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Die unterschiedliche Projektförmigkeit der

Teil I: Organisatorische Ebene

5 Lehrbetriebsverbünde: Flexibilisierte Berufsbildung im

5.3 Unterschiede in der Projektförmigkeit der vier Verbünde

5.3.4 Die unterschiedliche Projektförmigkeit der

Die bisherigen Analysen haben gezeigt, dass sich Lehrbetriebsverbünde be-züglich der Frage, wie die Ausbildung gestaltet wird und an welchen Zielen sie sich ausrichtet, an unterschiedlichen Bezugspunkten orientieren. Trans-portnet orientiert sich bei der Gestaltung und Rechtfertigung des Rotations- und Betreuungsmodells sehr eng an modernen Managementstrategien der De-zentralisierung. Das hoch projektförmige Ausbildungsmodell ist bewusst so konzipiert, dass Lernende zu flexiblen, engagierten, fachlich kompetenten und unternehmerisch denkenden Nachwuchskräften für die Branche ausgebildet werden. Von den Lernenden wird erwartet, dass sie sich anpassungsfähig zei-gen und die diversen Anforderunzei-gen selbstständig bewältizei-gen.

Bei den anderen drei Verbünden dient die Rotation in erster Linie dazu, möglichst viele Ausbildungsplätze zu ermöglichen. Während Spednet mit dem Rotationsmodell jedoch eine qualitativ bessere Ausbildung verbindet, beurtei-len Integranet und Ruralnet die Projektförmigkeit der Ausbildung als ambiva-lent. Für sie ist die Rotation Mittel zum Zweck. Die Strategie von Ruralnet, Ausbildungsbetrieben eine größtmögliche Flexibilität in der Ausbildung Ler-nender zu ermöglichen, führt im Effekt jedoch zu einem hoch projektförmigen Ausbildungsmodell. Da darin aber eine Gefahr für die Lernenden gesehen wird, setzt Ruralnet auf eine engmaschige Kontrolle, welche in starkem Kon-trast zur Logik der Netzwerkwelt steht. Auch Integranet setzt auf Kontrolle, aber mehr noch auf Begleitung und Unterstützung der Lernenden, um die Nachteile der Projektwelt zu kompensieren. Dank der staatlichen Finanzie-rungshilfe hat Integranet den größten Spielraum, um auf die spezifischen Be-dürfnisse der Lernenden eingehen zu können.

Die Analysen haben gezeigt, dass sich Lehrbetriebsverbünde sowohl be-züglich ihres Orientierungsrahmens wie auch ihrer Projektförmigkeit stark voneinander unterscheiden. Anhand der beiden Kriterien Ausbildungsorgani-sation und Ausbildungsphilosophie lässt sich ein Kontinuum der Ausbildungs-modelle darstellen, welches vom „quasitraditionellen Modell“ mit den tiefsten Anforderungen an Selbstorganisation und Flexibilität bis zum „projektförmi-gen Parademodell“ mit den höchsten Anforderun„projektförmi-gen an Selbstorganisation und Flexibilität reicht (vgl. Abbildung 7). Die vertikale Achse (Ausbildungsorga-nisation) gibt Aufschluss darüber, wie projektförmig die Organisation von Ausbildung und Betreuung ist (Anzahl Rotationen, Einsatzdauer, Betreuungs-modell…). Die horizontale Achse (Ausbildungsphilosophie) bildet ab, in wel-chem Ausmaß die Netzwerklogik den Bezugsrahmen für die Ausbildungsphi-losophie und die berufliche Sozialisierung der Lernenden bildet.

Abbildung 7: Die Projektförmigkeit der unterschiedlichen Verbundmodelle (eigene Darstellung)

Teil II

Individuelle Ebene

6 Die Verbundausbildung aus der Perspektive von Lernenden

Die bisherigen Analysen haben gezeigt, dass Lehrbetriebsverbünde als Folge der postfordistischen Reorganisation von Arbeit und Betrieben betrachtet wer-den können. Im Vergleich zur traditionellen Lehre stellt diese dezentralisierte und projektförmige Form der beruflichen Grundbildung substanziell höhere Anforderungen an Flexibilität und Selbstorganisation – die beiden zentralen Kompetenzanforderungen der postfordistischen Arbeitsorganisation. Jedoch haben die Analysen auch gezeigt, dass sich Lehrbetriebsverbünde sowohl be-züglich ihres Orientierungsrahmens als auch ihrer Projektförmigkeit stark von-einander unterscheiden. In den folgenden Kapiteln wird nun die Frage unter-sucht, wie die Lernenden diese neuen Kompetenzanforderungen erfahren und bewältigen und ob in dieser postfordistischen Ausbildungsform alte Ungleich-heiten auf neue Weise reproduziert werden.

Die Dezentralisierung und die Flexibilisierung von Arbeit haben nicht nur ambivalente, sondern auch sozial ungleiche Folgen (vgl. Kapitel 3.2.3). Denn nicht alle Arbeitnehmenden verfügen über die Qualifikationen, Ressourcen und Kompetenzen, die einen souveränen Umgang mit postfordistischen Ar-beitsbedingungen ermöglichen (Castel, 2011, S. 20; Minssen, 2012, S. 120).

Die Fähigkeiten der Selbstorganisation und der Flexibilität sind systematisch ungleich verteilt, da ihr Erwerb an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist, und zwar an kulturelles und soziales Kapital (Schultheis, 2007, S. 71) bzw. an

„günstige Bedingungen der Bildungs- und Persönlichkeitsentwicklung“ (Rös-ser, 2004, S. 335).

Die Verbundausbildung verlangt von den Jugendlichen vergleichbare Vo-raussetzungen, wie sie die projektförmige Arbeitsorganisation des Postfordis-mus von den Arbeitnehmenden einfordert (vgl. Kapitel 5.2). Aus diesem Grund gehe ich von der Annahme aus, dass Lernende verschiedener sozialer Milieus die Anforderungen der Verbundlehre unterschiedlich erleben und be-wältigen. Ich gehe davon aus, dass Lernende aus bildungsnahen Milieus, wel-che die notwenigen Voraussetzungen für Flexibilität und Selbstorganisation aufgrund ihrer privilegierten Herkunftsbedingungen mitbringen, die Verbund-ausbildung in der Regel souverän bewältigen. Für sie stellt die Projektförmig-keit der Ausbildung eine Chance dar: Die dezentralisierte und flexibilisierte Ausbildung bedeutet für sie mehr Autonomie, Abwechslung und Selbstver-wirklichung. Die Verbundausbildung ist ideal auf ihre Aspirationen, Interessen und Möglichkeitsbedingungen abgestimmt und bietet dadurch ein optimales Sprungbrett für ihre berufliche Karriere.

Auf der anderen Seite gehe ich davon aus, dass Lernende aus bildungsfer-nen Sozialmilieus mit den hohen Anforderungen an Flexibilität und Selbstor-ganisation tendenziell eher überfordert sind, da sie diese Fähigkeiten und Ei-genschaften aufgrund ihrer Herkunftsbedingungen in geringerem Ausmaß er-worben haben. Untersuchungen von Lange-Vester und Redlich (2009, 2010) bestätigen, dass diese Jugendlichen in Bildungsinstitutionen mehr Strukturen und Orientierungshilfen benötigen. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Ver-bundausbildung für diese Lernenden ein Risiko darstellt.

Falls sich in der Analyse herausstellen sollte, dass die Verbundausbildung tatsächlich Eigenschaften und Strategien voraussetzt, über die Jugendliche bil-dungsferner Herkunft nur bedingt verfügen oder die für sie nur unter sehr gro-ßer Anstrengung erreichbar sind, dann hat dies nicht nur Verunsicherung und Schwierigkeiten während der Ausbildung zur Folge. Denn als Teil des Bil-dungssystems hat die Berufsbildung einen grundlegenden Anteil an der Repro-duktion und Legitimation sozialer Ungleichheit. Dadurch, dass im Bildungs-system milieuspezifische Eigenschaften und Strategien nicht gleichermaßen als legitim anerkennt werden, tragen die Ausbildung wie auch ihre Akteurin-nen und Akteure zur Reproduktion ungleicher Bildungschancen und sozialer Klassen bei (vgl. Lange-Vester & Teiwes-Kügler, 2006, S. 88). Wenn Ler-nende nicht diejenigen Fähigkeiten aufweisen, die in der Ausbildung von ihnen erwartet werden, schlägt sich dies nicht nur in Zeugnisnoten, Bewertungsge-sprächen und Übernahmechancen nieder, sondern auch in ihrem (beruflichen) Selbstverständnis und Selbstverhältnis, in ihren beruflichen Ambitionen und Aspirationen (vgl. Ecarius & Wahl, 2007; Leemann, 2015). Sollte diese Hypo-these zutreffen, dann können Lehrbetriebsverbünde als Bildungsinstitution ge-sehen werden, in der Jugendliche aus bildungsfernen Sozialmilieus systema-tisch benachteiligt werden, da sie Fähigkeiten fordern und sanktionieren, die das Resultat von privilegierten Sozialisationsbedingungen und als solche sozi-alstrukturell ungleich verteilt sind (vgl. Bourdieu, 2001a).

Allerdings stellen Lehrbetriebsverbünde für Jugendliche bildungsferner Sozialmilieus nicht nur ein Risiko dar, sondern gleichzeitig auch eine Chance.

Denn Lehrbetriebsverbünde fordern Flexibilität und Selbstorganisation nicht nur, sie fördern sie auch. Laut Voß und Pongratz (1998, S. 155) ist die syste-matische Vermittlung der „Schlüsselkompetenzen des Arbeitskraftunterneh-mers“ in der Ausbildung eine grundlegende Bedingung dafür, dass die post-fordistische Arbeitsorganisation auf individueller Ebene bewältigt werden kann. Denn die Gefahr von Überforderung, sozialer Abstufung und Prekarisie-rung betrifft vor allem diejenigen Personen, welchen diese Kompetenzen feh-len (ebd., S. 154). Auch Castel (2011, S. 20) weist darauf hin, dass mangelnde Projektfähigkeit das Resultat von ungleichen Sozialisationsbedingungen, aber auch fehlender Ausbildung sei (Castel, 2011, S. 20).

Wenn Selbstorganisation und Flexibilität für beruflichen Erfolg in moder-nen Arbeitsbedingungen tatsächlich so zentral sind, ist es die Aufgabe des Bil-dungssystems, diese Fähigkeiten auszubilden – jedoch ohne sie bereits voraus-zusetzen oder als angeborene Charaktereigenschaften zu behandeln. Denn so-ziale Ungleichheit wird dann reproduziert, wenn diese sozialstrukturell un-gleich verteilten Fähigkeiten in der Ausbildung oder auf dem Arbeitsmarkt vo-rausgesetzt, aber nicht systematisch ausgebildet werden. Lehrbetriebsver-bünde können daher auch als Sozialisationskontext gesehen werden, der es Ju-gendlichen aus bildungsfernen Sozialmilieus ermöglicht, sich Flexibilität und Selbstorganisation anzueignen – grundlegende Elemente des postfordistischen Anforderungsprofils, für welche die Erwerbsvoraussetzungen in ihren Her-kunftsmilieus nicht gegeben sind.

Im zweiten Analyseteil (Kapitel 8) werde ich die Erfahrungen der Lernen-den vor dem Hintergrund des beschriebenen Spannungsverhältnisses zwischen Reproduktion und Emanzipation herausarbeiten. Wie erleben und bewältigen Lernende unterschiedlicher sozialer Herkunft die Anforderungen der Verbund-ausbildung? Gibt es milieutypische Erfahrungsmuster und Bewältigungsstra-tegien? Welche Chancen und Risiken impliziert die Verbundausbildung je nach sozialer Herkunft? Haben Lehrbetriebsverbünde das Potenzial, ungleiche Sozialisationsbedingungen auszugleichen und dadurch soziale Ungleichheit zu reduzieren? Oder kommt es vielmehr zu einer „Sanktionierung des kulturellen Privilegs“ (Bourdieu, 2001a, S. 42), da „unsichere“, „unselbstständige“ und

„wenig flexible“ Lernende Prozesse der Aberkennung und Abdrängung erle-ben?

Das Spannungsverhältnis zwischen Reproduktion und Emanzipation be-trifft nicht nur Lehrbetriebsverbünde, sondern auch das gesamte Bildungssys-tem. Es ist begründet im Doppelcharakter von Bildungsinstitutionen, die Wis-sen, Fähigkeiten und Qualifikationen nicht nur vermitteln, sondern auch sank-tionieren und zur Grundlage für die Zuweisung unterschiedlich privilegierter Positionen machen. Um die sozial ungleichen Folgen der Verbundausbildung zu verdeutlichen, werde ich in den folgenden Kapiteln zunächst Bourdieus Konzept von Habitus und sozialem Raum (Bourdieu, 1987) sowie den darauf aufbauenden Ansatz der sozialen Milieus und Mentalitäten (Vester, von Oert-zen, Geiling, Hermann & Müller, 2001) beschreiben.

6.1 Mechanismen sozialer Ungleichheit im Bildungssystem

Die Annahme, dass Lernende je nach sozialer Herkunft die Anforderungen der Verbundausbildung unterschiedlich erleben und bewältigen, basiert auf der kulturellen Soziologie Pierre Bourdieus. Eine von Bourdieus

Grundhypothe-sen besagt, dass zwischen der Gesellschaftsstruktur und den mentalen Struktu-ren von Individuen eine Korrespondenz besteht (Bourdieu & Wacquant, 2006, S. 31). Demnach ist der „Charakter“ (Eigenschaften, Fähigkeiten, Wertehal-tung etc.) nicht strikt individuell, sondern wird durch die spezifische soziale Position einer Akteurin oder eines Akteurs strukturiert (Bourdieu, 1997b, S. 168). Diese Korrespondenz zwischen sozialen und mentalen Strukturen fasst Bourdieu im Konzept des Habitus. Grob vereinfacht bezeichnet der Ha-bitus die in der Sozialisation erworbenen Gewohnheiten, Handlungsroutinen und Denkweisen. Bourdieu definiert den Habitus als „System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen“, welches Wahrnehmungs-, Denk- und Hand-lungsschemata strukturiert (Bourdieu, 1993, S. 98, 101). Der Habitus äußert sich in Einstellungen, Bedürfnissen und Erwartungen genauso wie in Ge-schmack, Erscheinungsbild und Sprachgebrauch (Bourdieu, 1997b, S. 168). Er ist die Grundlage von Praktiken und Vorstellungen; eine Tendenz, auf eine spezifische Weise zu handeln und zu denken. „[Der Habitus] bezeichnet im Grunde eine recht simple Sache“, hielt Bourdieu einst in einem Interview fest.

„Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person versperrt ist“ (Bourdieu, 2005, S. 33).

Der Habitus ist das Produkt von materiellen Existenzbedingungen und bi-ografischen Erfahrungen. Im Habitus eines Menschen kommen „sämtliche in-korporierten, früheren sozialen Erfahrungen zum Ausdruck“ (Lenger, Schnei-ckert & Schumacher, 2013, S. 14). Die Bedingungen, unter denen ein Kind aufwächst, werden laut Bourdieu im Wesentlichen durch das ökonomische und kulturelle Kapital der Herkunftsfamilie bestimmt (Bourdieu, 1998, S. 18; Krais

& Gebauer, 2013, S. 37). Aus diesem Grund ist der Habitus klassenspezifisch ausgeprägt: Indem sich die in der Gesellschaft ungleich verteilten materiellen und kulturellen Ressourcen in der alltäglichen Lebensführung niederschlagen, entwickeln Individuen klassenspezifische Wahrnehmungsmuster und Hand-lungsstrategien:

Durch transformierende Verinnerlichung der äußeren (klassenspezifisch verteilten) ma-teriellen und kulturellen Existenzbedingungen entstanden, stellt der Habitus ein dauerhaft wirksames System von (klassenspezifischen) Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungs-schemata dar, das sowohl den Praxisformen sozialer Akteure als auch den mit dieser Pra-xis verbundenen alltäglichen Wahrnehmungen konstitutiv zugrunde liegt. (Schwingel, 2005, S. 73)

6.1.1 Bourdieus Kapitalbegriff

Um das bisher Beschriebene besser verstehen zu können, muss an dieser Stelle Bourdieus Kapitalbegriff eingeführt werden. Bourdieu erweitert Marx’ Kapi-talbegriff insofern, als er jegliche Ressourcen, welche die Erfolgschancen ei-ner Person in der Gesellschaft beeinflussen, als Kapital bezeichnet (Bourdieu,

2005, S. 50). Erst wenn man Kapital „in all seinen Erscheinungsformen“ er-fasst, könne man die Struktur und die Funktionsweise der gesellschaftlichen Welt verstehen (Bourdieu, 2005, S. 52). Entsprechend existieren neben dem ökonomischen Kapital noch weitere Kapitalarten: das kulturelle, das soziale und das symbolische Kapital.

Das kulturelle Kapital kommt in drei Formen vor: als in Bildung inkorpo-riertes, als in Büchern, Bildern etc. objektiviertes und als in schulischen Titeln und Diplomen institutionalisiertes Kulturkapital. Das inkorporierte Kulturka-pital umfasst alle Kenntnisse, Fähigkeiten, Einstellungen und Gewohnheiten, die im Bildungssystem vorausgesetzt bzw. belohnt werden, und ist somit ein wesentlicher Bestandteil des Habitus (Da Rin, 2004, S. 21). Zum inkorporier-ten Kulturkapital gehören auch Motivationen und Einstellungen in Bezug auf Bildung und Lernen. Inkorporiertes Kulturkapital wird innerhalb der Familie weitgehend unbewusst weitergegeben („soziale Vererbung“). Die Verinnerli-chung von kulturellem Kapital geschieht dabei in alltäglichen familiären Prak-tiken und Routinen, die spezifische Selbstverständlichkeiten, Werte und Ori-entierungen vermitteln (Bourdieu, 1996, S. 56; Büchner & Brake, 2007, S. 186).

Zum objektivierten Kulturkapital zählen materielle Kulturgüter wie Bü-cher, Bilder, Maschinen, Instrumente etc. Im Gegensatz zum inkorporierten Kulturkapital ist objektiviertes Kulturkapital unmittelbar übertragbar, das heißt, es kann verkauft und gekauft werden. Seine Nutzung setzt jedoch inkor-poriertes Kulturkapital voraus: Es werden spezifische Dispositionen benötigt, um ein Buch zu verstehen und zu genießen, um eine Maschine zu bedienen etc.

(Bourdieu, 2005, S. 59).

Das institutionalisierte Kulturkapital schließlich beinhaltet Bildungstitel wie Zeugnisse, Zertifikate und Diplome. Institutionalisiertes Kulturkapital un-terscheidet sich vom inkorporierten Kulturkapital der Autodidaktinnen und Autodidakten dadurch, dass Letztere unter dauerndem Beweiszwang stehen.

Der schulische Titel hingegen verschafft seinen Trägerinnen und Trägern ei-nen dauerhaften und rechtlich garantierten „Beweis“ ihrer kulturellen Kompe-tenz, welcher relativ unabhängig ist vom tatsächlichen kulturellen Kapital, das eine Person zu einem spezifischen Zeitpunkt besitzt (Bourdieu, 2005, S. 61).

Das soziale Kapital umfasst alle Ressourcen, welche eine Akteurin oder ein Akteur aufgrund von Beziehungen, sozialen Netzwerken und der Zugehö-rigkeit zu bestimmten Gruppen für sich nutzen kann. Der Umfang des sozialen Kapitals beruht dabei nicht nur auf der Anzahl von Sozialbeziehungen, über die verfügt wird, sondern primär auf der Kapitalausstattung des Netzwerks so-wie auf den Ressourcen, welche dieses mobilisieren kann.

Einen übergeordneten Platz nimmt die vierte Kapitalart, das symbolische Kapital, ein. Symbolisches Kapital beruht auf gesellschaftlicher Anerkennung und verleiht somit seinem Träger Ansehen, Prestige und letztendlich soziale

Macht. Dabei geht es in einer Art „symbolischer Verdoppelung sozialstruktu-reller Unterschiede“ (Weiß, 2001, S. 90) um die Anerkennung einer Person aufgrund ihrer ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitalausstattung.

Bourdieu geht davon aus, dass das ökonomische Kapital den anderen Ka-pitalarten zugrunde liegt. Die verschiedenen KaKa-pitalarten sind jedoch mittels einer mehr oder weniger großen „Transformationsarbeit“ ineinander konver-tierbar. Gleichzeitig lassen sich die „transformierten und travestierten Erschei-nungsformen des ökonomischen Kapitals“ (Bourdieu, 2005, S. 71) nicht auf ökonomisches Kapital reduzieren, da ihre Wirkung darauf basiert, dass sie ver-schleiern, dass ihnen ökonomisches Kapital zugrunde liegt (ebd.). Beispiels-weise ist der akademische Titel „das Produkt einer Umwandlung von ökono-mischem in kulturelles Kapital“ (Bourdieu, 2005, S. 62). Dabei sind nicht nur die Ausgaben (Studiengebühren, Bücher etc.) von Bedeutung, sondern vor al-lem die Möglichkeit des Verzichts auf Einkommen über längere Zeit. Aller-dings kann der akademische Titel danach auf dem Arbeitsmarkt wiederum zu Geld gemacht werden; die anfängliche Umwandlung von ökonomischem Ka-pital in kulturelles KaKa-pital ist somit umkehrbar. Etwas zugespitzt ausgedrückt:

Die Transformation von Geld in einen akademischen Titel legitimiert ein hö-heres Einkommen auf dem Arbeitsmarkt und verschleiert gleichzeitig, dass dem höheren Erwerbseinkommen ursprünglich eine höhere Anfangsausstat-tung an ökonomischem Kapital zugrunde lag.

6.1.2 Das Modell des sozialen Raums

Ein weiteres, mit dem Kapitalbegriff eng verbundenes Konzept in Bourdieus Theorie ist der soziale Raum. Der soziale Raum stellt laut Bourdieu eine sche-matische Abbildung der Kräfteverteilung einer Gesellschaft dar. In einem ers-ten Schritt wird der soziale Raum zunächst als relativ simple grafische Darstel-lung der KapitalverteiDarstel-lung der Gesellschaft konstruiert. Aufgrund der Menge und der Art ihres Kapitals wird jeder Akteurin und jedem Akteur bzw. jeder Gruppe von Akteurinnen und Akteuren eine spezifische Position im sozialen Raum zugeteilt. Die vertikale Achse in Abbildung 8 definiert dabei das Ge-samtvolumen aller Kapitalformen29, welche die Person besitzt, die horizontale Achse gibt Auskunft über das relative Gewicht des kulturellen und des ökono-mischen Kapitals – dies, da diese beiden Kapitalformen laut Bourdieu in den westlichen Gesellschaften die wichtigsten „Differenzierungsprinzipien“ sind (Bourdieu, 1997a, S. 106):

29 Je nach Publikation schließt das Gesamtvolumen nur das ökonomische und das kultu-relle Kapital (Bourdieu, 1998, S. 18), das ökonomische, das kultukultu-relle und das soziale Kapital (Schwingel, 2005, S. 107) oder alle vier Kapitalformen (Bourdieu, 1997a, S. 107) mit ein.

Der soziale Raum ist so konstruiert, dass die Verteilung der Akteure oder Gruppen in ihm der Position entspricht, die sich aus ihrer statistischen Verteilung nach zwei Unterschei-dungsprinzipien ergibt, die in den am weitesten entwickelten Gesellschaften wie den Ver-einigten Staaten, Japan oder Frankreich die zweifelsohne wirksamsten sind, nämlich das ökonomische Kapital und das kulturelle Kapital. (Bourdieu, 1998, S. 18)

Auf diese Weise entsteht ein Raum objektiver Positionen, in den Akteurinnen und Akteure bzw. Gruppen anhand statistischer Daten wie Einkommen, Ver-mögen, Schulbildung und Berufsqualifikation eingeordnet werden können.

Die Interpretation des Schemas in Abbildung 8 ist relativ einfach: Personen mit viel Gesamtkapital befinden sich in der Grafik oben, solche mit wenig Ka-pital unten. Besteht ihr KaKa-pital mehrheitlich aus kulturellem KaKa-pital, sind sie auf der linken Seite verortet; besteht ihr Kapital in erster Linie aus ökonomi-schem Kapital, finden sie sich in der rechten Hälfte des sozialen Raums wieder.

Bourdieu verwendet den Beruf als Indikator für die Position im sozialen Raum, da dieser Aufschluss sowohl über Bildungsabschluss als auch Einkom-men gibt (Bourdieu, 1997a, S. 108). So sind beispielsweise Hochschulleh-rende, Kunstproduzentinnen und Kunstproduzenten im linken oberen Viertel angesiedelt, Unternehmerinnen und Unternehmer aus Handel und Industrie im rechten oberen Viertel. Der Beruf der Kauffrau bzw. des Kaufmannes, den ich in der vorliegenden Dissertation vorrangig untersuche, wird von Bourdieu in einem relativ großen Feld in der Mitte dieses Raums verortet (Bourdieu, 1987, S. 533).

Abbildung 8: Raum der sozialen Positionen (Schwingel, 2005, S. 108)

Über diesen Raum der sozialen Positionen legt Bourdieu eine zweite Ebene:

den Raum der Lebensstile. Der Begriff des Lebensstils umfasst die symbolisch-kulturelle Dimension der Lebensführung wie Geschmack, Stil, Konsum- und Verhaltensgewohnheiten, Wahlverhalten und so weiter. Zwischen diesen bei-den Sub-Räumen, dem Raum der objektiven sozialen Positionen und dem

Raum der Lebensstile, besteht laut Bourdieu eine Wechselbeziehung: Sie wer-den wie Folien übereinandergelegt, sodass jeder sozialen Position (oder Posi-tionenklasse) bestimmte typische Praktiken und Vorlieben zugeordnet werden können. Diese Beziehung zwischen sozialer Position und Lebensstil ist jedoch keine streng kausale, vielmehr handelt es sich um Korrespondenzen bzw.

Wahrscheinlichkeiten (Schwingel, 2005, S. 113).

Der Lebensstil lässt sich laut Bourdieu nicht allein von den objektiven kul-turellen und materiellen Bedingungen ableiten, sondern muss ebenso aus der relativen Position einer Gruppe im Verhältnis zu anderen Positionen erklärt werden. Eine soziale Lage ist nicht nur durch ihre eigenen Lebensbedingungen geprägt, sondern auch durch die Differenz zu den Lebensbedingungen anderer sozialer Lagen, die über oder unter ihr liegen. Erst durch die Bezugnahme auf unterschiedliche Besitztümer, Praktiken und Meinungen bekommen Unter-schiede in der alltäglichen Lebensführung eine symbolische Bedeutung (z.B.

als exklusiv oder vulgär) und stiften soziale Identität (Bourdieu, 1987, S. 279).

Positionen sind also sowohl material, durch objektiv vorhandene Ressourcen, als auch relational, im Verhältnis zu anderen Positionen, definiert (Bourdieu, 1997a, S. 110).

Das Verbindungsglied zwischen der sozialen Position und dem Lebensstil ist der Habitus: Der Habitus übersetzt die Existenzbedingungen einer sozialen Position in spezifische Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster, welche sich wiederum in verschiedenen Lebensstilen niederschlagen.

Akteure, die in diesem Raum benachbarte Positionen einnehmen, stehen unter ähnlichen Bedingungen und unterstehen deshalb ähnlichen Bedingungsfaktoren: Sie werden dem-zufolge mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ähnliche Dispositionen und Interessen haben und dementsprechend Vorstellungen und Praktiken ähnlicher Art produzieren. Diejeni-gen, welche die gleichen Positionen einnehmen, haben alle Aussichten auf den gleichen Habitus, zumindest insoweit, als die Laufbahnen, die sie in diese Position geführt haben, einander ähnlich sind. (Bourdieu, 1997a, S. 109)

Jeder sozialen Position (bzw. Region im sozialen Raum) entspricht also ein Klassenhabitus. Unter „Klasse“ versteht Bourdieu das „Ensemble von Akteu-ren (…), welche aufgrund des Umstandes, dass sie ähnliche Positionen im so-zialen Raum (…) einnehmen, ähnlichen Existenzbedingungen und konditio-nierenden Faktoren unterworfen und demzufolge mit ähnlichen Dispositionen ausgestattet sind, die sie ähnliche Praktiken entwickeln lassen“ (Bourdieu,

Jeder sozialen Position (bzw. Region im sozialen Raum) entspricht also ein Klassenhabitus. Unter „Klasse“ versteht Bourdieu das „Ensemble von Akteu-ren (…), welche aufgrund des Umstandes, dass sie ähnliche Positionen im so-zialen Raum (…) einnehmen, ähnlichen Existenzbedingungen und konditio-nierenden Faktoren unterworfen und demzufolge mit ähnlichen Dispositionen ausgestattet sind, die sie ähnliche Praktiken entwickeln lassen“ (Bourdieu,