dem Konzept der Szenischen Interpretation stand ein meist

„gängiges“ Werk des Musiktheaters im Zentrum der Arbeit. Die Oper wurde ausgewählt, nicht weil sie auf einem Spielplan eines Opernhauses stand, sondern, weil das Thema schülergeeignet erschien. Dadurch entstand eine

„Abgeschlossenheit“ des Unterrichts nach außen. Man bezog sich zwar auf eine existierende Oper, aber suchte in der Regel nicht den Kontakt zur Institution Oper.

Im Hinblick auf die Situation in Baden-Württemberg gab es in den alten

Bildungsplänen sogenannte Sternchenwerke: Zauberflöte, Freischütz, Fliegender Holländer. Diese Werke mussten vom Lehrer behandelt werden. Das führte dazu, dass Lehrer sich nicht daran orientieren konnten, welche Opern auf dem Spielplan standen, sondern forderten – zum Teil in Briefen an die Intendanz – dass Zauberflöte,

4 Zitiert nach Fink-Eitel (1992), S. 11

Freischütz, Fliegender Holländer auf dem Spielplan des Opernhauses gesetzt werden müssten, da die Bildungspläne diesen Stoff verlangten.

Als ein Produkt der Arbeit der Staatsoper Stuttgart und des „Kontaktkreis Oper und Schule“ im Baden-Württembergischen Ministerium für Kultus und Unterricht konnte erreicht werden, dass die Bildungspläne (1998/2001) überarbeitet und Lehrer

angehalten wurden, sich an den aktuellen Spielplänen der Opernhäuser zu orientieren. Damit wird der Bezug zum aktuellen kulturellen Leben explizit als Bildungsauftrag formuliert.

Oper ist obligatorischer Bestandteil des Musikunterrichts in Baden-Württemberg, so dass diese Veränderung der Bildungspläne die Voraussetzung dafür war, dass Schüler am aktuellen Musiktheaterleben partizipieren können und nicht Opern bearbeiten, von denen keine Aufführung besucht werden kann.

Dr. Annette Schavan, 1996 Kultusministerin in Baden-Württemberg, schreibt in ihrem Vorwort zur Szenischen Interpretation „Die Liebe zu den drei Orangen“:

„Erlebnisraum Oper“ ist der faszinierende Titel einer besonderen Zusammenarbeit der Staatsoper Stuttgart mit dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Diese Zusammenarbeit der künstlerischen Kräfte eines Opernhauses mit Schülerinnen und Schülern, bzw. Lehrerinnen und Lehrern ist für mich ein überzeugendes Beispiel für die stärkere Öffnung von Schule zum kulturellen Umfeld. (Schavan zitiert nach Kosuch 1997a, S.2)

Damit wird die bildungspolitische und kulturpolitische Dimension des Modells deutlich: Schule öffnet sich zum kulturellen Umfeld. Die Szenische Interpretation bildet die Brücke zwischen den Bedürfnissen der Schule und denen der Oper.

Kosuch – These 3: Durch die im Stuttgarter Modell praktizierte Vorbereitung können die Jugendlichen den Status des unbeteiligten Konsumenten verlassen und sich auf der Basis der eigenen szenisch erarbeiteten Interpretation in die Position eines mittelbar Beteiligten begeben.

In der dritten These wird die Modifikation der Haltung eines Opernhauses Schülern gegenüber formuliert. Jugendliche im speziellen und Erwachsene im allgemeinen werden oft von Opernhäusern im Sinne des Marketings als Konsumenten eines kulturellen Produkts (miss-)verstanden. In These 3 wird implizit ein

Paradigmenwechsel formuliert. Die Jugendlichen sind nicht Konsumenten, die durch opernpädagogische Arbeit über den Inhalt aufgeklärt oder belehrt werden, bevor sie

zum Opernbesuch zugelassen werden, sondern sie werden in eine künstlerische, fragende Auseinandersetzung einbezogen, die zwar keine praktische Relevanz auf die Inszenierung selbst hat (siehe hierzu mehr unter Kapitel 4 Junge Oper), sich aber der Form nach dem fragenden künstlerischen Prozess einer Opernproduktion nähert.

Für den Intendanten der Staatsoper Stuttgart, Klaus Zehelein ist „die Vorgehensweise der szenischen Interpretation (...) dabei parallel zu der professionellen Erarbeitung eines Aufführungskonzepts mit dem Produktionsteam zu sehen.“ (Kosuch, 1997a, S.2)

Kosuch – These 4: Durch die handlungsorientierte Arbeit verändern sich die Rezeption und die Fragestellungen der Jugendlichen. Sie sind einerseits emotional beteiligt, zum andern kritisch gegenüber dem konzeptionellen Rahmen und der Realisierung der Inszenierung.

Dies ist die zentrale These, die den Übergang der Szenischen Interpretation von einem Unterrichtskonzept an allgemeinbildenden Schulen hin zu einem Konzept der allgemeinen Opernpädagogik beschreibt. Im wesentlichen wird hier ein Effekt beschrieben, den die Arbeit mit der Szenischen Interpretation bewirkt. Die Szenische Interpretation von Musiktheater, so wie sie in Kapitel 2 beschrieben wird, ist ein gemäßigt konstruktivistisches Konzept. Durch die Arbeitsweise haben Jugendliche gelernt Bedeutung zu konstruieren, Bilder zu lesen, Situationen zu befragen und einen musikalischen Gestus auszudrücken und zu hören. Mit all diesen Erfahrungen und Fertigkeiten kommen sie im Rahmen von „Erlebnisraum Oper“ ins Opernhaus und greifen beim Zuschauen und Zuhören genau auf diese Fertigkeiten und

Erfahrungen zurück. Die Jugendlichen haben nicht nur ein Wissen über die Figuren, sowie ein Expertenwissen über eine spezielle Figur, in die sie sich eingefühlt haben und kennen die Konfliktlinien der Oper, sondern sie haben auch eine emotionale und körperliche Erfahrung mit der Oper. Sie sind in der szenischen Interpretation

konstruktiv, re-konstruktiv und de-konstruktiv tätig gewesen. Das heißt die Schüler übertragen die Art und Weise, mit der sie Bilder, Haltungen, Situationen und Szenen in der Szenischen Interpretation betrachtet haben, auf die Situation im Opernhaus.

Sie sitzen folglich nicht „still und staunend“ im dunklen Zuschauerraum und lassen die Eindrücke auf sich einströmen, sondern sie sind konstruktiv tätig. Sie setzen die

neuen Bilder der Operninszenierung mit ihren Bildern und ihrer Interpretation in Bezug und

a) „lesen“ die Inszenierung,

b) fragen sich, was die Inszenierung ihnen erzählt und

c) konstruieren eine Bedeutung, die sich im Spannungsfeld von emotionaler Erfahrung, Kenntnis der Konfliktlinien und der Interpretation des Regieteams entwickelt oder

d) sie beschreiben die Inszenierung als ungenau oder nicht lesbar.

Eine Verschiebung der Fragestellung in der Betrachtung von Kunst vollzieht sich als Konsequenz aus den Erfahrungen in der „handlungsorientierten Arbeit“ der

Szenischen Interpretation von Musiktheater. Durch die Verschiebung der

Fragestellungen und Beobachtungsweisen entsteht eine Verbindung von kritischer Beobachtungsfähigkeit und emotionaler Beteiligung.

Wie in These vier formuliert wird der Jugendliche zum Experten „seiner“

Interpretation der Oper (oder der Interpretation seiner Lerngruppe).

Hier findet implizit ein Paradigmenwechsel im Bezug auf das vom Opernhaus erwünschte Rezeptionsverhalten statt. Beim Besuch der Aufführung einer Oper geht es nicht mehr darum, dass Jugendliche eine „Botschaft“ dekodieren, also verstehen, was der Komponist und Librettist mit der Oper und Regisseur mit dieser

Inszenierung sagen wollen, sondern darum, dass Jugendliche auf der Basis eigener Erfahrung sowohl emotional beteiligt, als auch kritisch gegenüber der Inszenierung sind. Darin besteht eine Parallele zum im Vorwort zur Szenischen Interpretation der West Side Story formulierten Paradigmenwechsel in der Musikpädagogik:

Insofern ist die szenische Interpretation ein „gemäßigt konstruktivistisches“

Verfahren, das den postmodernen Paradigmenwechsel innerhalb eines definierten pädagogischen Rahmens vollzogen hat: Es geht im Musikunterricht nicht mehr darum herauszubekommen, was „der Meister“ uns sagen will (Didaktik der Musikalischen Kommunikation) oder wie ein Werk „richtig“ verstanden werden soll (Didaktik des Musikverstehens). Es geht vielmehr darum, dass die SchülerInnen sich – wie gesagt:

im pädagogisch vorgegebenen Rahmen! – eine „Bedeutung“ selbst erarbeiten.

(Kosuch/Stroh 1997, S.4)

Kosuch - These 5: Die szenische Interpretation von Opern ermöglicht die Erfahrung, dass die Inszenierung einer Oper das Produkt eines langen Prozesses der Auseinandersetzung ist und sich nicht an Begriffen der scheinbaren objektiven Werktreue oder des Begriffes der Authentizität messen lässt.

In These fünf wird dieser Paradigmenwechsel auch für die Lesart des Werkes durch das künstlerische Team formuliert. Diese These ist in einer intensiven Diskussion mit dem Stuttgarter Opernintendanten Klaus Zehelein entstanden und spiegelt somit die Arbeitsweise der Dramaturgie der Staatsoper Stuttgart wieder. Damit ist diese These zunächst für Stuttgart sehr spezifisch. Klaus Zehelein schreibt:

Neugierde zu wecken, lustvoll neue Hör- und Sehweisen zu entdecken, Vorgegebenes zu hinterfragen, das sind Momente der Arbeitsweise der Staatsoper Stuttgart. Das neukonzipierte Projekt „Erlebnisraum Oper“ greift diese am Haus geführte

Auseinandersetzung mit historischen und zeitgenössischen Opern auf und setzt sie in musikpädagogische Konzepte um. Das künstlerische Werk selbst steht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung und bildet den Rahmen für eine vielschichtige

Entdeckungsreise. Ein zentraler Aspekt ist, dass Jugendliche eine neue Qualität der Wahrnehmung des Musiktheaters erfahren. Die Vorgehensweise der szenischen Interpretation ist dabei parallel zu der professionellen Erarbeitung eines Aufführungskonzepts mit dem Produktionsteam zu sehen. Wir sind an einem neugierigen Publikum interessiert, das sich mit der künstlerischen Form der

musikalischen und szenischen Realisierung der Werke aus neuer, eigenen Erfahrungen heraus kritisch auseinandersetzt.“ (Zehelein zitiert nach Kosuch, 1997a,S.2)

Hier wird von der Intendanz selbst formuliert, dass man nicht an Claqueuren

interessiert ist, sondern an einem neugierigen und kritischen Publikum. So formuliert bedeutet dies, die kulturelle Institution Oper steigt aus ihrem Elfenbeinturm heraus und wendet sich ihrem Publikum zu. Die Aussage bedeutet aber auch, dass sich die Lesart und die Richtung der Interpretation eines Werkes an einem Opernhaus ändert, das heißt dass es hier zu einer Verschiebung der Schwerpunkte in der Inszenierungs- und Aufführungspraxis kommt.

Kosuch – These 6: Das Verfahren der szenischen Interpretation regt zur handelnden, lustvollen und fragenden Auseinandersetzung mit Kunst an.

Die sechste These ist wiederum in Bezug zur Szenischen Interpretation von Musiktheater als Unterrichtskonzept an allgemeinbildenden Schulen zu verstehen.

Die Szenische Interpretation verstand sich bis zur Integration in das Modell

"Erlebnisraum Oper" als ein handlungsorientiertes und erfahrungsbezogenes Unterrichtskonzept, in dem es um die Aneignung von „fiktionaler“ Realität ging.

Diese fiktionale Realität entstammt zwar Werken des Musiktheaters, aber es ging im eigentlichen Sinne nicht um die Auseinandersetzung mit Kunst, sondern um die Persönlichkeitsbildung unter Nutzung der Geschichte einer Oper. Mit der Integration der Szenischen Interpretation von Musiktheater in das Modell „Erlebnisraum Oper“

geht es nun verstärkt um die Auseinandersetzung mit Kunst bzw. der

Kunstproduktion. Dabei geht es aber nicht um ein unreflektiertes Rezipieren oder Konsumieren von Kunst, sondern um einen kommunikativen Akt, der zwischen Betrachter und Betrachtetem auf der Grundlage eines tätigkeitspsychologischen Handlungskonzepts und eines gemäßigten Konstruktivismus entsteht. Insofern ist Kosuch -These 6 kein Desideratum: „Schüler sollen sich handelnd und lustvoll fragend mit Kunst auseinandersetzen“, sondern eine Beschreibung dessen, was real stattfindet, wenn sich Schüler im Rahmen einer szenischen Interpretation mit Kunst (Oper) auseinandersetzen und dann beim Aufführungsbesuch ihre eigene Erfahrung mit einer Kunstproduktion (der Interpretation einer Oper eines Regieteams)

konfrontieren. Lust ist - wie Stroh an vielen Stellen zur Szenischen Interpretation schreibt - nicht Ziel der Arbeit, sondern ein Effekt der Arbeit, der sich einstellt, wenn Schüler Bedeutung im kommunikativen Prozess konstruieren.

„Nicht nur die im deutschsprachigen Raum auflagenstärkste Musikzeitschrift "Praxis des Musikunterrichts" sondern auch die konzeptionellen Windungen von "Musik und Bildung" oder "Musik und Unterricht" spiegeln wider, dass die herkömmlichen Ziele des "Verstehens" weit gehend dem Konzept eines fantasievollen und lustbringenden Umgangs mit Musikstücken gewichen ist. Alles geschieht unter dem Vorwand der Handlungsorientierung. Dabei wird "Spaß haben" oft als ein Ziel bezeichnet. Dies ist ein logischer und terminologischer Irrtum, aber ein sehr bezeichnender Irrtum.

"Spaß" kann kein Handlungsziel sein, sondern ist eine positive Begleiterscheinung und ein Erfolgskriterium. Wenn Schüler beim Zertrümmern eines Musikinstruments

"Spaß" haben, dann hört ja der Spaß auf. Jedes Handlungsziel muss wie auch die dahinter stehende Tätigkeit einen Inhalt haben und Spaß ist kein Inhalt. Wenn

"Spaß" zum Ziel erhoben wird, so kommt in diesem logischen Irrtum eine neuartige Beziehung von SchülerInnen zu Musik zum Ausdruck. Wenn sie nämlich das, was Musik für sie bedeutet, nicht mehr "verstehend" der Musik entnehmen, sondern selbst(bewusst) selbst herstellen ("konstruieren"), so kann es ihnen scheinen, als ob der Spaß, den sie hierbei empfinden, Inhalt ihrer Tätigkeit und Ziel ihrer Handlung ist.“ (Stroh 10/2003b, S. 9)

Aus den Rückmeldungen der Jugendlichen, die die Aufführungen im Anschluss an eine Szenische Interpretation von Musiktheater besuchten und aus Kommentaren und Beobachtungen der in den Projekten beteiligten Lehrer, wurde sehr deutlich, dass Neugierde entsteht, sich mit Kunst auseinander zu setzen. Das heißt

strenggenommen, dass Musiktheaterpädagogen aufgeben sollten, Schüler für die Oper begeistern zu wollen. Sie sollten eher den Kontakt und den Austausch mit Schülern in der Arbeit mit dem künstlerischen Material selbst suchen. Die Neugierde und die Lust auf Kunst entsteht dann von selbst, wenn der Arbeitsprozess präzise, spannend und befriedigend war (siehe auch Kapitel 6 S.207).

Im folgenden geht es darum, zu untersuchen, ob mit dem Besuch der Aufführung im Opernhaus/Theater und mit dem Gespräch mit Künstlern und dem Blick hinter die Kulissen Erfahrungslernen initiiert und vertieft wird (siehe Ebene (b) und (c) S. 45 ).

Es soll nun durch die Formulierung und Begründung von weiteren 4 Thesen (Kosuch Thesen 7 – 10) gezeigt werden, dass mit dem Aufführungsbesuch, dem Gespräch mit Künstlern und dem Blick hinter die Kulissen im Rahmen von

„Erlebnisraum Oper“ Erfahrungslernen initiiert und vertieft wird.

Kosuch –These 7: Der Aufführungsbesuch im Rahmen von „Erlebnisraum Oper“

dient der vertiefenden Verarbeitung von Erlebnissen aus der Szenischen Interpretation. Er dient in dieser Hinsicht dem Erfahrungslernen.

Kosuch –These 8: Der Aufführungsbesuch im Rahmen von „Erlebnisraum Oper“ ist ein eigenständiges Erlebnis, das auf der Basis der Fähigkeiten und

Erfahrungen aus der szenischen Interpretation während und nach der Aufführung zur Erfahrung verarbeitet wird.

Kinder und Jugendliche sind nach einer szenischen Interpretation Experten ihrer Interpretation. Sie haben sich mit einer Figur aus dem Werk emphatisch

auseinandergesetzt und haben sich eine Bedeutung erarbeitet. Sie haben Erfahrungen im Lesen und Interpretieren von Bildern, Szenen und Musik und haben eine eigene Interpretation konstruiert. Wenn sich nun Kinder und Jugendliche entscheiden, auf der Grundlage dieser Erfahrung eine Aufführung zu besuchen, sind sie sich in der Regel im klaren darüber, dass sie nun etwas Neues zu sehen bekommen – etwas was ihre Interpretation stützt oder in Frage stellt. Sie sind sich darüber im klaren, dass sie sich nun in eine neue Situation begeben.

Jeder Aufführungsbesuch ist ein Erlebnis. Im Hinblick auf das Erfahrungslernen stellt sich jedoch die Frage, ob hier auch ein Erfahrungslernen initiiert wird. Das Erfahrungslernen setzt voraus, dass die Erlebnisse zu Erfahrungen verarbeitet werden (Stroh These 5).

Der Opernbesuch im Kontext von Erlebnisraum Oper geht über ein bloßes Opernerlebnis hinaus, da dieser Besuch auf zwei Ebenen wirkt bzw. stattfindet:

a) Der Opernbesuch ist die Konfrontation der eigenen Erlebnisse und

Erfahrungen aus dem Prozess der Szenischen Interpretation von Musiktheater mit einer Inszenierung. Durch die Impulse, Bilder und Eindrücke aus der Inszenierung entstehen neue Bedeutungen und Verarbeitungsleistungen der