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Die direkte Demokratie nutzen

3. Zum Geschlechterregime in der Schweiz

4.4 Die direkte Demokratie nutzen

Direktdemokratische Institutionen wie Volksinitiativen und Referenden sind stark im schweizerischen Selbstverständnis verankert. Eine Volksinitiative auf Bundesebene benötigt 100.000 Unterschriften und kann sich nur auf eine Änderung der Bundesverfassung beziehen. Um sie anzunehmen, braucht es das Volks- und das Ständemehr, d. h. die Mehrheit der Stimmenden in der Mehrheit der Kantone muss zustimmen. Ein obligatorisches Referendum

57 Der wesentliche heuristische Ertrag des Magischen Dreiecks liegt darin, die zahlreichen Einzelfragen, die heute im Bereich politischer Partizipation und Repräsentation in einer Tiefenperspektive analysiert werden, in einem ganzheitlichen heuristischen Modell zu ver-orten und somit bei der Diskussion von Ergebnissen den Kontext und die Interdependenzen zu bedenken. Ein solcher Ansatz ermöglicht zudem die Überprüfung länderspezifischer Er-kenntnisse und das Herausarbeiten übergreifender Entwicklungen. Schließlich schärft die Perspektive des Magischen Dreiecks den Blick dafür, dass eine gleichmäßigere und breitere politische Beteiligung nur mit verschiedenen und aufeinander bezogenen Handlungsansät-zen gelingen kann, die auf unterschiedlichen Ebenen ansetHandlungsansät-zen.

findet immer dann statt, wenn die Bundesverfassung geändert wird wie etwa bei der Einführung des Frauenstimmrechts. Auch hier ist das Volks- und Ständemehr erforderlich. Beim fakultativen Referendum können 50.000 Stimmberechtigte eine Abstimmung über ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz verlangen. Ist das Referendum erfolgreich, tritt das Gesetz nicht in Kraft, scheitert es, gilt das Gesetz. Hierbei genügt das Volksmehr. Für die Gleichstellungspolitik zeigt sich die zentrale Stellung dieser Institutionen, denn wesentliche Meilensteine wurden oft erst nach gescheiterten Referenden erreicht, wie die nachfolgende Tabelle zeigt.

Tabelle 4: Gleichstellungspolitische Meilensteine seit 1971

Jahr Meilenstein Erreicht durch

1971 Wahl- und Stimmrecht auf nationaler Ebene obligatorisches Referendum 1981 Gleichstellungsartikel in der Verfassung mit

Auftrag an Staat, Gleichstellung aktiv zu för-dern & Lohngleichheit für gleichwertige Arbeit

Volksinitiative

1988 Neues Eherecht: Gleichberechtigung der Ehegatten, gemeinsame Verantwortung für hälftiges Splitting der Beiträge der Ehegatten)

gescheitertes Referendum

2005 Eingetragene Partnerschaft gescheitertes Referendum

2011 Gleichstellungsgerechtes Namensrecht Parlamentsbeschluss nach Urteil des Europäischen Ge-richtshofs für Menschenrechte von 199458

Quelle: Eigene Zusammenstellung u. a. mit Hilfe von (Eidgenössische Kommission für Frauenfragen 2001).

Die Initiative für gleiche Rechte für Frau und Mann, die 1981 angenommen wurde, ist die einzige direkt erfolgreiche gleichstellungspolitische Initiative geblieben. (Im neuen Jahrtausend wurde bisher keine solche Initiative

lan-58 Burghartz vs. Switzerland, Application no. 16213/90, Judgment 22 February 1994.

ciert): 1975 schlug der Schweizerische Verband für Frauenrechte dem 4.

Schweizerischen Frauenkongress vor, eine Volksinitiative für gleiche Rechte von Frau und Mann zu lancieren, und zwar in Bildung, Familie, Arbeit und beim Lohn. Der Kongress stimmte knapp zu (vgl. auch im Folgenden Cha-ponniere 1983, Kiani 2012). Ein überparteiliches Initiativkomitee wurde gegründet, das vor allem aus älteren, gestandenen Aktivistinnen bestand. Die Unterschriftensammlung gestaltete sich jedoch mühselig; viele Frauen in traditionalistischen Organisationen und Gruppen waren gegen die Initiative und wollten nach dem errungenen Frauenstimmrecht nicht mit einer Initiative anecken – „alte“ Reformstrategien wie Lobbying und nicht-konfrontatives Vorgehen sollten weitergeführt werden. In dieser Situation stiegen 1976 feministische Gruppen in die Unterschriftensammlung ein, die befürchteten, die Initiative würde wegen fehlender Unterstützung nicht zustande kommen.

Ende 1976 konnte die Initiative aber mit 57.000 gültigen Unterschriften ein-gereicht werden. Nach der Vernehmlassung stellte der Bundesrat 1979 seinen Gegenvorschlag vor, der anders als die Initiative keine Frist von fünf Jahren für die gesetzlichen Anpassungen mehr vorsah. Aus Angst vor einer Ableh-nung wurde die ursprüngliche Initiative auf großen politischem Druck hin zurückgezogen und nur der Gegenvorschlag kam vors Volk. Ein neues Komi-tee mit Mitgliedern aus dem linken und rechten Spektrum sowie „alter“ und

„neuer“ Frauenbewegung wurde gegründet.59 Am 14. Juni 1981 wurde der Gegenvorschlag mit gut 60% Ja-Stimmen angenommen:

Art. 4, Abs. 2 alte Bundesverfassung

Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit.

Dieser Artikel wurde als Artikel 8 Abs. 3 in die neue Bundesverfassung von 2000 übernommen und dabei ergänzt. Es heißt nun „Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung.“ Der Artikel enthält also einen aktiven Gleichstellungsauftrag. 1981 befürworteten 67% der Frauen, aber nur 53% der Männer den ursprünglichen Artikel (GfS Bern 2006, S. 20); in neun Kantonen gab es ablehnende Mehrheiten.60 Obwohl die neue feministische Frauenbewegung überaus skeptisch gegenüber dem Staat und etablierten Institutionen war und insbesondere das Recht als patriarchal gebrandmarkt wurde, kam es zur paradoxen Situation, dass die neue, radikale Frauenbewe-gung für die reformistische Strategie der Rechtspolitik einstand:

59 Bis 1987, als das sog. Doppelte Ja eingeführt wurde, war es häufig so, dass befürwortende Stimmen zwischen ursprünglicher Initiative und verändertem Gegenvorschlag aufgespalten wurden. Heute kann man beide Vorlagen annehmen, muss dann aber angeben, welcher man den Vorzug geben würde, sollten beide angenommen werden.

60 Vgl. www.admin.ch/ch/d/pore/va/19810614/det306.html (7. Dezember 2017).

Thus, the history of the women’s liberation movement shows that using legal means to achieve feminists‘ objectives, even if strongly criticized, is, in a certain way, part of Swit-zerland’s radical feminists‘ strategies. (Kiani 2012, S. 91)61

Innerhalb der feministischen Bewegung setzte sich dafür besonders die OFRA – Organisation für die Sache der Frau –ein; unter ihren Mitgliedern waren viele (angehende) Juristinnen.

Kein Meilenstein der Gleichstellungspolitik in der Schweiz wurde gegen die Mehrheitsmeinung des Parlaments errungen – im Gegensatz zu anderen Politikfeldern, etwa der Rechts- oder Ausländerpolitik. 1984 scheiterte der Versuch mit einer Volksinitiative, einen 16-wöchigen Mutterschaftsurlaub mit der anschließenden Möglichkeit eines bezahlten neunmonatigen Elternur-laubs: nur 15,8% Ja-Stimmen gab es. Im Jahr 2000 bekam die Quoteninitiati-ve nur 18% Ja-Stimmen, und zwar 11% bei den Männern und 28% bei den Frauen (GfS Bern 2006, S. 20). Diese sah vor, dass „für eine gerechte Vertre-tung der Frauen in den Bundesbehörden“ Quotenregeln für alle drei Gewal-ten, für Bundesverwaltung und Hochschulen einzuhalten seien.

Direktdemokratische Instrumente haben jedoch eine starke Agenda-Setting-Funktion; so ist mittlerweile das Geschlecht zu einem Merkmal ge-worden, das neben anderen Eigenschaften wie regionale Herkunft oder Par-teizugehörigkeit, bei der Besetzung politischer Ämter in Betracht gezogen wird. Viele Forderungen müssen nicht nur einmal, sondern mehrere Male zur Abstimmung stehen, damit sie realisiert werden: für eine Mutterschaftsversi-cherung brauchte es fünf Anläufe (s. u.). Die Abstimmungsmuster bei gleich-stellungspolitischen Vorlagen stimmen mit einem bekannten Stadt-Land Graben und einer politisch-kulturellen Polarisierung überein (Seitz 2014): Je früher das kantonale Frauenstimmrecht eingeführt worden war, desto eher gab es bereits 1971 überdurchschnittliche Mehrheiten für das nationale Frau-enstimmrecht, desto eher gab es Zustimmung zur Fristenlösung, zum neuen Eherecht oder den Vorlagen zu einer Mutterschaftsversicherung. Seit langem gibt es einen stabilen gleichstellungspolitisch offenen Pol (lateinischsprachi-ge Kantone, beide Basel, Zürich) und einen zurückhaltenden bis ablehnenden Pol, nämlich die Zentral- und Ostschweiz. Französischsprachige Städte stimmen fast durchgängig gleichstellungsfreundlicher ab als im nationalen Durchschnitt, am ablehnendsten sind deutschsprachige Landgemeinden (Seitz 2003, S. 10–11).

Die durchschnittliche Stimmbeteiligung an Referenden und Initiativen hat sich um gut 40% eingependelt. Anders als bei der Wahlbeteiligung gibt es aber keine systematischen Geschlechterunterschiede mehr. Vielmehr wird selektiv-situativ je nach Vorlage abgestimmt (Senti und Lutz 2008, S. 1). Die stärkste Verzerrung des „Volkswillens“, so belegen es zahlreiche Studien, ergeben sich jedoch nicht aus der o. a. niedrigen Stimmbeteiligung, sondern

61 So Kiani 2012, aber auch meine Interviews zur Lohngleichheit.

daraus, dass Gebildete, besser Situierte und solche mit einer höheren Ein-schätzung ihrer politischen Kompetenz und ihres politischen Interesses häu-figer abstimmen und somit Interessen und Meinungen unterer Schichten weniger Gewicht haben. Lag die Lücke in der Abstimmungsbeteiligung von Frauen und Männer lange um 10%, so ist dieser Gender Gap im neuen Jahr-tausend verschwunden und es scheint einen starken Generationeneffekt zu geben: mittlerweile stimmen Frauen genauso häufig ab wie Männer.62 Je nach Thema sind große Unterschiede im Stimmverhalten zu beobachten. So stim-men Frauen ökologischer, sozialer und befürworten eher ethische Forderun-gen. Bis 2006 ergaben sich bei Vox-Umfragen zu eidgenössischen mungen 46 Mal signifikante Unterschiede nach Geschlecht im Abstim-mungsverhalten. Allerdings sind andere Merkmale wie Werteinstellungen oder sozioökonomische Lage in den meisten Fällen noch wichtiger (GfS Bern 2006). Ob einige dieser Abstimmungen tatsächlich anders ausgegangen wä-ren, hätte sich nur ein Geschlecht beteiligt, ist etwas schwierig zu beurteilen, da die in den Analysen erhobenen Unterschiede meist noch im statistischen Fehlerbereich liegen. Allerdings haben die Männer das neue Eherecht 1985 mehrheitlich abgelehnt, die Frauen angenommen (Gender Gap 17,5% vgl.

Funk und Gathmann 2014).

Untersuchungen mehrerer möglicher Einflüsse auf das Abstimmungsver-halten zeigen differenziertere Ergebnisse: Martin Senti hat anhand der Ab-stimmungen sieben gleichstellungsrelevanter Vorlagen aus den 1980er und 1990er Jahren untersucht, ob und wie das Geschlecht, politische Orientierun-gen oder sozialstrukturelle Faktoren das Abstimmungsverhalten bestimmen.

Dabei kommt er zum Schluss, dass die Abstimmung über den Verfassungsar-tikel zu jenen gehört, bei denen eine parteiübergreifende Mobilisierung unter Frauen erfolgte und den Links-Rechts-Konflikt überdeckte (Senti 1998, S.

705). In allen Abstimmungen war die Links-Rechts-Orientierung ein hoch-signifikantes, verhaltenssteuerndes Merkmal, das Geschlecht immerhin in drei von sieben Fällen. Besonders beim Gleichstellungsartikel waren sich Frauen einig. Bei der Untersuchung der Differenzen unter Frauen zeigte sich auch bei ihnen ihre jeweils unterschiedliche politische Orientierung als ein signifikantes Merkmal. Initiativen, welche die Situation erwerbstätiger Frau-en verbessern solltFrau-en, wie die beidFrau-en VorlagFrau-en zum Mutterschutz, wurdFrau-en von diesen auch stärker unterstützt als von nichterwerbstätigen Frauen – sozioökonomische Betroffenheit bestimmte das Abstimmungsverhalten mit.

Trotz dieses starken Einflusses und der Bedeutung politischer Grundeinstel-lungen konnte Senti zeigen, dass eine parteiübergreifende Mobilisierung unter Frauen möglich ist. Hier wäre sicher auch die Abstimmung über die Fristenregelung 2002 zu nennen, in der die Allianz der Frauen ihre konfessi-onelle Zugehörigkeit und ihre unterschiedlichen Einstellungen zu

Gleichstel-62 Kriesi 2005, S. 125 und Mottier 1995. Allgemein zur direkten Demokratie: Sciarini und Tresch 2014 und Linder und Wirz 2014.

lung im Allgemeinen überflügelte. Es ist auch international bemerkenswert, dass zwischen 1977 (erste Abstimmung zu einer Fristenregelung) und 2002 sich sowohl eine Mehrheit der Stimmbürger*innen als auch eine Mehrheit der Katholik*innen ergeben hat, die für eine liberale, auf individueller Ver-antwortung beruhende Regelung der Abtreibung votiert hat (vgl. Engeli et al.

2002). Insgesamt zeigt

… eine differenzierte Analyse des Abstimmungsverhaltens der Frauen (…), dass hier die jeweilige Lebenslage und damit die individuelle Betroffenheit das Abstimmungsverhalten wesentlich mitbestimmt. Weil sich die Geschlechterdifferenz als diffuses Ungleichheits-problem für Frauen in verschiedenen Lebensbereichen sehr unterschiedlich äußert, variiert auch die Unterstützungsbereitschaft in gleichstellungspolitischen Entscheidungen beträcht-lich. (Senti 1998, S. 707)

Senti schlussfolgerte, dass soziale Differenzen unter Frauen sich zukünftig stärker politisch bemerkbar machen würden und konstatierte ein Dilemma bei der künftigen interessenpolitischen Mobilisierung von „Frauenpolitik“, die auf das Kollektivsubjekt Frau angewiesen sei, aber dabei von Differenzen innerhalb der Gruppe abstrahieren müsse, was sich negativ auf die Mobilisie-rung auswirken könnte.

Der Gleichstellungsartikel von 1981 hatte weitreichende Folgen. Er machte ein umfangreiches Rechtssetzungsprogramm notwendig, das alle direkten rechtlichen Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts betraf (1986 vorgelegt, vgl. Eidgenössische Kommission für Frauenfragen 2001, S.

6) und hatte Veränderungen im Familienrecht, im Arbeits- und Sozialversi-cherungsrecht und Sexualstrafrecht zur Folge. Der Gleichstellungsartikel entfaltete große legitimatorische Kraft für gleichstellungspolitische Forde-rungen. Insbesondere führte der Grundsatz des gleichen Lohns für gleichwer-tige Arbeit dazu, dass dieses Postulat in der gesamten Debatte ein zentraler Bezugspunkt war und ist und es vergleichsweise viele Maßnahmen für Lohn-gleichheit in der Schweiz gibt. In der neuen Bundesverfassung (ab 2000) wurde der Gleichstellungsartikel zu Artikel 8 Abs. 2 dahingehend präzisiert, dass das Gesetz für die „rechtliche und tatsächliche Gleichstellung“ sorgt.

Festzuhalten bleibt, dass direktdemokratische Verfahren ein wichtiges Agenda-Setting-Instrument sein können und als Katalysator zur Interessenar-tikulation wirken.63 Andererseits zeigt die Schweiz jedoch, dass Referendum und Initiative immer auch als konservierendes, mäßigendes und

integrieren-63 Positiv wird auch eine bewegungsorientierte Unterstützung staatlicher Frauenpolitik bewer-tet: In Österreich löste 1997 das Frauenvolksbegehren eine Mobilisierungswelle unter Frau-en aus. Es forderte u. a. einFrau-en Verfassungsartikel, eine Verpflichtung zu aktiver staatlicher Gleichstellungspolitik und die sozialversicherungsrechtliche Absicherung von Teilzeitarbeit und Kinderbetreuung. Das Agenda-Setting gelang und die politischen Institutionen waren gezwungen, sich mit bisherigen Randthemen zu befassen, vgl. Rosenberger 2000, S. 53.

Weitere gleichstellungspolitische Erfolge auf internationaler Ebene sind liberalere Abtrei-bungsgesetze in Italien und Österreich oder die Ermöglichung von Scheidungen in Irland und neuerdings Malta (vgl. Sauer 2001, S. 249).

des Instrument eingesetzt werden. Direktdemokratische Institutionen haben wesentlich mit zur Konkordanzdemokratie beigetragen, die sich gerade durch eine Konzentration politischer Entscheidungsprozesse auf bestimmte Ak-teur*innen auszeichnet und Erfolgschancen stark von Ressourcenausstattung einzelner Gruppen abhängig macht und somit schlechte Voraussetzungen bietet, um unterprivilegierte Interessen erfolgreich zu vertreten (ähnlich Sauer 2009a). Außerdem zeigen die Ergebnisse, dass Geschlecht einen Einfluss vor allem bei Entscheidungen in politischen Kernfragen hat: gender matters. – zum Teil verschränkt mit anderen Merkmalen.