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Der Weg zum Frauenstimmrecht

3. Zum Geschlechterregime in der Schweiz

4.2 Der Weg zum Frauenstimmrecht

Ohne allgemeines Wahl- und Stimmrecht keine Demokratie. Wer zum De-mos gehört, war und ist jedoch umstritten. Die Ausweitung des Wahlrechts auf alle Erwachsenen ist ein langer Prozess. Auch Frauen mussten weltweit darum kämpfen, als Staatsbürgerinnen anerkannt zu werden – der aufkläreri-sche Gleichheitsbegriff bezog sich nicht auf sie. Im europäiaufkläreri-schen Vergleich waren die Einführung voller politischer Rechte für Frauen und damit der Demokratisierungsprozess in der Schweiz ein langer und steiniger Weg. Ein

50 Eidgenössische Kommission für Frauenfragen 2001, Abschnitt 1.3. Zum Déjà-Vu kam es im Frühjahr 2017, als in einem Video zu sehen war, wie in einer Schießübung der Schwei-zer Armee Soldaten zu häuslicher Waffengewalt aufgerufen werden („Ihr kommt nach Hause und erwischt eure Freundin mit einem anderen im Bett. Wie reagiert ihr?“), vgl.

www.20min.ch/schweiz/news/story/20538232. (27.Juli 2017)

zentrales Argument dafür ist die These, dass die Schweiz das Wahlrecht für Frauen erst spät einführte, weil dazu der Segen des männlichen Stimmvolkes notwendig war (in Form einer Zustimmung zur Verfassungsänderung bei einem obligatorischen Referendum), während es in anderen Ländern z. B.

durch totalrevidierte Verfassungen nach Kriegen und Krisen realisiert wurde (vgl. Fuchs 2006, Beiträge in Bab et al. 2006).

Frauenorganisationen waren in der Schweiz schon seit den 1870er Jahren aktiv gewesen; diese älteren Organisationen waren vor allem differenzfemi-nistisch ausgerichtet.51 Neben dem Engagement für praktische Anliegen wie etwa Bildung musste häufig um elementarste zivile Rechte gerungen werden, konkret um die Abschaffung der Geschlechtsvormundschaft, die alle erwach-senen verheirateten oder ledigen Frauen unter Kuratel eines Mannes stellte (vgl. Ryter 1999). Erst relativ spät wurden strategische Forderungen, wie jene nach dem Frauenwahl- und –stimmrecht erhoben. Hinzu kommt der auch aus anderen Ländern bekannte Graben zwischen bürgerlichen und sozialdemo-kratischen Frauen und zwischen reformerischen und konservativen Frauenor-ganisationen. Die Schweizerische Vereinigung für Frauenstimmrecht wurde erst 1909 gegründet. Nach dem Ersten Weltkrieg unterblieb die von den Stimmrechtsverbänden erhoffte Totalrevision der Bundesverfassung; zwi-schen 1919 und 1921 scheiterten sechs kantonale Abstimmungen (Woodtli 1975, 124, 138). Auslöser für diese Urnengänge waren parlamentarische Motionen52. In den 1920er Jahren wurden solche Vorstöße dann verschleppt.

Im Zuge der ersten Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) 1928 wurden insgesamt 250.000 Unterschriften für die Einführung des Frau-enstimmrechts gesammelt (vgl. auch im Folgenden Kubli 1992). Diese Un-terschriften wurden dem Bundesrat übergeben, auf eine Einreichung der Unterschriften der Männer als Volksinitiative wurde aber bewusst verzichtet.

Diese Ereignisse verdeutlichen, dass es die politischen Institutionen sind, welche die politischen Entscheidungsprozesse strukturieren (politics follow polity, vgl. auch im Folgenden Hardmeier 2004). Föderalismus und direkte Demokratie bieten eine relativ offene politische Gelegenheitsstruktur für neue Forderungen. Die erwähnte Konsenskultur mit der Einbindung referen-dumsfähiger Gruppen zwingt auch zum Kompromiss. Dies führt dazu, dass Bewegungsstrategien mit ein bisschen Konfrontation sehr schnell als „ext-rem“ wahrgenommen werden. Auch kann die starke Sensibilität und Respon-sivität gegenüber der Volksmeinung ambivalent sein. Gerade in den Ausei-nandersetzungen zum Frauenstimmrecht zeigt sich, dass der Verweis auf eine vermeintliche öffentliche Meinung die Innovation nicht gefördert hat, son-dern häufig eine eigentliche Gegenmobilisierung zur Stimmrechtsbewegung war (vgl. genauer Hardmeier 1997). Sibylle Hardmeier machte strategische

51 Dieser Abschnitt beruht auf Fuchs 2008b, S. 22–25.

52 Bis 1970 waren gesamtschweizerisch über 80 solche Motionen, hauptsächlich von Sozial-demokraten, eingereicht worden, vgl. Woodtli 1975, S. 18.

Instrumentalisierungen von Volksabstimmungen aus: in parlamentarischen Debatten wurde eine Abstimmungsvorlage befürwortet und teilweise sehr umfangreich und weitgehend ausgestaltet in der Hoffnung, dass das männli-che Stimmvolk dies ablehnen würde und somit das Frauenstimmrecht legiti-miert ad acta gelegt werden könne. Politische Eliten setzten sich nicht für das Stimmrecht ein mit dem Verweis, das Volk sei dagegen; dies mündete zum Teil in einem anti-elitistischen Diskurs.53

Die Mitglieder der Stimmrechtsvereinigungen waren vor allem Frauen aus bürgerlichen Kreisen, die sich in ihrer Agitation sehr zurückhielten; sie waren allerdings häufig mit den politisch tonangebenden Kreisen eng ver-bunden und konnten über freundschaftliche und verwandtschaftliche Verbin-dungen versuchen, auf Politiker Einfluss zu nehmen. Zudem bot lange vor dem Frauenstimmrecht das Schweizer Milizsystem, also die neben- oder ehrenamtliche Übernahme staatlicher Aufgaben, vor allem bürgerlichen Frauen die Möglichkeit, wichtige Rollen im Gesundheits- und Sozialwesen oder in der Schulaufsicht zu übernehmen; dies wurde nicht als Einlösung des Mitbestimmungsrechts verstanden, sondern eher als Programm staatsbürger-licher Pflichterfüllung, auf die die Gemeinden angesichts steigender Aufga-ben dringend angewiesen waren. Die „Bindekraft der Zivilgesellschaft“ zeig-te sich darin, dass viele Frauen politische Kompezeig-tenzen und soziales Kapital erwerben konnten – und sie Zugang zu politischen Netzwerken und Insiderin-formationen bekamen. Andererseits band es aktive Frauen in der kleinräumi-gen Schweiz auch sehr zurück in ihren Forderunkleinräumi-gen und Aktionsformen.54 Diese selektive Integration nahm den Stimmrechtsforderungen etwas von ihrer Dringlichkeit und hatte einen pazifizierenden Effekt (Hardmeier 2004, S. 86)

Als es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer zweiten Welle von kantona-len Abstimmungen kam, wurde das Stimmrecht wiederum verworfen, denn die „geistige Landesverteidigung“55 hatte das traditionelle Verständnis der Geschlechterrollen versteinert, statt es aufzulockern. Besonders männerbün-dische Vorstellungen (vgl. Stämpfli 2002, Blattmann und Meier 1998). 1959

53 „Hier wurde dem ‚elitären Wissen‘ der politischen Elite die ‚Weisheit‘ des sozial imaginä-ren Volkes entgegengestellt, die sich aus dem Misstrauen gegenüber der Elite nährte“

(Hardmeier 2004, S. 82) – ein Argumentationsmuster, das auch heute in der politischen Rechten weit verbreitet ist.

54 Dies zeigen Kubli 1992 und Meyer 1992 anschaulich für den Kanton Basel-Landschaft.

55 Die geistige Landesverteidigung als politisch-kulturelle Bewegung seit den 1930er Jahren sollte ursprünglich die als schweizerisch deklarierten Werte fördern und faschistische wie kommunistische totalitäre Bewegungen abwehren. Als zu stärkende Grundwerte der Schweiz wurden z. B. kulturelle Vielfalt oder der bündische (und damit indirekt auch ex-klusiv männliche) Charakter der Demokratie erklärt. In den 1950er Jahren nahm mit dem Erstarken des Antikommunismus der Abwehrgedanke und ein enger geistiger wie politi-scher Isolationismus überhand, vgl. Historisches Lexikon der Schweiz, Geistige Landesver-teidigung, www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D17426.php (3. September 2017).

kam es zur ersten eidgenössischen Abstimmung über die Änderung der Bun-desverfassung; National- und Ständerat hatten einer Botschaft des Bundesra-tes zugestimmt. Am 1. Februar 1959 sagten 69% der Schweizer Nein. In einer spektakulären und vielfach verurteilten Aktion streikten daraufhin 60 Lehrerinnen des Basler Mädchengymnasiums; viele Frauen hat diese Aktion nachhaltig beeindruckt und politisiert (vgl. Fuchs 2008b, S. 24). Die Stimm-rechtsvereinigungen machten später den 1. Februar zu einem Gedenktag mit Fackelumzügen und Vorträgen. Dieses Volks-Nein war für die Bewegung sehr schwierig, denn es sprach ihr einerseits Legitimität ab, andererseits ver-pflichtete die schweizerische politische Kultur die Bewegung auf den institu-tionellen Weg. Auch diese ist eine Folge des politischen Systems: vermehrte Integration und Mitsprache bei Entscheidungsprozessen geht zu Lasten poli-tischer Verantwortlichkeit. Soziale Bewegungen stehen vor der Herausforde-rung, bei der Problemdiagnose einen Verantwortlichen ausfindig zu machen.

Doch gerade dies war in der Schweiz schwierig – wie sollte man „das Volk“

und eine Allparteienregierung glaubwürdig anprangern? Lee Ann Banaszak stellt in ihrem Vergleich der schweizerischen und US-amerikanischen Stimmrechtsbewegung denn auch niedrige Nutzungsquoten der Volksinitiati-ve fest, aber relativ viele Versuche, über die Reinterpretation der Verfassung durch den Gesetzgeber das Wahlrecht zu erreichen (Banaszak 1991).

Zudem arbeitete die schweizerische Stimmrechtsbewegung stark mit Dif-ferenzargumenten, um die konservativen dualistischen Geschlechterbilder aufzunehmen. So wurde angeführt, dass Frauen in der Politik eine soziale, fürsorgliche und zivilisierende Funktion übernehmen könnten. Doch damit waren vorherrschende Frauenbilder und die Teilnahme an öffentlichen Ange-legenheiten tendenziell ein Widerspruch an sich. Dies schränkte das Aktions-repertoire der Organisationen zusätzlich ein und entsprechend groß war auch die Angst, mit klaren Forderungen aus dem Rahmen akzeptierter Weiblich-keit zu fallen. Die gesamte schweizerische Stimmrechtsbewegung war ge-prägt durch wenig konfrontative Taktiken und durch den zurückhaltenden Appell. Eine Demonstration war für die meisten undenkbar, eine Petition eine ungeheure Exponierung (vgl. auch Hardmeier 2006). Hinzu kam, dass die konfessionellen und sprachlichen Gräben in der Schweiz den Austausch von Informationen und von gemeinsamen Strategien erheblich einschränkten.

Darüber hinaus gelang es in der Schweiz nicht, die eigene Forderung mit der Sprache und Argumentation anderer Reformbewegungen zu verbinden und damit durch Koalitionsbildungen zu stärken. Im relativ geschlossenen Ge-setzgebungsprozess sei es den Schweizerinnen zudem schwergefallen, Impul-se einzubringen, so Lee Ann Banaszak. Doch nutzten sie auch Taktiken und Gelegenheitsfenster nicht, obwohl dies möglich und Erfolg versprechend gewesen wäre. In der Schweiz waren konfrontative Taktiken wie Demonstra-tionen und Paraden selten (obwohl sie in einigen Kantonen das Wahl- und Stimmrecht beförderten). Es wurden kaum Anstrengungen unternommen,

Regionalgruppen in konservativen Gegenden zu gründen, und es wurde keine einzige Volksinitiative zum Frauenwahl- und -stimmrecht eingereicht, ob-wohl dies problemlos möglich gewesen wäre. Die Aktivistinnen benutzten also bewusst einige mögliche Taktiken nicht mit der Begründung, dass dies kontraproduktiv wäre und aufgeschlossene Männer abschrecken könnte.

Damit wurde allerdings so manche Handlungsmöglichkeit unnötigerweise vergeben, denn Lee Ann Banaszak konnte zeigen, dass konfrontative Takti-ken in der Schweiz mit Erfolg, nicht mit Misserfolg, im Zusammenhang stehen (Banaszak 1996, S. 217).

Sieht man die Bewegung für das Frauenwahl- und –stimmrecht als Teil eines größeren Demokratisierungsprozesses, so wird deutlich, dass gesell-schaftliche Umbrüche – seien es Staatenbildungen, Kriege oder Revolutionen – immer auch Gelegenheitsfenster für das Frauenwahlrecht gewesen sind.

Diese politischen Gelegenheiten fehlten der Schweiz. Auf nationaler Ebene waren in den 1960er Jahren jedoch internationale Einflüsse wesentlich (wie auch für andere Nachzüglerstaaten, wie z.B. Portugal, Griechenland, Liech-tenstein): 1963 war die Schweiz dem Europarat beigetreten, doch ohne die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreihei-ten (EMRK) zu unterzeichnen. 1968 empfahl der Bundesrat die Unterzeich-nung mit einem Vorbehalt zu gleichen Rechten von Frau und Mann. Diesem Entscheid folgten erstmals große und wütende Proteste. Am 1. März 1969 marschierten 5000 Menschen auf den Bundesplatz in Bern, um sofortige gleiche Rechte für Frauen und Männer zu fordern. Die neue Frauenbefrei-ungsbewegung kritisierte die älteren Frauenorganisationen für ihre reformis-tische und defensive Ausrichtung und störte gar ihre Zusammenkünfte. Im Oktober 1969 blockierte der Ständerat die Ratifizierung der EMRK just in dem Moment, in dem der Europarat signalisierte, dass er einen Vorbehalt gegen gleiche Rechte nicht akzeptieren würde. Im Dezember erklärte der Bundesrat seinen Wunsch, das Frauenwahl- und –stimmrecht einzuführen, und am 7. Februar 1971 stimmten dem schließlich zwei Drittel der Schweizer Männer zu.56 Neun Kantone hatten vor dem Februar 1971 das kantonale Wahl- und Stimmrecht für Frauen eingeführt, bis 1972 folgten weitere 14 Kantone. 1989 stimmte die Landsgemeinde Appenzell-Ausserrhodens dafür;

am 27. November 1990 entschied das Bundesgericht auf die Klage einer Appenzell-Innerrhodnerin, auch in diesem letzten Kanton sei aufgrund der Bundesverfassung das Wahl- und Stimmrecht für Frauen sofort einzuführen (Eidgenössische Kommission für Frauenfragen 2001, Abschnitt 2.2). 1971 sei das Frauenstimmrecht in der Schweiz konsensfähig gewesen, so Sibylle Hardmeier, weil sich die Bürgerlichen von konservativen Wählerinnenstim-men eine Restabilisierung in der unruhigen „68er Zeit“ versprachen. In meh-reren europäischen Staaten wurde ähnlich argumentiert, wie zum Beispiel in

56 Auf amüsante und berührende Weise ist diese Zeit im Film “Die göttliche Ordnung” verar-beitet, vgl. www.goettlicheordnung.de.

den Niederlanden und in Polen (vgl. Fuchs 2006). Der Marsch nach Bern 1969 und das Aufkommen der Frauenbefreiungsbewegung verdeutlichen aber auch, dass es ohne radikaleren Druck von unten nicht zum Erfolg gekommen wäre: Neue Rechte erfordern auch neue Werte und Normen und ein klares Einstehen für diese Rechte.

4.3 Konzepte politischer Partizipation und