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3. Zum Geschlechterregime in der Schweiz

3.2 Erwerbsarbeit

Seit 1970 haben sich die Beschäftigungsmuster deutlich verändert: waren Frauen 1970 nur zu 40% in den Arbeitsmarkt integriert, so waren Ende 2016 80,8% aller Frauen zwischen 15 und 64 Jahren und 89% aller Männer er-werbstätig.24 Seit 2010 liegt allerdings die weibliche Teilzeitquote bei knapp 60%. Jede fünfte erwerbstätige Frau arbeitet sogar unter 50%. Gerade Mütter steigen heute seltener als früher ganz aus dem Erwerbsleben aus, sondern

23 OECD 2016, S. 304 (Figure C2.5); das steht im Gegensatz zu den hohen Gesamtausgaben für Bildung in der Schweiz.

24 Bühler und Heye 2005, S. 24 sowie www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/arbeit-erwerb/erhebungen/sake/publikationen-ergebnisse.assetdetail.1963640.html (25. März 2017), Tabelle. je-d-03.02.00.01.02 .

arbeiten kontinuierlich, aber häufig nur wenige Stunden pro Woche. Hinge-gen arbeiten nur knapp 14% (2015) der Männer Teilzeit 25. Damit akzentuie-ren sich geschlechtsspezifische Arbeitsmuster: Eine Studie kam vor einigen Jahren zum Schluss, dass Männer nur zu 9%, Frauen aber zur Hälfte aus familiären Gründen Teilzeit arbeiten (Krone-Germann 2011, S. 40–42). Teil-zeitarbeit gilt als Lösung, damit Frauen Erwerbs- und Familienarbeit verein-baren können. 11,1% der Frauen, aber nur 3,5% der Männer waren 2015 unterbeschäftigt, d.h. würden und könnten gerne mehr arbeiten. Teilzeitarbeit ist daher für Frauen wesentlich öfter unfreiwillig als für Männer.26

In der Schweiz hat sich somit ein modernisiertes Ernährermodell entwi-ckelt: Nur noch knapp 30% der Familien mit Vorschulkindern lebten 2012 nach dem traditionellen Modell, in dem der Vater Vollzeit erwerbstätig ist und die Mutter sich ausschließlich um Haushalt und Kinder kümmert. 1970 waren es noch etwa 70%. Heute arbeitet in der Hälfte der Haushalte mit klei-nen Kindern der Vater Vollzeit, die Mutter Teilzeit.27 Dabei tragen in über drei Viertel der Paarhaushalte mit kleinen oder größeren Kindern die Frauen die Hauptverantwortung für Haus- und Betreuungsarbeit.28

Der geschlechtsspezifische Lohnunterschied in der Gesamtwirtschaft be-trug in der Schweiz 2015 17,7% und lag damit über dem EU-Durchschnitt von 16,3%.29 Diese Lücken schließen sich nur sehr zögerlich (vgl. Eidgenös-sisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann und Bundesamt 2013, 6, 12). Zudem lässt sich diese Lohnlücke nur zu etwa 40% durch Qua-lifikations- und Erfahrungsunterschiede erklären. Besonders hoch waren 2014 die unerklärten Anteile an den Lohnunterschieden in höherem Alter, bei hoher beruflicher Stellung, in kleineren Unternehmen und bei Verheirateten (Strub und Bannwart 2017, S. I–III). Mehr zur Lohngleichheit findet sich im fünften Kapitel.

25 36% der erwerbstätigen Mütter arbeiteten 2015 unter 50%, 6% sogar unter 20%; dies unterschied sich nicht nach dem Alter der Kinder. Vgl.

„www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/arbeit-erwerb/erhebungen/sake/publikationen-ergebnisse.assetdetail.1963831.html, Tabelle T 03.02.01.15, 25. März 2017.

26 „Unterbeschäftigte und Unterbeschäftigungsquoten“, vgl. www.bfs.admin.ch/bfs/de/

home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/gleichstellung-frau-mann.assetdetail.254364.html (2. April 2017), Tabelle cc-d-20.04.02.05.01.

27 „Erwerbsmodelle in Paarhaushalten“,

www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/

gleichstellung-frau-mann/vereinbarkeit-beruf-familie/erwerbsmodelle-paarhaushalten.

assetdetail.304717.html (25. März 2017).

28 „Hauptverantwortung für Hausarbeiten“, www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/

wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/gleichstellung-frau-mann/vereinbarkeit-beruf-familie/hauptverantwortung-hausarbeiten.html (2. April 2017).

29 Berechnet nach den Brutto-Stundenlöhnen, d. h. der EU-Berechnungsmethode, vgl.

epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/table.do?tab=table&init=1&plugin=1&language=en&pcode=

tsdsc340 (4. April 2017).

Auch gibt es eine starke geschlechtsspezifische Segregation des Arbeitsmark-tes in männer- und frauentypische Branchen und Tätigkeiten mit unterschied-lichem Ansehen und Lohnniveau (Charles 2005, Jann 2008 für Lohnunter-schiede). Die vertikale Segregation hat sich durch bessere Ausbildung von Frauen und Ausbreitung egalitärerer Normen seit 1970 etwas abgeschwächt.

Dennoch waren 2015 doppelt so viele männliche Erwerbstätige in der Unter-nehmensleitung wie Frauen (8,6% zu 4,3% und fast zwei Drittel der Frauen hat gar keine Vorgesetztenfunktion (62,7% zu 45,7% der Männer).30

Zur beruflichen Segregation trägt der Bildungssektor entscheidend bei.

Zwar ließ z. B. 1864 die Universität Zürich Frauen zu; v. a. Ausländerinnen studierten und erst nach dem Ersten Weltkrieg studierte eine nennenswerte Anzahl von Schweizerinnen. Die direkte Diskriminierung von Mädchen und Jungen im Schulunterricht hielt sich bis weit in die 1990er Jahre hinein und wurde mit Streiks und vor Gericht bekämpft (z. B. mehr verpflichtender Handarbeitsunterricht für Mädchen).31 1993 hatten erst 12 von 26 Kantonen für Mädchen und Jungen das gleiche Fächerangebot (Eidgenössische Kom-mission für Frauenfragen 2001, Abschnitt 4.1). In einer längeren zeitlichen Perspektive in der Schweiz ist eine erhebliche allgemeine Bildungsexpansion auf allen Qualifikationsstufen festzustellen. So haben sich die Studierenden-zahlen an den Universitäten seit 1980 von gut 52.000 auf knapp 114.000 mehr als verdoppelt, die Zahl der Studierenden Frauen hat sich fast vervier-facht, wobei ihr Anteil von einem Drittel bis im Jahr 2015 auf gut die Hälfte stieg.32 Diese Aufholbewegung führt teilweise zu der Wahrnehmung, die Gleichstellung in der Bildung sei bereits erreicht oder nun seien es die Jun-gen, die benachteiligt seien.33 Bis auf die jüngsten Altersgruppen sind Frauen

30 „Berufliche Stellung“, www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/gleichstellung-frau-mann.assetdetail.254759.html, Tabelle cc-d-20.04.02.06.01 (2. April 2017).

31 Eine für Kapitel 6 interviewte ehemalige Gleichstellungsbeauftragte erinnerte sich auch, dass in ihrer Schulzeit am Gymnasium sich Hauswirtschaft und Algebra/Geometrie im Stundenplan überschnitten und sie einen Dispens brauchte.

32 Eigene Berechnungen mit dem „Datenwürfel“ des BfS, www.pxweb.bfs.admin.ch/?px_language=de, Datenbasis Erhebung „Studierende und Ab-schlüsse der Hochschulen“, Datenstand 31.03.2016.

33 Für die These, Jungen seien in der Schule benachteiligt und dies sei auf den niedrigen Männeranteil unter den (Primarschul)-Lehrkräften zurückzuführen, ließen sich bisher keine wissenschaftlichen Belege finden. Vielmehr zeigte sich in einer breit angelegten Studie im Kanton Bern, dass traditionelle Geschlechtermodelle und entsprechendes Verhalten bei Jungen und Mädchen zu schlechteren Schulresultaten führen. Die Forschenden führten schlechtere Lernerfolge der Jungen auf eine „Schulentfremdung“ zurück, also auf niedrige intrinsische Motivation, negative Einstellungen, negativen Druck der Peers). Die Persistenz eines traditionellen Rollenmodells für Jungen ist dysfunktional geworden: eine männliche Karriere ist nicht mehr selbstverständlich, sondern braucht Anstrengung. Gleichzeitig ist die Konkurrenz von Mädchen hoch und Versagensangst kann zu einer Verstärkung von

„männlichem Verhalten“ führen, etwa durch Stören des Unterrichts, vgl. die Beiträge in Hadjar 2011 und Hadjar und Lupatsch 2010.

häufiger ohne Berufsausbildung als Männer.34 Ältere Frauen mit niedrigen oder fehlenden Bildungsabschlüssen sind weiterhin ebenso benachteiligt wie Frauen, die wegen Sorgearbeiten oder Migration keine Berufsabschlüsse erwerben konnten. Fehlende politische Steuerung trägt somit an dieser Stelle zur Verstärkung von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und nach Staatsangehörigkeit bei.

An der geschlechtsspezifischen Berufswahl hat sich trotz zahlreicher Pro-jekte und Programme in den letzten Jahren kaum etwas verändert. Zahlreiche Sensibilisierungprojekte entfalten keine nachhaltigen Wirkungen, da sie nicht strukturell verankert sind (Fuchs 2017, S. 10–11, zur Ausnahme Zukunftstag vgl. Stern und et al. 2015).

Dabei beginnt die Berufswahl vor der Berufswahl: Bereits in der Kindheit besteht ein enger Blick auf geschlechtstypische Berufe, der schichtunabhän-gig ist. In der Schweiz ist eine frühe Entscheidung für eine berufliche Lauf-bahn nötig, die in eine Phase unsicherer Geschlechtsidentität fällt und damit

„typische“ Berufsentscheidungen begünstigt. Zudem sind die typischen bildungsgänge unterschiedlich institutionalisiert; die viel gelobte duale Aus-bildung in Schule und Betrieb mit einem Auszubildendenlohn existiert vor allem für männertypische Berufe, während schulische Ausbildungen mit (unbezahlten) Praktika vor allem in frauentypischen Berufen verbreitet sind.

Beschäftigungsnormen in männlich und weiblich typisierten Berufsfeldern ermöglichen oder verhindern die Erfüllung geschlechtstypischer Aufgaben (höhere Löhne in Männerberufen ermöglichen eine Ernährerrolle, Teilzeit-möglichkeiten in Frauenberufen die Sorgearbeit); dies antizipieren Jugendli-che bei ihrer Berufswahl (Gianettoni 2015, S. 5–7). GeschlechteruntypisJugendli-che Berufswahl ist selten, ein Verbleib in diesen Berufen ist noch seltener. Einen frauentypischen Beruf zu ergreifen, zahlt sich in punkto Berufsstatus weder für Frauen noch für Männer aus (Joye und et al. 2014, Maihofer und et al.

2013, vgl. Huber und Bergman 2013, Leemann und Keck 2005, S. 121–127).

Strukturelle Hindernisse bremsen eine Gleichverteilung von Haus- und Erwerbsarbeit zwischen den Geschlechtern. Zahlreiche Studien bestätigen mittlerweile, dass die Steuer- und Sozialtransfersysteme Fehlanreize setzen, in dem sie weiterhin das traditionelle Ernährermodell belohnen (Überblick bei Müller und Balthasar 2014). In den meisten Kantonen ist die Ehe gegen-über einer Individualbesteuerung begünstigt, und zwar tendenziell umso mehr, je unterschiedlicher der Beitrag der Eheleute zum gemeinsamen Ein-kommen ist (vgl. Peters 2014). Die von Konservativen angeprangerte „Hei-ratsstrafe“ ist nur noch bei den Bundessteuern35 substantiell; angedachte Splittingmodelle würden diese Privilegierung der Ernährerehe nur noch ver-stärken. Wenn Kinder außer Haus betreut werden, dann entstehen durch die

34 www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/

gleichstellung-frau-mann/bildung/bildungsstand.assetdetail.246121.html (4. April 2017.

35 Die jedoch nur einen kleinen Teil der Gesamtsteuerbelastung ausmachen.

Ausgestaltung von einkommensabhängigen Betreuungstarifen, der Subventi-onspraxis und dem Steuerrecht (Deckelung der Abzüge für effektive Betreu-ungskosten) häufig Fehlanreize für die substantielle Erwerbstätigkeit von Müttern in Paarhaushalten. Beispielsweise zeigen Modellrechnungen für den Kanton Zürich (Schwegler et al. 2011), dass bei zwei Kindern in Betreuung je nach Parametern eine Vollzeit-Erwerbstätigkeit des zweiten Elternteils das verfügbare Einkommen nur um 1000 Franken erhöht; bei Teilzeit kann das zusätzliche Einkommen sogar ganz aufgefressen werden.