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2.6 Policy-analytische Perspektiven

2.6.2 Politikformulierung

Ist ein gesellschaftliches Problem politisiert und steht auf der politischen Agenda, so geht es im nächsten Schritt, bei der Politikformulierung, um die Klärung politischer Ziele, der kontroversen Diskussion von Handlungsalter-nativen mit anschließender Verabschiedung eines politischen Programms.

Die Implementation ist schließlich die entscheidende Phase für die Politik:

wie wird das Programm mit verschiedenen Instrumenten und Steuerungsprin-zipien umgesetzt? Politikformulierung und –umsetzung sind komplexe Pro-zesse, die von Ideen, Interessen, Institutionen (Peters 2002, S. 553–558), von Wertvorstellungen und (auch impliziten oder unbewussten) Wissensbestän-den sowie politischen Kräfteverhältnissen geprägt werWissensbestän-den.

Ideen und Ideologien kommen bei Problemperzeptionen, bei programma-tischen Grundorientierungen, beim Bezug auf moralische Wertvorstellungen und bei der Durchsetzung normativer Zielvorstellungen zum Ausdruck (Schneider und Janning 2006, S. 97). Das schließt kontroverse Vorstellungen einer „richtigen“ Geschlechterordnung mit ein. Interessen der Akteur*innen sind ein weiterer Einflussfaktor für die Politikformulierung. Die Frage des cui bono ist ein wichtiger Ausgangspunkt der Analyse, doch sind Interessen-lagen in der Gleichstellungspolitik nicht immer klar sichtbar und aufgrund des impliziten Geschlechterwissens auch komplex mit Werten und Normen verknüpft. Die Frage der „Fraueninteressen“ wurde in der feministischen Politikwissenschaft seit den 1980er Jahre immer wieder debattiert. Dabei zeigte es sich, dass es nicht möglich ist, nicht-essentialistisch Interessen von Frauen oder anderen sozialen Gruppen zu definieren, also lediglich mit Rückgriff auf ihre „objektive“ Lage. Aus konflikttheoretischer Perspektive ist von Bedeutung, dass sich Interessen in anspruchsvollen und iterativen Pro-zessen unter denjenigen Akteur*innen herausbilden, die Anspruch auf Vertre-tung in der Politik erheben („representative claims making“, vgl. Celis et al.

2014). Solche Prozesse können allerdings auch scheitern (vgl. Fuchs und Payer 2007). Das einzige „objektive Interesse“ sehen einige Autorinnen da-rin, dass alle Personen an politischen Entscheidungsprozessen, die sie selbst betreffen, teilnehmen sollen (Jonasdottir 1988, Phillips 1994). In der politi-schen Praxis bestehen allerdings eine Reihe gut etablierter und mehrfach wiederholter Interessenlagen, etwa für solche, die mit anderen gesellschaftli-chen Spaltungen übereinstimmen, etwa zwisgesellschaftli-chen Kapital und Arbeit in Lohn-fragen (siehe auch Blome und Fuchs 2017 und die Analyse von parlamentari-schen Vorstößen im vierten Kapitel).

Gleichstellungspolitik formuliert bestimmte (im Idealfall egalitäre) Leit-bilder und Normen, und hat einen starken Veränderungsauftrag, der auch in Fragen der persönlichen Lebensgestaltung eingreift. Sie betrifft damit jede Person in ihrer eigenen Identität. Gleichstellungspolitische Maßnahmen ha-ben zudem mehr oder weniger ausgeprägten redistributiven Charakter, sei es

finanziell bei Lohngleichheitspolitik oder zeitlich bei der Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Sie birgt damit – hinter aller Win-Win-Rhetorik – erhebliches Konfliktpotenzial. Somit ist mit einem starken Einfluss der Prob-lemdefinition und –wahrnehmung, der Werte und damit von kognitiven Ori-entierungsschemata, und der Akteurs-Interessen auf die Formulierung von Gleichstellungspolitik zu rechnen. In der Schweiz sind zudem Einstellungen zur Gleichstellung bei Politiker*innen konsistent auf der Links-Rechts-Achse verteilt: je linker Parlamentarier*innen sind, desto eher unterstützen sie eine umfassende Gleichstellung der Geschlechter und desto ausgeprägter ist ihr Verständnis von Geschlecht als einer sozialkonstruktiven Kategorie (für kantonale Legislativen Lack 2005, für kantonale Exekutiven Balthasar et al.

2014). Somit ist die auch in der Comparative Feminist Policy Forschung genannte politische Parteienlandschaft ein wichtiger Einflussfaktor (vgl.

Mazur und Zwingel 2003).

Ein Großteil der internationalen Forschung zu Gleichstellungspolitiken, etwa zu den oben erwähnten Women’s Policy Agencies und zahlreiche Poli-tikfeldanalysen, etwa durch den Forschungsverbund QUING (Quality in Gender+ Equality Policies) fokussieren auf die Phasen von Agenda-Setting und Politikformulierung bis zur Verabschiedung von Gesetzen oder Pro-grammen. Ein Schwergewicht liegt auf der Analyse der jeweiligen Framings in den einzelnen Debatten (z. B. Sauer 2010). Dabei zeigte sich, dass das Framing des Problems durch unterschiedliche Anspruchsgruppen sich we-sentlich auf die verabschiedeten und implementierten politischen Maßnah-men auswirkte (vgl. Blofield und Haas 2013, S. 714–716, Mazur 2009).

Wenn Ideen und Interessen einerseits und entsprechende Konflikte anderer-seits wichtige Untersuchungsachsen sein sollen, sind Untersuchungsansätze zum Framing und zu politischen Koalitionen sinnvoll:

Die Methode der Frame-Analyse schöpft aus den Arbeiten des Soziologen Erving Goffman: Danach verwenden Menschen zur Organisation von Erfah-rung und zur OrientieErfah-rung in einer komplexen Welt Rahmen (Frames) als grundlegende Orientierungsmuster. Frames sind „schemata of interpretation that assist individuals in locating, identifying, receiving and labelling occur-rences.“ (Goffman 1986 [1974], S. 21). Frames, die nach Goffman haupt-sächlich durch Sozialisation „erlernt“ werden, organisieren sozusagen die Wirklichkeit. Welche Frames in einer Auseinandersetzung vorkommen und dominieren, hat Auswirkungen auf die Debatte und die realistischen Lö-sungsmöglichkeiten. Somit können politische Akteur*innen auch bewusstes Framing betreiben. Das Goffman’sche Konzept von Frames wurde von den Bewegungsforschern David Snow, Robert Benford und anderen mit dem Ansatz der Ressourcenmobilisierungstheorie verknüpft (Snow et al. 1986, Snow und Benford 1988); neben diesem Paradigma und dem Konzept der politischen Gelegenheitsstruktur zählt die sozialkonstruktivistische Framing-Perspektive zu den produktivsten und wichtigsten Ansätzen in der

Bewe-gungsforschung (vgl. dazu Shaw 2007, Snow 2004 und methodisch Donati 2006): damit Bewegungen ihre Ziele legitimieren, Anhänger gewinnen und Gegner kritisieren können, schreiben sie gewöhnlich Ereignissen und Tatsa-chen neue Bedeutungen zu, die in Einklang mit ihren Zielen stehen. Sog.

Master-Frames sind breite und flexible Bezugsrahmen, deren symbolische Ressourcen verschiedene soziale Bewegungen nutzen können. Recht ist bei-spielsweise ein solcher Master-Frame (Snow und Benford 1992, Pedriana 2006). Damit es kollektiv geteilte Bedeutungen in einem Frame gibt, müssen Akteur*innen oder soziale Bewegungen drei wesentliche Schritte unterneh-men: Im diagnostischen Framing wird eine soziale Tatsache analysiert und problematisiert. Im prognostischen Framing werden Lösungen des Problems vorgeschlagen und im motivationalen Framing schließlich wird zum Handeln aufgerufen. Für einen Erfolg müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein.

Erstens ist empirische Glaubwürdigkeit nötig – die angeprangerten Fakten müssen nachprüfbar sein; zweitens erfahrungsmäßige Vergleichbarkeit – der Bezugsrahmen muss Antworten und Lösungen liefern, die bei den Adres-sat*innen gut zu den bestehenden Wahrnehmungen und Erfahrungen der Situation passen; und drittens geht es um „narrative fidelity“ (narrative Wie-dergabetreue) – das Framing muss mit den kulturellen Geschichten und My-then übereinstimmen, welche auf heutige Ereignisse und Erfahrungen einwir-ken. Kurz gesagt haben alle Menschen Frames, und Framing ist eine kollek-tive strategische Aufgabe einer Bewegung, diese Frames zu verändern. Im vierten und fünften Kapitel werden bei der Analyse parlamentarischer Anträ-ge und bei den Debatten um das GleichstellungsAnträ-gesetz solche Frames unter-sucht.

Ideen und Interessen, wie sie sich in solchen unterschiedlichen Framings zeigen, können in Advocacy-Koalitionen wirksam werden. Der advocacy coalition framework (ACF; Sabatier und Weible 2007, Weible et al. 2009) geht davon aus, dass Akteure die handlungsleitenden Orientierungen ihrer belief systems in praktische Politik umzusetzen trachten; belief systems beste-hen aus grundlegenden Wertvorstellungen, Kausalannahmen und Prob-lemwahrnehmungen. Zu einer Koalition gehören Akteure, die Kernüberzeu-gungen zu einer Policy teilen und ihre Handlungen über längere Zeit koordi-nieren. Zu den Advocacy-Koalitionen können neben korporativen Akteuren auch Einzelpersonen gehören. Innerhalb eines Politikfelds können mehrere Koalitionen bestehen. Der ACF ist für Fragen der Gleichstellung sowohl in den internationalen Beziehungen (Transnational Advocacy Networks) als auch im Ländervergleich vielfach verwendet worden; so hat sich die Stärke und die Form feministischer advocacy coalitions mit Institutionen des Staats-feminismus als ein wichtiger Faktor für die Formulierung von Gleichstel-lungspolitiken erwiesen (vgl. Mazur 2003, bes. 497-502; Outshoorn und Kantola 2007). Aktuelle Weiterentwicklungen haben politische Gelegenheits-strukturen integriert, und zwar den Grad des notwendigen Konsenses für

einen wesentlichen Politikwandel (der in der Schweiz als hoch einzuschätzen ist) sowie die Offenheit des politischen Systems auf den Eintritt und Einfluss von nichtstaatlichen Interessen (Sabatier und Weible 2007, S. 199–201). Der letztere Faktor wird auch von der Comparative Feminist Policy-Forschung als wesentlich genannt. Für die Schweiz wurden Advocacy Coalitions in der Familienpolitik herausgearbeitet (Häusermann und Kübler 2010) und in die-sem Buch werden sie für die Antidiskriminierungspolitik nachgezeichnet.

Interessenlagen zeigen sich u. a. in politischen Kräfteverhältnissen, die über Formulierung und Umsetzung mitbestimmen. Doch unter den Bedin-gungen einer Konkordanzdemokratie sind nicht nur legislative und exekutive Mandatsverhältnisse entscheidend, auch organisierte Interessen haben eine wichtige Stellung in den verschiedenen Phasen des Politikprozesses. Generell hat die Bedeutung vorparlamentarischer Entscheidungsprozesse ab- und die Einflüsse gesellschaftlicher Gruppen auf parlamentarische Entscheidungspro-zesse haben zugenommen (Kriesi und Trechsel 2008, 121, 129). Trotz gegen-sätzlicher Interessen und Ziele ist der Druck zu Kompromiss und Konsens hoch. Es ist zu vermuten, dass Konflikte nicht immer offensichtlich sind und dass Maßnahmen größere Chancen auf Umsetzung haben, die Vorstellungen verschiedener politischer Lager zu verbinden suchen.