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Datenerhebung: Das verstehende Interview

Teil II: Individuelle Ebene

7.2 Datenerhebung: Das verstehende Interview

Eine begründete Auswahl der Erhebungsform sowie eine methodisch saubere Vorgehensweise sind grundlegend für das Gelingen qualitativer Forschung.

Auch wenn es zur Beantwortung einer Fragestellung nicht die richtige Erhe-bungsmethode gibt, existieren durchaus mehr oder weniger angemessene Er-hebungsformen (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2009, S. 8). Die Auswahl einer spezifischen Interviewtechnik strukturiert die möglichen Resultate vor. So ge-neriert ein narratives Interview andere Arten von Aussagen und wohl auch an-dere Themen als ein stark strukturiertes Leitfadeninterview (vgl. Helfferich, 2005, S. 26). Wesentlich ist, dass Theorie, Erkenntnisinteresse, Erhebungs-form und Auswertungsverfahren aufeinander abgestimmt sind. Wird wie im vorliegenden Fall ein hermeneutisches Auswertungsverfahren beabsichtigt, muss bereits bei der Erhebung der Daten unter anderem darauf geachtet wer-den, dass den Befragten genügend Raum gelassen wird, um Erlebnisse, Welt-sichten und Wertvorstellungen selbstläufig darzustellen (Przyborski & Wohl-rab-Sahr, 2009, S. 9).

Ziel der vorliegenden Forschungsarbeit ist es, zu verstehen und zu erklä-ren, wie Lernende unterschiedlicher sozialer Milieus die Verbundausbildung subjektiv wahrnehmen und bewältigen. Die hier gewählte Methode des verste-henden Interviews (Kaufmann, 1999) eignet sich dazu, diese subjektiven Er-fahrungen und Sichtweisen zu rekonstruieren. Der verstehende Ansatz „stützt sich auf die Überzeugung, dass die Menschen nicht nur einfache Träger von Strukturen sind, sondern aktive Produzenten des Gesellschaftlichen und als solche über ein wichtiges Wissen verfügen, das es von innen zu erkunden gilt, und zwar über das Wertesystem der Individuen“ (Kaufmann, 1999, S. 34). Um die subjektiven Erfahrungen und Wertvorstellungen von Akteurinnen und Akt-euren nicht nur nachzuvollziehen, sondern sozialwissenschaftlich zu interpre-tieren, müssen sie in Bezug zu gesellschaftlichen Verhältnissen und Prozessen gesetzt werden: „Dem Verstehen der spezifischen Probleme des Gegenübers in der konkreten Gesprächssituation muss somit ein Verständnis der charakte-ristischen Strukturmerkmale und Entwicklungen seiner Umgebung vorausge-hen“ (Pelizzari, 2009, S. 164). Die Erfahrungen, Probleme und Sichtweisen der Lernenden werden in dieser Forschungsarbeit in Bezug gesetzt zur Klas-senstruktur der Gesellschaft einerseits und zur Flexibilisierung von Arbeit an-dererseits. Milieu und Habitus, Bildungsungleichheit, der Idealtypus des Ar-beitskraftunternehmers, Projektförmigkeit und Projektfähigkeit stellen hierbei konzeptuelle Instrumente dar, mittels derer das Gesellschaftliche dieser indi-viduellen Erfahrungs- und Bewältigungsmuster verstanden und erklärt werden kann (vgl. Kaufmann, 1999, S. 34). Die wissenschaftliche Objektivierung – der Bruch mit dem Alltagsverständnis – vollzieht sich entsprechend als ein

„ständiges Hin und Her zwischen Verstehen, aufmerksamem Zuhören, Distan-zierung und kritischer Analyse“ (Kaufmann, 1999, S. 32).

Das verstehende Interview weist viele Überschneidungen mit dem Leitfa-deninterview auf (Kaufmann, 1999, S. 11). Der Leitfaden stellt jedoch ledig-lich eine „flexible Orientierungshilfe“ für das Interview dar (Kaufmann, 1999, S. 65). Keinesfalls soll der Leitfaden das Interview allzu sehr vorstrukturieren, denn für qualitative Forschung ist zentral, dass sich das Interview „primär an den inhaltlichen Relevanzstrukturen und kommunikativen Ordnungsmustern der Befragten orientiert anstatt an den vorab vorgenommenen Ordnungen und Strukturierungen der Forscherinnen“ (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2009, S. 126). Besonders wichtig sind die ersten Fragen des Interviews. Diese wer-den praktisch immer gestellt und geben wer-den Ton für das weitere Gespräch an.

Um eine ausführliche Erzähldynamik in Gang zu bringen und um die Rele-vanzstruktur der Befragten ins Zentrum des Gesprächs zu stellen, sollen diese ersten Einstiegsfragen so offen wie möglich gehalten werden (Kaufmann, 1999, S. 66).

Im Idealfall wird der Leitfaden während des restlichen Interviews nicht mehr benötigt und die forschungsrelevanten Fragen ergeben sich aus dem Ge-spräch selbst. Interviews, in denen die Fragen der Reihe nach durchgegangen werden, kommen kaum vor (Kaufmann, 1999, S. 65). Dennoch ist der Leitfa-den für das Gelingen des Interviews grundlegend: Er muss sorgfältig ausgear-beitet und mehr oder weniger auswendig gelernt werden. Er muss getestet, kri-tisch hinterfragt und auch während der Erhebungsphase noch ständig überar-beitet und verbessert werden. Die Fragen müssen verständlich, präzis und in-haltlich zusammenhängend sein. Denn Fragen, die der Interviewpartnerin oder dem Interviewpartner zusammenhangslos, seltsam, ungerechtfertigt oder spitz-findig erscheinen, vermitteln sofort einen negativen Eindruck und beeinträch-tigen das Vertrauen, das er der Interviewenden entgegenbringt – und somit auch die Qualität und die Offenheit der Antworten (Kaufmann, 1999, S. 66).

Gleichzeitig ist es wichtig, dass man sich im Prozess des Interviews nicht am (internalisierten) Leitfaden, sondern am bereits Gesagten orientiert – denn die besten Fragen stehen nicht im Leitfaden, sondern ergeben sich aus dem je in-dividuellen Gespräch.

Bei den Interviews, die ich im Rahmen dieser Forschungsarbeit durchge-führt habe, war die erste Frage: „Erzähl doch zu Beginn, wie du deine Lehre beim Verbund XY erlebst. Was gefällt dir an deiner Lehre und was gefällt dir nicht?“ Daran wurde die Aufforderung geknüpft, spontan alles zu erzählen, was einem gerade in den Sinn komme. Mit dieser Frage beabsichtigte ich, dass Relevanzsetzungen der Lernenden selbst (und nicht die von mir angenomme-nen Vor- und Nachteile der Verbundlehre) im Zentrum des Interviews stehen.

Die darauf folgende Frage war dagegen prozessorientiert: Anhand einer Gra-fik, welche die einzelnen Ausbildungsplätze in chronologischer Reihenfolge

darstellte, bat ich die Lernenden, eine Art „Befindlichkeitskurve“ einzuzeich-nen und diese im Anschluss auszuführen. In den meisten Interviews war diese Eingangssequenz sehr ergiebig und ich konnte mich bei vielen der weiteren Fragen auf das, was bereits erzählt worden war, beziehen.

Um Zugang zur Welt der Befragten zu erhalten, um den Kern ihrer Denk- und Handlungsschemata zu begreifen, sind Kaufmann (1999) zufolge Empa-thie und Engagement die grundlegenden Werkzeuge. Die Haltung der intervie-wenden Person ist geprägt durch aufmerksames Zuhören, offensichtliches In-teresse, Zuneigung und Respekt für die Befragten. „Auf diese Art und Weise entdeckt [der Interviewer] Stück für Stück eine neue Welt, nämlich die der befragten Person, mit ihrem Wertesystem, ihren Ordnungsschemata, ihren auf-fälligen Besonderheiten, ihren Stärken und Schwächen. Er muss diese Welt entdecken und verstehen im doppelten weberschen Sinne. Er muss Sympathie für den Befragten entwickeln, während er gleichzeitig seine mentalen Struktu-ren begreift“ (Kaufmann, 1999, S. 75 f.).

Entgegen der klassischen Methodenlehre wendet sich Kaufmann explizit von den Prinzipien der Neutralität und Distanz der interviewenden Person ab.

Die Befragten, so Kaufmann, müssen den Interviewer einordnen können, um sich auf ein offenes Gespräch mit ihm einzulassen. „Der Interviewer, der Zu-rückhaltung übt, hindert somit den Informanten daran, sich richtig auf das In-terview einzulassen. Nur in dem Maße, in dem er sich selbst einbringt, wird sich auch der andere einbringen und sein tiefstes Wissen nach außen tragen.

Hierfür bedarf es des genauen Gegenteils von Neutralität und Distanz, nämlich einer zwar diskreten, aber starken persönlichen Präsenz“ (Kaufmann, 1999, S. 77 f.). Die interviewende Person soll sich authentisch geben und zeigen, dass sie Meinungen und Gefühle hat. Zugleich muss sie in der Lage sein, sich vollständig auf das Denksystem und die gedanklichen Kategorien der befrag-ten Person einzulassen und (zumindest für den Zeitraum des Interviews) auf jegliche moralische Distanzierung zu verzichten.

Ein solches Interview, das weder ein alltägliches Geplauder noch ein me-chanisches Abklappern des Leitfadens ist, ist enorm anspruchsvoll. Die Inter-viewführung erfordert große Aufmerksamkeit und Konzentration. Während des Zuhörens muss die interviewende Person gleichzeitig nachvollziehen, was die befragt Person erzählt, abwägen, welche der angesprochenen Themen ver-tieft werden sollen, und den Überblick darüber behalten, welche Themenberei-che noch nicht angesproThemenberei-chen wurden und wie idealerweise dazu übergeleitet werden kann. Es müssen präzise und verständliche Formulierungen für die richtigen Anschlussfragen gefunden werden und ein allzu aufdringliches Insis-tieren muss genauso vermieden werden wie die Annahme, man wisse schon, wie etwas gemeint sei – um dann später bei der Auswertung zu merken, dass eine Aussage auf ganz unterschiedliche Weisen interpretiert werden kann, und man bedauert, nicht nachgefragt zu haben. Bereits in der Einstiegsphase erge-ben sich beliebig viele aufschlussreiche Themen, an die man anknüpfen