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3. Zum Geschlechterregime in der Schweiz

3.3 Sorgearbeit

3.3.1 Mutterschaftsurlaub

Seit 2005 haben weibliche Beschäftigte endlich das Recht auf 14 Wochen bezahlten Mutterschaftsurlaub, bei dem 80% des Lohnes (mit einem Höchst-betrag) ersetzt wird. Dies wird über Lohnabzüge finanziert. Erst die Einfüh-rung der MutterschaftsversicheEinfüh-rung schuf eine Grundlage, Elternurlaube zu fordern, was im nationalen Parlament auch zunehmend geschieht (vgl. Kapi-tel 4.7). Bis auf einige Großunternehmen und öffentliche Arbeitgeber gibt es aber keine Ansprüche auf bezahlte oder unbezahlte Elternzeit.36 Rechtlichen Anspruch haben Väter nur auf einen Tag bei der Geburt ihres Kindes (Art.

329, Abs. 3 Obligationenrecht). Bei einigen kantonalen Arbeitgebern sind nach dem Mutterschutz auch die Ansprüche von Müttern besser als von Vä-tern (Fuchs 2008a, Pärli 2016, S. 952–953). Das ist erstens ungerecht und zweitens problematisch, denn die einseitige Adressierung von Frauen bei sog.

familienfreundlichen Maßnahmen verstärkt die geschlechtsspezifische Un-gleichverteilung der Sorgearbeit (Liebig 2014, S. 209) und mittelbar auch die unterschiedliche Erwerbsbeteiligung von Müttern und Vätern. Nur wenige Modelle für einen Vaterschaftsurlaub, die in den letzten Jahren als Vorstöße im Parlament eingereicht wurden, würden Anreize bereitstellen, bezahlte Zeiten zur Kleinkindbetreuung tatsächlich paritätisch aufzuteilen (vgl. Vala-rino 2016, s. a. Kapitel 4.7). Die Einführung der Mutterschaftsversicherung hat Diskussionen um Elternzeit ermöglicht, die vorherrschende, aber oft

36 Fuchs 2008a; 35% der Großunternehmen über 250 Beschäftigte (das sind etwa 800 Firmen insgesamt) bieten „Vaterschaftsurlaub“ (d.h. Tage bis wenige Wochen bezahlte oder unbe-zahlte Freistellung), aber nur 9% der Betriebe mit 10-249 Beschäftigten, vgl. „Löhne, Er-werbseinkommen – Indikatoren Lohnnebenleistungen (Fringe-Benefits) – 2010“, www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/arbeit-erwerb/loehne-erwerbseinkommen-arbeitskosten/lohnniveau-schweiz/lohnkomponenten.assetdetail.528370.html (4. April 2017).

unausgesprochene traditionelle Vorstellung bleibt weiterhin bestehen: dass nämlich vor allem Frauen kleine Kinder betreuen sollten.

3.3.2 Kinderbetreuung

Seit der Jahrtausendwende hat sich die Situation der familienexternen Kin-derbetreuung verändert. Nichtinstitutionalisierte Betreuung, vor allem durch die Großeltern, ist immer noch wichtig, u. a. wegen der Flexibilität („Krippe Grosi“, vgl. Bauer und Strub 2002). Schweizweit wird mittlerweile in 57%

der Haushalte mit Kindern unter 13 Jahren eine familienergänzende Betreu-ung in Anspruch genommen. Ein Drittel der Haushalte greift auf institutiona-lisierte Angebote und ggf. nicht-institutionainstitutiona-lisierte Formen zurück, knapp 36% nutzen nur nicht-institutionalisierte Formen. Die Nutzung von instituti-onalisierten Angeboten schwankt aber je nach Kanton zwischen 16% und 60%: in „Metropolräumen“ sind Krippen oder Kitas wesentlich häufiger als in ländlichen Gebieten (Bundesamt für Statistik 2017a, S. 47–48). Eine Stu-die von 2013 kam zum Schluss, dass nur für 11% der Vorschulkinder und für 8% der Schulkinder ein Vollzeit-Betreuungsplatz zur Verfügung steht. Dabei sind die Plätze vor allem in städtischen Regionen besonders in der West- und Nordschweiz konzentriert. Die Studie wies einen Zusammenhang zwischen der Erhöhung des Betreuungsangebots mit höheren Vollzeit-Erwerbsquoten von Müttern nach und kam daher zum Schluss, dass Kinderbetreuungsange-bote die Gleichstellung der Geschlechter fördern (Stern et al. 2013). Insge-samt hat das Impulsprogramm des Bundes zwischen 2003 und Mitte 2016 mittels Subventionen zur Schaffung von 52.000 neuen Betreuungsplätzen beigetragen (Bundesamt für Statistik 2017a, S. 47).

Die Finanzierungsmodalitäten und die Chancen, ein Kinderbetreuungsan-gebot in einer Gemeinde durchzusetzen, schwanken je nach politischen Mehrheitsverhältnissen und den Vorschriften der jeweiligen Kantone. Hinzu kommen schichtspezifische Nutzungsmuster von Kinderbetreuungsangeboten (Zollinger und Widmer 2016); je höher die Bildung der Mutter und je höher das Haushaltseinkommen, desto wahrscheinlicher werden formelle Betreu-ungsangebote genutzt. Zumindest für einen Teil dieser Unterschiede sind die unterschiedlichen Bedarfslagen verantwortlich. Flexible, entgrenzte oder Randarbeitszeiten vor allem im Niedriglohnbereich erfordern häufig flexible Betreuungszeiten auch an Tagesrandlagen, die institutionalisierte Angebote nicht leisten können, so dass Eltern manchmal von vornherein Krippen oder Kitas nicht in Betracht ziehen. Sie suchen dann „kreative“ Kombi-Lösungen.

Dabei stehen Familien mit einem kleinen sozialen Netzwerk tendenziell vor größeren Problemen als andere (vgl. Fuchs und Mateos 2015). Kulturelle Leitbilder haben nur teilweise Einfluss auf die Nutzung, und zwar senken

traditionelle Einstellungen zur Mutterschaft die Wahrscheinlichkeit der Nut-zung formeller Angebote (Schmid et al. 2011, S. 20–21 für Vorschulkinder).

Insgesamt sind die Kosten für Eltern in der Schweiz im internationalen Vergleich hoch und diese hohen Kosten beeinflussen die Nachfrage stark: wo die relativen Kosten steigen, sinkt die Nachfrage. So erklärt sich auch zum Teil die Schichtspezifik: für besser ausgebildete Mütter übersteigt der erziel-bare Lohn eher die Kosten der Betreuung als bei weniger gut Ausgebildeten (Schmid et al. 2011, S. 13).

Der überwiegende Anteil unbezahlter Sorgearbeit, nämlich 92%, wird in der Schweiz für die Betreuung von Kindern erbracht, doch der Anteil der Sorgearbeit für Kranke und Alte steigt in einer alternden Gesellschaft. Etwa ein Drittel der Care-Arbeit für Erwachsene ist unbezahlt (Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann 2010, S. 7–9). Ver-schiedentlich wird in der Literatur eine „Sorgekrise“ konstatiert (zum Begriff Knobloch 2013), dass also Bedürfnisse nach Betreuung nicht ausreichend (gut) erfüllt werden können und dass die Arbeitsbedingungen der Betreuen-den zu schlecht sind. Die Gründe für diese Krise sind vielfältig: wachsender Erwerbsdruck und steigende Erwerbsquoten von Frauen, veränderte Lebens-formen und steigende Nachfrage sowie Kostendruck im Gesundheitswesen (Brüschweiler und Wigger 2014, S. 215). Viele pflegende weibliche Angehö-rige müssen ihre Erwerbsarbeit reduzieren oder ganz aufgeben, von Stress und chronischer Belastung nicht zu reden (vgl. Perrig-Chiello et al. 2010).

Die öffentliche Hand hält sich mit dem Ausbau ihrer Angebote zurück. Zu-sätzlich wird auch ein großer Teil der Langzeitpflege in der Schweiz privat bezahlt, nämlich über 60%, während es im OECD-Durchschnitt nur 15% sind (Schilliger 2013, S. 148). Dies bietet einen großen Markt für private Care-Dienstleister. Diese erzielen via Markt Gewinne primär über Billiglöhne, und auch dann sind die Kosten für eine Pflege selbst bei sehr gutem Verdienst kaum zu tragen. Vor allem ausländische Frauen sind in diesem Sektor unter prekären, oft auch illegalen Arbeitsbedingungen beschäftigt (Brüschweiler und Wigger 2014, S. 216).

Kinderbetreuung wird heute nicht mehr nur als private, sondern als teil-weise öffentliche Angelegenheit definiert. Ihr Ausbau wird in Parlament und öffentlicher Diskussion zunehmend mehrheitsfähig; das Parlament hat bereits zwei Mal die Anschubfinanzierung des Bundes für Kinderbetreuungseinrich-tungen verlängert. Ein solcher Ausbau wird dabei immer öfter mit ökonomi-schen Argumenten gestützt: Der Arbeitsmarkt könne nicht auf gut ausgebil-dete Frauen verzichten und volkwirtschaftlich würden die Ausbildungskosten verschwendet, wenn Frauen lange zuhause blieben oder nur wenig arbeiten könnten. Dabei ist in der öffentlichen Diskussion eine Elitenfixierung unver-kennbar, also ein fast ausschließlicher Bezug auf hochqualifizierte Frauen.

Hingegen wird im vorherrschenden Marktmodell der Care-Arbeit für Er-wachsene die Sorgeverantwortung „individualisiert, privatisiert und

femini-siert“ (Brüschweiler und Wigger 2014, S. 217). In der Lebenslaufperspektive kumulieren sich dadurch für viele Frauen die Nachteile: unbezahlte Care-Arbeit, unterbrochene Erwerbsbiografien, Dequalifizierung, Teilzeitarbeit verschlechtern die soziale Absicherung (Liebig 2014, S. 210).

Die aktuellen Entwicklungen bei der Sorgearbeit haben also starke soziale Strukturierungseffekte im Wohlfahrtsregime. Sie verschärfen die Ungleich-heit unter Frauen und zwischen Frauen und Männern: Gleichstellungsfort-schritte, die durch den Ausbau der Kinderbetreuung ermöglicht werden, näm-lich eine höhere und qualifiziertere Erwerbstätigkeit von Müttern, werden konterkariert durch prekäre Beschäftigungsbedingungen in den Betreuungs-einrichtungen; hier arbeiten vornehmlich Frauen mit bescheidenen Löhnen und häufig einem geringen Anstellungsumfang, was ihnen keine eigenständi-ge Existenzsicherung ermöglicht (Zollineigenständi-ger und Widmer 2016). Bei steieigenständi-gen- steigen-der Nachfrage und fehlenden Standards bei Ausbildungsanforsteigen-derungen und Löhnen geraten gerade in der Betreuung von Schulkindern die Arbeitsbedin-gungen unter Druck (Flitner und Marti 2014). Tendenziell noch problemati-scher ist es, dass die rechtliche Regulierung des Arbeitsplatzes Privathaushalt nicht weit fortgeschritten ist. Einige meinen gar, der Gesetzgeber dulde den neu entstehenden Billiglohnsektor bewusst, da politische Initiativen zur Le-galisierung von Arbeitsverhältnissen von Sans-Papiers, die Ratifizierung (und Umsetzung) der ILO-Konvention für Hausangestellte (Nr. 189) und Forde-rungen zur Professionalisierung dieses Arbeitsbereichs nur zögerlich bearbei-tet werden (Brüschweiler und Wigger 2014, S. 217, Überblick zu

[menschen-]rechtlichen Aspekten der Pendelmigration bei Medici 2016, zum Thema generell die zahlreichen Publikationen von Sarah Schilliger).

Möglicherweise ist die Arbeit im Privathaushalt ein Thema, das vor allem gewerkschaftlich bearbeitet werden muss, und zwar zusätzlich zu den übli-chen gewerkschaftliübli-chen Strategien auch mit Rechtsmobilisierung, 37 wie es vereinzelt bereits geschieht. So kam im Oktober 2014 in Basel ein Gericht zum Schluss, dass einer im Haushalt wohnenden Pflegerin, die 24 Stunden auf Abruf war, die Bereitschaftszeit mit 50% des normalen Stundenlohns zu vergüten sei.38 Die Klägerin wurde dabei von der Gewerkschaft VPOD unter-stützt. Aufgrund eines parlamentarischen Vorstoßes39 ließ der Bundesrat einen Bericht zur Pendelmigration sowie eine Regulierungsfolgenabschät-zung erstellen; im Sommer 2017 hat er sich erneut für eine schwache Regu-lierung entschieden: Erwerbstätige im Privathaushalt sollen weiterhin nicht dem Arbeitsgesetz unterstellt sein. Stattdessen wird den Kantonen empfoh-len, Normalarbeitsverträge zu erarbeiten, die im Gegensatz zu heute nicht nur Lohnhöhe, sondern auch weitere Arbeitsbedingungen festschreiben. Würden

37 Siehe respekt-vpod.ch, zu Gerichtsprozessen als Alternative zum parlamentarischen Pro-zess (vgl. Fuchs 2012a).

38 Zivilgericht des Kantons Basel-Stadt, Gs.2013.32 vom 27.10.2014.

39 Schmid-Federer 12.3266.

Pikettzeiten von im Haushalt wohnenden Pflegekräften entlohnt, könnten die Mehrkosten (bis zu 500 Mio. Franken p. a.) nämlich das aktuelle Pflegere-gime in der Schweiz aus den Angeln heben.40

Bei der Kinderbetreuung verläuft die Debatte hingegen etwas anders. Da zahlreiche Studien nachweisen, wie positiv familienergänzende Kinderbe-treuung auf die Sozialisation und persönliche Entwicklung von Kindern all-gemein und gerade von fremdsprachigen Kindern wirkt, müsste es nicht nur unter Gleichstellungs- sondern auch Integrationsgesichtspunkten das Ziel sein, eine qualitativ hochstehende, kostengünstige oder kostenlose, stark subventionierte und gut zugängliche Kinderbetreuung auszubauen (Müller und Balthasar 2014, S. 14–19). Die OECD empfiehlt seit langem, für die (vorschulische) Kinderbetreuung etwa 1 Prozent vom BIP vorzusehen. Von den Kantonen, die hierzu überhaupt Zahlen vorlegen, ist Zürich mit 0,2 Pro-zent des BIP für schulergänzende Betreuung Spitzenreiter (vgl. Flitner und Marti 2014). Insgesamt sind also Tätigkeiten, die traditionell weiblichem Arbeitsvermögen zugeschrieben und nicht bezahlt wurden (vgl. Bock und Duden 1977) etwas später als in Deutschland in den letzten 20 Jahren in den Fokus der gesellschaftlichen Diskussion gerückt. Besonders in der Kinderbe-treuung hat dies Veränderungen herbeigeführt.