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Die Entwicklung deskriptiver Repräsentation

3. Zum Geschlechterregime in der Schweiz

4.5 Deskriptive politische Repräsentation

4.5.2 Die Entwicklung deskriptiver Repräsentation

Seit 1971 bis nach der Jahrtausendwende haben Schweizer Frauen kontinu-ierlich in den Parlamenten und Regierungen aufgeholt. Der Frauenanteil pendelt zwischen einem Viertel und gut 30%: seit 1993 gab es immer min-destens eine Frau in der siebenköpfigen Regierung, dem Bundesrat (zur Wahl vgl. Kapitel 4.6). Nach einem kurzen Intermezzo 2010/11 mit einer Frauen-mehrheit sind zurzeit, Anfang 2018, nur zwei Frauen in der Regierung. In der ersten Kammer, dem 200-köpfigen Nationalrat, beträgt der Frauenanteil 32%.

Der Ständerat, die Vertretung der Kantone mit 46 Mandaten, wird nach dem Majorzverfahren gewählt. Hier sank der Frauenanteil vom Höchststand von 24% im Jahr 2003 auf heute 15%.65 Im europäischen Vergleich nimmt die Schweiz ein mittlere Position ein – deutlich vor südeuropäischen Ländern, deutlich hinter skandinavischen Ländern und Deutschland (Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann und Sektion für Chancen-gleichheit und Globale Gender- und Frauenfragen 2014, S. 60–61).

In kantonalen Regierungen betrug Mitte 2017 der durchschnittliche Frau-enanteil 24%. Im Kanton Wallis wurde erst 2009 überhaupt eine Frau in die Regierung gewählt (Esther Waeber-Kalbermatten, SP). In den Kantonsparla-menten beträgt der Frauenanteil zurzeit 27%.66 Die kantonalen Unterschiede sind erheblich – es gibt Kantonsparlamente mit Werten um 15% (Wallis, Schwyz), aber auch Kantone mit einem (guten) Drittel wie in den beiden Basel oder Zürich, Bern und Aargau. In den Gemeinden mit über 10.000 Einwohner*innen bietet sich in etwa das gleiche Bild: Der Frauenanteil in den Exekutiven betrug 2016 26%, in den Gemeindeparlamenten durch-schnittlich 31%.67 Zudem lässt sich auf allen politischen Ebenen eine

Stagna-unerklärte Reste in ihrer Partizipation bestehen bleiben (Westle 2001) und daher die sozio-ökonomischen Faktoren zur Erklärung ungleicher Partizipation und Repräsentation nicht ausreichen.

65 www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/politik/wahlen/frauen.html (28. Juli 2017).

66 www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/politik/wahlen/frauen.html (28. Juli 2017).

67 www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/politik/wahlen/frauen.html (28. Juli 2017).

tion seit 2000 feststellen: seitdem sind die Frauenanteile nicht mehr deutlich und nachhaltig gestiegen.

In Parlamenten sowie Regierungen waren und sind Frauen bei linken Par-teien (SP, Grüne) auch dank ihrer parteiinternen Quotenregeln stets besser vertreten als bei liberalen, konservativen und christlichen Parteien. Im Parla-ment liegt 2017 der Frauenanteil bei der SP bei 58%, bei der Schweizeri-schen Volkspartei hingegen nur bei 17%. Ähnliche Tendenzen zeigen sich ebenfalls in den Kantonen.68

Abbildung 3: Frauenanteile in den Eidgenössischen Räten und in Kan-tonsparlamenten, 1971 – 2017

Quelle: Daten des Bundesamts für Statistik

Wie lassen sich die Entwicklung der Repräsentation und die kantonalen Un-terschiede erklären? Für die politische Kultur ist im internationalen Vergleich der Zeitpunkt der Einführung des Frauenwahlrechts ein aussagekräftiger Indikator.69 Die Korrelation zwischen Einführung des Frauenwahlrechts und dem Frauenanteil in nationalen Parlamenten wird allerdings im Zeitverlauf schwächer (Fuchs und Scheidegger 2016, S. 207–208). In einem Kantonsver-gleich konnte Yvan Rielle (2005) die herausragende, statistisch hochsignifi-kante Bedeutung der Geschlechterkultur für die Frauenanteile in politischen

68 Vgl. www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/politik/wahlen/frauen.html (28. Juli 2017).

69 Ronald Inglehart und Pippa Norris (2003) bezeichnen die immensen Einstellungsunter-schiede zur Geschlechtergleichheit zwischen westlichen und islamischen Staaten sogar als den wahren „clash of civilisations“ (Huntington); gleichzeitig erfreut sich Demokratie bei der Bevölkerung islamischer Länder gleich großer Beliebtheit wie im Westen.

0 5 10 15 20 25 30 35

1971 1975 1979 1983 1987 1991 1995 1999 2003 2007 2011 2015 2017

Nationalrat Ständerat

Kantonsparlamente

Gremien zeigen; die fast durchgängig stärker waren als institutionelle oder sozialstrukturelle Faktoren. Geschlechterkultur wurde hier verstanden als die in einer Gesellschaft dominierenden Werte, Normen und Leitbilder zum Verhältnis der Geschlechter untereinander, die das Fundament zur Rechtfer-tigung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten bilden (vgl. Pfau-Effinger 1998). Geschlechterkultur wurde von Rielle dabei mit den kantonalen Zu-stimmungsraten zu wichtigen gleichstellungsrelevanten eidgenössischen Vorlagen operationalisiert. Allerdings kann dieser Zugang nicht erklären, wie eine solche Geschlechterkultur zustande kommt und wie sie sich verändert – dies wäre für eine gleichstellungspolitische Strategie, die eine ausgeglichene politische Partizipation fördern will, jedoch außerordentlich wichtig (Zürcher 2013, S. 50).

Hinsichtlich institutioneller Faktoren haben zahlreiche Studien gezeigt, dass Proporzwahlrecht, große Wahlkreise und die Zahl der Mandate pro Partei die parlamentarische Repräsentation von Frauen im Parlament positiv beeinflusst (Überblick bei Krook und Schwindt-Bayer 2013). Zudem sind politische Parteien zentrale Akteurinnen im politischen System und Gatekee-per (Überblick bei Kittilson 2013). Ein Wahlsystem, das Repräsentativität und Inklusion zu maximieren sucht, kann künftige Politikerinnen ermutigen und Parteien dazu animieren, eine ausgewogene und vielfältige Wahlliste („balanced ticket“) aufzustellen. Dezentral-formalisierte Rekrutierungspro-zesse in den Parteien begünstigen eine stärkere Repräsentation von Frauen (Norris 2000), informelle und zentralisierte Verfahren eignen sich hingegen weniger gut. Über die Nominationspraktiken der schweizerischen Parteien ist in der Forschung kaum etwas bekannt. Es wäre jedoch besonders interessant, aktuelle Erkenntnisse dazu zu generieren. Zwar sind Schweizer*innen etwa im europäischen Durchschnitt Parteimitglieder und die Parteien haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten professionalisiert, dennoch ist ihre eigentliche Parteiorganisation klein (Ladner 2014). Als Vereine nach dem ZGB unterlie-gen Schweizer Parteien weniger strenunterlie-gen Anforderununterlie-gen an innerparteiliche Demokratie als z. B. deutsche Parteien nach dem Parteiengesetz (vgl. Schiess Rütimann 2011): nicht alle Parteien nominieren ihre Kandidierenden an Par-teiversammlungen. Eine Untersuchung zur Frauenrepräsentation in den Eid-genössischen Räten 1995 bis 2003 zeigte, dass der frauenfreundliche Charak-ter des Proporzwahlrechts vor allem bei den Nominierungsstrategien der Parteien zum Tragen kommt; in rechten Parteien und in kleinen Kantonen wurden wesentlich weniger Frauen auf die Listen gesetzt bzw. eher ans un-günstige Ende der Listen. Andererseits waren die Unterschiede bei den Wahlchancen (also auf einen Mandatsgewinn) von Frauen in rechten und in linken Parteien nicht sehr weit auseinander (Buetikofer et al. 2008). Ge-schlechter-Quoten, die in der Schweiz als parteiinterne Quoten bei linken und grünen Parteien vorkommen, wirken daher als Nominationsregeln vermittelt

auf die politische Repräsentation von Frauen.70 In international vergleichen-der Perspektive lässt sich folgern, dass institutionelle Faktoren in unter-schiedlichen politisch-kulturellen Kontexten unterschiedliche Wirkungen entfalten: ohne politischen Willen ist auch ein Verhältniswahlsystem kein Garant für eine hohe Präsenz von Frauen im Parlament (Schmidt 2009, Fuchs und Scheidegger 2016).

Frauensektionen können eine starke Lobby innerhalb der Parteien für die Nominierung von Kandidatinnen darstellen (für Basel-Landschaft vgl. (Fuchs 2008b, S. 74–77); alle Bundesrats-Parteien außer der BDP verfügen über solche Frauengruppierungen. Diese können Frauen für politische Themen interessieren und einen niedrigschwelligen Einstieg in die institutionalisierte Politik bieten. Frauengruppen fungierten und fungieren auch als Pressure-Group an Delegierten- und Nominationsversammlungen für mehr Frauen in Ämtern und auf Listen; teilweise traten sie auch mit abweichenden Abstim-mungsempfehlungen an die Öffentlichkeit. So empfahlen die CVP-Frauen 2002 abweichend von der Mutterpartei die Fristenregelung beim Schwanger-schaftsabbruch. In den letzten Jahren scheint sich das Gewicht der Frauensek-tionen verringert zu haben; mit nur wenigen finanziellen Ressourcen ausge-stattet, können sie keine eigenen Kampagnen führen und ihre Präsidentinnen sind mit einer Ausnahme nicht im nationalen Parlament. Auch das Medien-echo, einem Zyklus von Aufmerksamkeitskonjunkturen folgend, ging zurück (vgl. Bühler 2013).

Allerdings kommen in der Schweiz, ähnlich wie in einigen deutschen Bundesländern, die Wahlresultate nicht nur über die Gestaltung der Parteilis-ten zustande, sondern auch über ein System der Präferenzstimmen: In der Schweiz werden für die Kantonsparlamente und den Nationalrat die Mandate nach dem Proporzverfahren vergeben (in kleinen Kantonen, denen nur ein Mandat zusteht und für die zweite Kammer, den Ständerat, gilt das Mehr-heitswahlrecht). Einzelne Kandidierende können gestrichen, doppelt aufge-führt oder von einer anderen Liste dazugeschrieben werden. Solche Möglich-keiten können grundsätzlich in zwei Richtungen wirken – sie können Frauen diskriminieren, indem sie systematisch gestrichen werden, oder sie können über den Parteiwillen hinaus gewählt werden, weil sie viele Präferenzstim-men erhalten. Eine der wenigen, da aufwändigen PanaschierstimPräferenzstim-menanalysen zeigte für die Wahl des Kantonsparlaments von Basel-Landschaft von 2003 (Scheidegger 2005), dass die Wähler*innen Frauen nicht generell diskrimi-nieren; auf den freien Listen war sogar ein kompensatorisches Wahlverhalten zugunsten von Frauen zu verzeichnen. Allerdings ließ sich eine klare Links-Rechts-Tendenz ausmachen (je linker die Partei, desto mehr

Panaschierstim-70 Aus der Forschung ist bekannt, dass Quoten grundsätzlich schnell wirken, dass diese aber je nach Ausgestaltung einzelner Maßnahmen variieren: je verbindlicher, je näher an der 50%-Marke und je eher sie sich auch auf die Listenplatzgestaltung beziehen, desto effektiver er-höhen Quoten die Repräsentation (Franceschet et al. 2012).

men für Frauen). Der „Brunner-Effekt“ (vgl. Kapitel 4.6) zeigt exemplarisch das Potential der Präferenzstimmen. Und dennoch verdeutlichen Analysen zu den Wahlchancen der Geschlechter in den Eidgenössischen Räten, dass die Wahlchancen der Frauen bisher immer unter denen der Männer lagen, auch wenn sich die Wahlquoten71 inzwischen angenähert haben (Seitz 2012).

Für die deskriptive Repräsentation von Frauen in der Schweiz lässt sich festhalten: ihr Anteil in gewählten Gremien stagniert zwischen einem Drittel und einem Viertel. Sie ist in kleinen und konservativeren Kantonen mit ei-nem niedrigeren Gleichstellungsindex tendenziell niedriger als in größeren und moderneren Kantonen. Institutionelle Faktoren wie Verhältniswahlrecht und Präferenzstimmen und grundsätzlich auch eine politische Kultur des Ausgleichs und der informellen Quotierungen ermöglichen eine bessere Ver-tretung von Frauen. Eine neue Knappheit beim politischen Personal auf Ge-meindeebene hat nicht dazu geführt, dass sich nun Gelegenheiten für Frauen öffnen: ihr Anteil bleibt auch dort niedrig und ihr wahrgenommener Einfluss in Exekutiven unterdurchschnittlich. Dieser Befund verweist nochmals da-rauf, dass die Gründe für die ungleiche Repräsentation vielfältig und mitei-nander verwoben sind. Diese Stagnation auf mittlerem Niveau zeigt an, dass es weiterhin Probleme gibt, Frauen für politische Ämter zu mobilisieren, zu nominieren und zu wählen (cf. Stämpfli 1994).

4.5.3 Strategien zur Erhöhung der politischen Repräsentation von