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2.6.1. Einfühlung über Musik

Scheller bezieht sich bei der Einfühlung in eine Rolle auf Stanislawski und Brecht (Scheller 1998 S. 29 f). Er beschreibt insbesondere zwei Wege die zur Einfühlung führen.

(1) Sinnliche Vorstellungen (von innen nach außen): Hier führt Scheller

Erfahrungen von Stanislawski (1983, S. 193 ff) und Strasberg (1978, S. 64 ff) an. Durch die Aktivierung sinnlicher Vorstellungen, die es ermöglichen auf ein Repertoire von Erlebnissen zurückzugreifen, die mit gefühlsintensiven Wahrnehmungen verbunden waren. Die innere Vorstellung, die das emotionale Gedächtnis aktivieren und Vorstellungen aber auch

Körperhaltungen und Bewegungsarten hervorrufen. Der Spieler entwickelt eine innere Vorstellung von der Figur und deren Emotionalität und kommt darüber zu einer äußeren Haltung.

(2) Körperliche Haltungen (von außen nach innen): „Schon Brecht vertrat die Auffassung, dass nicht nur Stimmungen und Gedankenreihen bestimmte Haltungen und Gesten, sondern dass auch Haltungen und Gesten

Stimmungen und Gedankenreihen hervorbringen können (vgl. Steinweg 1976, S. 41)“ (Scheller 1998, S. 30). Das heißt, dass die Nachahmung von Körperhaltungen und Bewegungsarten, die beispielsweise historischen Bildern entnommen sind, Zugang zu Gefühlen und Gedanken liefern.

Darüber hinaus benennt Scheller noch zwei weitere Wege, die für die Einfühlung hilfreich sein können, die meines Erachtens aber auf einer anderen Ebene liegen. Das sind

(3) Sprachliches Handeln, durch das die Spielenden sich in einen inneren und äußeren Kommunikationsprozess begeben und damit mit sich und anderen Menschen in Beziehung treten. Dieses Sprachliche Handeln kann aber ebenfalls von innen heraus (siehe (1)) über experimentieren mit Lautstärke, Tonfall etc, erfolgen oder über die Imitation von Sprechhaltungen, die beispielsweise von Tonträgern abgenommen sind.

(4) Soziale Beziehungen, die die Person prägen. Die Wirkungen der sozialen Beziehungen sind verbunden mit der Differenz zwischen Selbst- und

Fremdbild und können ebenfalls über den ersten Weg (1) die innere Vorstellung von politischen, sozialen Denkmustern aktiviert oder über den zweiten Weg (2) über die Nachahmung Gruppenspezifischer Gesten, Haltungen und Bewegungsformen erzeugt werden.

Dies ist im Hinblick auf die Verwendung von Musik zur Einfühlung in Figuren von Interesse. Im Konzept der Szenischen Interpretation von Musiktheater nimmt die Einfühlung über Musik eine zentrale Stellung ein. An dieser Stelle soll zunächst das Hören von Musik mit dem Zweck der Einfühlung thematisiert werden und im weiteren Verlauf auch auf das Singen bezuggenommen werden.

In Anlehnung an die ersten beiden Wege (1) und (2), die Scheller als wesentlich für die Einfühlung benennt, kann Musik beide Funktionen erfüllen und dadurch die Einfühlung verstärken.

These: Ein Musikstück erzeugt sinnliche Vorstellungen [Weg (1)] und körperliche Haltungen [Weg (2)] und ist damit im Sinne Stanislawskis/ Strasbergs und Brechts ein ideales Medium, um Einfühlungsprozesse zu initiieren.

Durch den Rhythmus und das Tempo gibt die Musik einen äußeren

Bewegungsimpuls und erzeugt so eine körperliche Haltung [Weg (2)], die zur Einfühlung in die Figur genutzt werden kann. Durch die Klanglichkeit, zum Beispiel in Form einer Melodie oder eines Sounds, erzeugt Musik eine emotionale

Atmosphäre, die beim Spielenden im Einfühlungsprozess sinnliche Vorstellungen aktivieren [Weg (1)]. Darüber hinaus können Rhythmen (Märsche, Walzer etc.) auch sinnliche Vorstellung aktivieren und Tempi eine Emotionalität erzeugen – z.B.

prestissimo könnte ein gehetztes Gefühl, ein andante eine Gelassenheit erzeugen.

Interessant dabei ist, dass Musik als vorsprachliches Phänomen deutungsoffen bzw.

multivalent ist. Musik ist im Sinne Stanislawskis ein ideales Mittel zur Einfühlung.

In diesem Zusammenhang ist es im weiteren interessant zu untersuchen, in wieweit Musik der Forderung Kersten Reichs dienen kann, das Imaginäre in den

Kommunikationsprozess von Schule und Hochschule verstärkt zu integrieren.

2.6.2. Gestisches Singen und Sing-Haltungen

Das gestische Singen und die Arbeit an Singhaltungen im Kontext einer szenischen Interpretation unterscheidet sich grundsätzlich vom chorischen Singen und tradierten Formen des Gesangs. Bei der Erarbeitung von Singhaltungen wird immer ein

konkreter Bezug zwischen Lied, Text und Handlungssituation hergestellt, in der der Gestus der Situation erfasst bzw. konstruiert wird. Beim gestischen Singen und der Arbeit an Sing-Haltungen experimentieren die Schüler in der Regel mit

unterschiedlichen Ausdrucksformen, die zu Lied, Text und Handlungssituation

„passen“ (Rekonstruktion) oder im Widerspruch dazu stehen (Dekonstruktion), um ihre Interpretation zu entwickeln (Konstruktion).

Stellt man das chorische Singen (mit Notenblatt in der Hand und in Choraufstellung) und den „klassischen Gesang“ (mit oder ohne Noten, frei oder am Klavier stehend) in den Kontext des gestischen Singens und der Arbeit an Singhaltungen, so lassen sich diese beiden Formen als nur zwei spezifische zur Zeit immer noch dominante Formen möglichen Singhaltungen beschreiben. Das heißt, dass man auch das chorische Singen und die tradierten Formen des Gesangs unter der Überschrift

„gestisches Singen“ subsumieren kann (siehe Abbildung 2-3).

Arbeit an Sing-Haltungen

A B

Ausdruck/Ebene äußeren Haltung (Körperhaltung)

Innere Haltung (Emotion/Einstellung) Ausdruck 1 Auf einem Bein stehen Verzweifelt

Ausdruck 2 Auf dem Boden liegen Gelangweilt

Ausdruck 3 Auf den Knien Auf die Klanglichkeit achten, indem man jeden Ton genau trifft und musikalische Anweisungen befolgt Ausdruck 4 Einen Sack tragen Alle musikalischen Anweisungen

ignorieren

Ausdruck 5 Aufrecht im Kreis stehen Versuchen keinen Ton zu treffen (musikalischer Protest)

Ausdruck 6 Sich aneinander festhalten Schreiend Ausdruck 7 Einer Arbeit nachgehen Belustigt

Ausdruck ... ... ...

Abb. 2-3 Erläuterung:

Bei der Arbeit an Singhaltungen, können alle Möglichkeiten von A mit allen Möglichkeiten von B kombiniert werden. So führt nach dieser Tabellen die Kombination von (A 5) mit (B 3) zur tradierten Form des chorischen Singens im Kontext der Arbeit an Sing-Haltungen.

Im Kontext der Rolleneinfühlung sieht der zweite Weg (2) so aus, dass Schüler beispielsweise eine Gesangsphase von einer Toneinspielung (siehe Wozzeck, Stroh

1994 S.28 f.; Die Liebe zu den drei Orangen, Kosuch 1997, S. 16) imitieren, um über die Nachahmung Zugang zu Emotionalität und zur Gedankenwelt der Figur zu bekommen.

Im Hinblick auf den ersten Weg (1) gehen Schüler mit einem Textausschnitt von einer Sprech-Haltung zu einer Sing-Haltung über und konstruieren eine aus ihrer Sicht passende musikalische Phrase, die Ausdruck des Selbstbildes und der Überzeugungen der Figur sind (siehe Cosi fan tutte, Kosuch 2002 S. 13/14).

Die Gegenüberstellung der konstruierten Gesangsphrase mit einer Toneinspielung hat sowohl dekonstruktive als auch rekonstruktive Momente. Im Moment des Hörens wird die Sichtweise der Figur des Spielers gestört und in Frage gestellt

(Dekonstruktion). Gleichzeitig wird über die Fragestellung „Welche zusätzlichen Informationen erhalten wir vom Komponisten über die Figur?“ ein Prozess initiiert, der dazu dient, durch Bezugnahme auf die musikalische Interpretation des

Textabschnitts des Komponisten, die eigene Konstruktionsarbeit zu ergänzen und damit zu einem differenzierteren Bild der Figur zu kommen.

In der Beschreibung des Prozesses wird deutlich, dass hier die drei Postulate von Reich voll erfüllt sind.

1. Postulat: „So viel Konstruktion wie möglich!“

Da die Schüler mit der Konstruktionsarbeit beginnen, nimmt der Vorgang der Konstruktion den meisten Raum ein. Sie erfinden die Wirklichkeit, indem sie ihre musikalische Phase unabhängig vom Komponisten entwickeln. Und die Schüler setzen sich ein erweitertes Bild der Figur zusammen, nachdem sie die Musik gehört und sich über die Wirkung ausgetauscht und sich haben ver-stören lassen.

2. Postulat: "Keine Rekonstruktion um ihrer selbst willen!“

Die Rekonstruktionsarbeit, das Nachvollziehen und Hören der Interpretation des Komponisten findet hier nicht um ihrer selbst willen statt, sondern diese

Rekonstruktion steht im Kontext des von den Schülern bereits entwickelten musikalischen Ausdrucks einer Textpassage. Die Fragestellung: „Welche

zusätzlichen Informationen erhalten wir vom Komponisten über die Figur?“ lenkt dabei die Rekonstruktionsarbeit. Es geht um Ergänzung, nicht um Korrektur oder gar um die „richtige“, „professionelle“ Interpretation. In diesem Prozess wird Schülern bewusst, dass die Komposition eine mögliche Interpretation des Textes ist, die eine spezifische Facette der Figur beleuchtet.

3. Postulat: „Keine Konstruktion ohne Ver-Störungen!“

Die Konstruktionsarbeit der Schüler bleibt aber nicht ungestört. Würde der Prozess der Rolleneinfühlung bei der Erfindung einer Gesangsphrase stehen bleiben, wäre der Konstruktionsprozess ungestört.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in der beschriebenen Sequenz

„Rolleneinfühlung“ über die Erfindung einer Gesangsphrase und der Konfrontation mit der Musik ein Arbeitsprozess beschrieben wird, der die drei Postulate Kersten Reichs erfüllt (siehe auch Kapitel 6.1).