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Frauen in der Exekutive: Turbulente Bundesratswahlen

3. Zum Geschlechterregime in der Schweiz

4.6 Frauen in der Exekutive: Turbulente Bundesratswahlen

Die Wahl von Frauen in der Schweizer Regierung gestaltete sich wesentlich schwieriger als in die Parlamente. Nomination, Wahl und Nicht-Wahl von Frauen in den Bundesrat waren dabei regelmäßig Gelegenheitsfenster, die ausgeglichene Geschlechtervertretung zu fordern.

Die Schweiz wird von einer siebenköpfigen Allparteienregierung regiert, dem Bundesrat. Der aus anderen Demokratien bekannte Gegensatz zwischen Regierungskoalition und Opposition besteht daher kaum, und auch die Frak-tionsdisziplin ist schwach ausgeprägt. Zwischen 1959 und 2003 blieb die parteipolitische Zusammensetzung gleich (sog. „Zauberformel“): Zwei Sitze gingen je an die Freisinnig-demokratische Partei (FDP), die Christliche Volkspartei (CVP) sowie die Sozialdemokratische Partei (SP) und ein Sitz an die Schweizerische Volkspartei (SVP); aufgrund der stark gestiegenen Wäh-leranteile forderte und bekam die SVP 2003 einen zweiten Sitz. Zu Beginn jeder Legislaturperiode werden die Bundesräte einzeln von der Vereinigten Bundesversammlung, als National- und Ständerat gemeinsam, gewählt. Die jeweiligen Parteien nominieren ihre Kandidierenden, bei einer Ersatzwahl werden auch zwei Personen zur Wahl gestellt. Die Kandidierenden durchlau-fen Hearings bei den jeweiligen Fraktionen. Dabei muss auf eine ausgewoge-ne Repräsentation von Kantoausgewoge-nen, Sprachen, Beruf und parteipolitischer Aus-richtung geachtet werden.75

1983 nominierte die SP die damalige Nationalrätin Lilian Uchtenhagen als erste Bundesratskandidatin; sie wurde jedoch nicht gewählt, sondern stattdessen der nicht kandidierende Parteikollege Otto Stich. Dies rief zwar noch keinen breiten Skandal hervor, doch waren damals die Partei und insbe-sondere die Sozialdemokratinnen empört und diskutierten über einen

Regie-74 Vgl. www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/ekud/dd/stagl/projekte_themen/Seiten/B%

C3%BCndner-M%C3%A4dchenparlament-2015.aspx (28. Juli 2017).

75 Dies sind vor allem informelle Regeln; die Bundesverfassung schreibt lediglich vor, dass die verschiedenen Landesteile und Landessprachen angemessen vertreten sein müssen, Art.

175 Abs. 4., Einzelheiten siehe Klöti et al. 2014.

rungsaustritt (vgl. Schiesser 1993, S. 51). 1984 wurde schließlich die Freisin-nige Elisabeth Kopp als erste Frau in die Landesregierung gewählt, trat aber unfreiwillig zurück. Sie hatte 1988 ihren Mann telefonisch informiert, dass gegen eine Firma, bei der er im Verwaltungsrat saß, Ermittlungen wegen Geldwäscherei eingeleitet wurden und bat ihn, von dieser Funktion zurückzu-treten. Als dieser Anruf bekannt wurde, kritisierten Medien dies als Amtsge-heimnisverletzung; insbesondere die Boulevardzeitung Blick begann eine Schlammschlacht und forderte ihren Rücktritt. Kopp kam dem nach, nach-dem sich herausstellte, dass sie über kein genügendes Netzwerk in ihrer Par-tei verfügte. Es kam zu einer Parlamentarischen Untersuchungskommission (in dessen Zuge ihr Telefon abgehört wurde) und einem Verfahren wegen Amtsgeheimnisverletzung, von dem sie aber freigesprochen wurde; wegen der Abhöraktion wurde 1998 die Schweiz vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Die Kampagne gegen Elisabeth Kopp wird heute mehrheitlich kritisch bewertet und auch als Ausdruck von Frauenfeindlich-keit interpretiert.76

1993 nominierte die SP wiederum eine Frau für einen Sitz im Bundesrat, und zwar die profilierte Gewerkschafterin und Feministin Christiane Brunner aus Genf (zu den Ereignissen Duttweiler 1993, Haas et al. 1993). Die bürger-lichen Parteien lehnten diese Kandidatur ab und argumentierten, Brunner verkörpere das Kollegialitätsprinzip nicht, welches vorsieht, dass Mehrheits-entscheidungen des Bundesrates geschlossen nach außen hin vertreten wer-den, auch wenn das betreffende Mitglied anderer Meinung ist. Brunner reprä-sentiere als Geschiedene, die im Konkubinat mit ihrem neuen Partner zu-sammenlebe, nicht die Schweiz. Ein anonymes „Komitee für die Rettung der Moral unserer Institutionen“ verbreitete Gerüchte, sie sei an einer illegalen Abtreibung beteiligt gewesen und es gäbe Nacktfotos von ihr, die sie bei einer „Orgie“ im Genfer Frauenhaus zeigten. Der „Blick“ griff diese Vorwür-fe auf, die Brunner als für das Amt ungeeignet und moralisch verwerflich erscheinen lassen sollten. Bei einem Teil der Öffentlichkeit erschien aber nicht dies, sondern die Kampagne an sich als Skandal. Am Tag der Wahl, am 3. März 1993, versammelten sich 1000 Frauen und einige Männer aus Solida-rität mit Christiane Brunner vor dem Parlament, in dem dann der nicht kandi-dierende Francis Matthey in den Bundesrat gewählt wurde. Matthey nahm die Wahl nicht sofort an, sondern erbat eine Bedenkzeit. Die Protestierenden draußen waren empört, dass Schweizer Politiker die legitime Vertretung einer Frau in der Regierung ablehnten und die Wahl verweigerten. In den folgen-den Tagen kam es zu breiten Protest- und Solidaritätsaktionen, an folgen-denen Zehntausende teilnahmen – in Zürich etwa versammelten sich 8000 Men-schen. Hinter den Kulissen wurde ein gesichtswahrender Kompromiss

erar-76 Vgl. Girsberger und Bobst 2004, S. 14–30 sowie de.wikipedia.org/wiki/

Elisabeth_Kopp (Stand 30. Mai 2017), verfügbar am 28. Juli 2017.

beitet: Am 10. März 1993 lehnte Matthey seine Wahl ab, und die SP präsen-tierte eine Doppelkandidatur: neben Christiane Brunner wurde die weitge-hend unbekannte Ruth Dreifuss nominiert. Während 10.000 Menschen vor dem Bundeshaus demonstrierten, wählte die Bundesversammlung Dreifuss zur Bundesrätin, nachdem Brunner ihre Kandidatur nach dem 2. Wahlgang zurückgezogen hatte. Demonstrativ hatten sich die beiden Politikerinnen als

„politische Zwillingsschwestern“ bezeichnet, um sich nicht auseinanderdivi-dieren zu lassen. Dreifuss reflektierte, dass sie aufgrund ihres „weiblichen Auftretens“, einer scheinbar geringeren politischen Radikalität und der bür-gerlichen Erwartung an eine Politikerin – ledig, kinderlos, scheinbar alles der Politik geopfert – als wählbar erschienen war (Amlinger 2012, S. 34). Drei-fuss übernahm das Departement des Inneren und wurde zu einem der profi-liertesten Mitglieder des Bundesrates der letzten Jahrzehnte. Fabienne Am-linger vertritt in ihrer Analyse die These, Brunner sei an den im politischen Feld geltenden Normen und Regeln gescheitert – sie habe nicht nur Klassen-normen verletzt, sondern auch GeschlechterKlassen-normen: als Feministin, mit ei-nem direkten Stil und kritisch gegenüber dem Elitedenken. Anders als in den 1980er Jahren wurde die männlich-bürgerliche und patriarchale Machtde-monstration von weiten Teilen der Bevölkerung und den Demonstrant*innen skandalisiert und als Ausdruck für die kontinuierliche politische Exklusion von Frauen interpretiert, so Amlinger. In diesem „kritischen Moment“

(Bourdieu) wurde vielen deutlich, dass den Frauen täglich im ganzen Land passiert, was Christiane Brunner widerfahren war. Dieses Beispiel zeigt, dass politische Mobilisierungen und Proteste notwendig sind, um Wünschen und Forderungen nach Veränderungen schließlich den notwendigen politischen (Nach-)Druck zu verleihen, denn „Vor der Türe des Bundeshauses steht nicht die Straße, vor der Tür des Bundeshauses steht der Souverän, Männer und Frauen, welche für die Teilnahme der Frauen an der Landesregierung de-monstrieren“ (die christdemokratische Nationalrätin Judith Stamm, zitiert nach Amlinger 2012, S. 62).

Im Nachgang der Bundesratswahl schnellten in vielen Kantonsparlamen-ten die Frauenanteile in die Höhe, was als „Brunner-Effekt“ bezeichnet wur-de: Im Aargau, wo am Wochenende zwischen dem 3. und 10. März 1993 gewählt wurde, stieg der Frauenanteil gar von 18,5% auf 31,5% (Fuchs 1996, S. 12). Zwischen 1991 und 1995 wuchs der Anteil der Frauen in allen Kan-tonsparlamenten um 7% auf 22% (vgl. Abbildung 3), während davor und danach die Steigerungsraten nur zwischen 0.1% und 3% lagen. Möglich ist dies durch das Kumulieren und Panaschieren von Stimmen: Parteilisten kön-nen verändert werden, in dem Kandidierende gestrichen, doppelt aufgeführt oder von einer anderen Parteiliste gewählt werden können.

1999 wurde Ruth Metzler aus Appenzell-Innerrhoden für die CVP bei ei-ner Nachwahl knapp in den Bundesrat gewählt; 2003 wurde sie bei den Ge-samterneuerungswahlen abgewählt, weil die SVP mit nochmals gestiegenem

Wähleranteil erfolgreich Anspruch auf einen zweiten Sitz erhob: der langjäh-rige Führer der SVP, Christoph Blocher, wurde Bundesrat, betrieb aber wei-terhin Oppositionspolitik und verletzte damit nach Meinung vieler das Kolle-gialitätsprinzip. Bei den Gesamterneuerungswahlen 2007 wurde er abgewählt und durch die nicht-kandidierende SVP-Regierungsrätin Eveline Widmer-Schlumpf aus Graubünden ersetzt, die nach eintägiger Bedenkzeit die An-nahme der Wahl erklärte. Parteileitung und Christoph Blocher sahen sich ausgebootet und schritten zu drastischen Maßnahmen, um ihre Machtposition in der Partei wieder zu festigen: Die Fraktionsführung warf Widmer-Schlumpf daraufhin „Verrat an der Partei“ vor. Im April 2008 forderte der Zentralvorstand der SVP Schweiz Widmer Schlumpf zum Parteiaustritt und zum Rücktritt aus dem Bundesrat auf. Die Kantonalpartei verweigerte einen Parteiausschluss und wurde daraufhin selbst von der nationalen SVP ausge-schlossen. Dies führte zur Gründung einer neuen Partei, der Bürgerlich-demokratischen Partei BDP. Die Ultimaten an Widmer-Schlumpf führten aber zu einem sehr breiten Protest: eine Protestnote gegen Drohungen und Ultimaten gegenüber einer demokratisch gewählten Bundesrätin wurden von über 100.000 Personen unterschrieben. Der Dachverband der (bürgerlichen) Frauenverbände Alliance F organisierte zum ersten Mal in seiner über 100-jährigen Geschichte eine Kundgebung „für mehr Respekt vor den politischen Institutionen“, zu der am 11. April 2008 etwa 12.000 Personen vor das Bun-deshaus kamen (Bühler 2008).

Offenbar fand und findet ein großer Teil des wählenden Volkes, dass Frauen in Parlamenten und Regierungen aus Gerechtigkeitsüberlegungen und aus inhaltlichen Gründen gleich wie Männer vertreten sein müssen. Dies wird im nächsten Abschnitt zur politischen Repräsentation näher beleuchtet. Dar-über hinaus zeigt die breite Solidarisierung mit Widmer-Schlumpf, ungeach-tet inhaltlich-politischer Differenzen, dass die Angriffe auf sie als Angriff auf demokratische Institutionen interpretiert wurden, als Erpressungsversuch von rechts (Fuchs 2009, S. 585).

Nach dem Rücktritt Widmer-Schlumpfs 2015 wurde mit Guy Parmelin wieder ein SVP-Bundesrat gewählt. Heute gibt es noch zwei Bundesrätinnen in der Regierung, Doris Leuthard und Simonetta Sommaruga. In den letzten Jahren waren andere Eigenschaften von Kandidierenden für den Bundesrat wichtiger in der politischen Diskussion, etwa Region oder beruflicher Hinter-grund. Der Anspruch auf eine ausgewogene Geschlechtervertretung muss also stets neu erhoben werden (und eine Mehrheit finden) – selbstverständ-lich ist er nicht.

4.7 Substantielle Repräsentation in National- und