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Betreuungsmodell und Betreuungskultur

Teil I: Organisatorische Ebene

5 Lehrbetriebsverbünde: Flexibilisierte Berufsbildung im

5.3 Unterschiede in der Projektförmigkeit der vier Verbünde

5.3.2 Betreuungsmodell und Betreuungskultur

In Lehrbetriebsverbünden müssen Lernende die Beziehung zu ihren offiziellen Ausbildungsverantwortlichen (Ausbildungsleitung) aus der Distanz aufrecht-erhalten, während ihre tägliche Ansprechperson im Betrieb (Berufsbildnerin oder Berufsbildner) mit jeder Rotation wechselt. Im Vergleich zur traditionel-len Lehre werden ihre Leistungen tendenziell weniger kontrolliert und sie müs-sen selbst abschätzen können, in welchen Situationen sie die Ausbildungslei-tung involvieren. Dieses Betreuungsmodell verlangt von den Lernenden des-halb größere Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Außerdem müssen sie fähig sein, sich schnell auf neue Personen einzulassen, neue Vertrauensver-hältnisse aufzubauen und mit einer gewissen Unbekümmertheit wieder Ab-schied zu nehmen.

Daneben gibt es Komponenten der Betreuung, die von Verbund zu Ver-bund unterschiedlich organisiert werden und die unterschiedliche Anforderun-gen in Bezug auf Projektfähigkeit stellen. Im FolAnforderun-genden wird die Frage nach der Anzahl der Ausbildungsleiterinnen und Ausbildungsleiter sowie nach der Rolle der Ausbildungsleitung genauer beleuchtet.

Lernendenzentriertes und betriebszentriertes Betreuungsmodell

Es gibt zwei verschiedene Modelle, wie die Beziehung im Dreieck Leitorgani-sation – Ausbildungsbetrieb – Lernende/Lernender organisiert werden kann:

Entweder haben die Lernenden eine konstante Bezugs- und Betreuungsperson

in der Leitorganisation, oder die Berufsbildnerinnen und Berufsbildner haben eine konstante Ansprechperson. Im ersten Fall muss der Ausbildungsbetrieb mit wechselnden Ansprechpersonen zusammenarbeiten, im zweiten Fall die Lernenden. Es geht also um die Frage, wer die Rotation bewältigen muss –die Lernenden oder die Berufsbildnerinnen und Berufsbildner. Diese Entschei-dung müssen jedoch nur große Lehrbetriebsverbünde treffen. Bei kleinen Ver-bünden gibt es in der Regel insgesamt nur eine bzw. einen oder einige wenige Ausbildungsleiterinnen und Ausbildungsleiter, sodass die Betreuungskonstanz sowohl für die Lernenden als auch für die Betriebe gewährleistet ist.

Der staatliche Großverbund Integranet hat bereits beide Varianten getestet.

Das Modell der wechselnden Ausbildungsleiterinnen und Ausbildungsleiter hat jedoch einige Probleme verursacht, weshalb wieder das lernenden-zentrierte Modell eingeführt wurde:

Ich will, dass der Ausbildungsleiter an den Jugendlichen angehängt ist. […] Wenn du jetzt bei mir eine Lehre machst und du gehst im zweiten Lehrjahr woanders hin, dann wandere ich als Ausbildungsleiter mit dir mit. (…) Ich bin ganz klar der Meinung, bei uns ist der Jugendliche im Zentrum. (Vertretung Leitorganisation Integranet; P21: 439)

Mit der Zielsetzung, die Lernenden ins Zentrum zu setzen, argumentiert die Vertretung der Leitorganisation mit den Anforderungen der staatsbürgerlichen Welt, welche in staatlich initiierten Verbünden einen zentralen Bezugsrahmen bildet.

Der privatwirtschaftliche Großverbund Transportnet hat diese Frage anders gelöst: Im Zentrum steht die Beziehung zwischen der Ausbildungsleitung in der Leitorganisation und der Berufsbildnerin oder dem Berufsbildner im Aus-bildungsbetrieb. Im Gegensatz zum lernendenzentrierten Modell hat hier die Berufsbildnerin bzw. der Berufsbildner eine konstante Bezugs- und Ansprech-person. Für die Lernenden bedeutet dies, dass sie mit dem Wechsel des Be-triebs oft auch die Ausbildungsleitung wechseln. Die konkrete Ausgestaltung der Betreuung richtet sich nach den Bedürfnissen der Ausbildungsbetriebe als Kunden und ist deshalb marktorientiert; von den Lernenden fordert es größere Flexibilität und eine Leichtigkeit im Eingehen und Auflösen von Beziehungen.

Das betriebszentrierte Betreuungsmodell folgt außerdem einer industriellen Logik, denn es ist effizienter, wenn die Ausbildungsleitung alle Ausbildungs-betriebe einer Region betreut und entsprechend möglichst viele Betriebe an einem Tag besuchen kann.

Das Credo der Kosteneffizienz gilt hier auch für die Anzahl der zu betreu-enden Lernbetreu-enden: Eine Ausbildungsleiterin oder ein Ausbildungsleiter betreut in diesem Verbund bei gleichem Pensum fast doppelt so viele Lernende wie das Pendant bei Integranet. Vonseiten der Lernenden bedingt dieses Betreu-ungsmodell ein höheres Maß an Selbstorganisation und Selbstkontrolle. Diese Kompetenzen werden von den Lernenden erwartet und gefördert, indem sie zu eigenverantwortlichen und unternehmerisch denkenden Individuen im Sinne des Arbeitskraftunternehmers sozialisiert werden:

In einer Ausbildung benötigt man ein Menschenbild. (…) Auch die Haltung, die dahinter steht, eine Wertehaltung. Und, ich glaub, das haben wir mit dem Lebensunternehmer26 in dem Sinne definiert. (…) Und Unternehmer heißt eigentlich selbst anpacken. Also Selbst-verantwortung, selbst eine Lösung suchen, und zwar nicht nur im Beruflichen, sondern insgesamt auch vom Leben. (…) Und in diesem Sinne fördern wir die Lernenden auf ihrem Weg, das Leben anpacken zu können, selbst zu bewältigen. (Vertretung Leitorga-nisation Transportnet; P31: 45)

Das Betreuungsprinzip ist hier primär nach den Rationalitäten der marktlichen, der industriellen und der Netzwerkwelt ausgestaltet. Gleichzeitig besteht aber auch ein Raum für Ausnahmeregelungen: In Fällen, in denen ein Wechsel der Ausbildungsleitung als problematisch eingeschätzt wird (zum Beispiel, wenn die oder der Lernende aufgrund von privaten oder schulischen Problemen ein besonderes Vertrauensverhältnis zur Ausbildungsleitung aufgebaut hat), wird ein solcher Wechsel möglichst vermieden. Dies bedeutet dann aber, dass die oder der betreffende Lernende in der Lehrplatzwahl eingeschränkt ist.

Die Rolle der Ausbildungsleitung – Sozialarbeiter*in oder Coach? Kontrolle oder Selbstverantwortung?

Welche Rolle die Ausbildungsleitung gegenüber den Lernenden einnimmt, hängt insbesondere davon ab, wie oft sie die Lernenden sieht, wie stark sie deren Leistungen kontrolliert und welches Selbstverständnis im Lehrbetriebs-verbund diesbezüglich herrscht. Sieht sich die Ausbildungsleitung stärker als Begleiterin und Kontrolleurin der Lernenden oder sieht sie das Betreuungsver-hältnis vor allem als Übungsplatz für Selbstständigkeit und Eigenverantwor-tung?27

Die Ausbildungsleiterinnen und Ausbildungsleiter der beiden parastaatli-chen Verbünde sehen sich in der Rolle als Vertrauensperson, als Vermittelnde bei Konflikten und als kontrollierende Instanz: „Ich muss den nicht ausbilden, ich begleite den. Ich bin so ein bisschen sein Schatten. (…) Und wenn es Prob-leme gibt, suchen wir Lösungen“ (Vertretung Ruralnet; P17: 172). Die Ausbil-dungsleitung „muss eine Mischung sein aus Lehrer, Sozialarbeiter […] und Kontrolleur“ (Vertretung Integranet; P19: 961). Den Lernenden wird von Lehrbeginn an vermittelt, dass sie bei Problemen jederzeit, Tag und Nacht, zu ihr kommen dürfen:

Wenn es ein Problem gibt, müssen wir [dem Lernenden] von Anfang an das Vertrauen schenken, dass wir jederzeit da sind für ihn. (…) Er muss irgendwo eine Vertrauensperson haben. Manchmal traut er sich nicht bei den Eltern, weil das vielleicht direkt eine Bombe auslösen könnte. Das ist wichtig, das sehe ich als Chance, (…) dass er immer kommen

26 Transportnet verfolgt eine Ausbildungsphilosophie, die sich am Leitbild des „Lebens-unternehmers“ orientiert.

27 Diese beiden Ausrichtungen schließen sich nicht per se aus, können aber

unterschied-darf und soll, und kommen muss, wenn etwas nicht stimmt, sei es [im Ausbildungsbe-trieb], in der Schule oder auch zu Hause. (Vertretung Leitorganisation Integranet; P23:

685)

Eine Ausbildungsleiterin Ruralnets weist darauf hin, wie wichtig es sei, die Lernenden gut zu kennen und zu wissen, wie ihr Umfeld aussehe. So könne man individuell abschätzen, wie man reagieren solle, wenn Schwierigkeiten auftauchen. Bei diesem Verbund werden auch die Eltern der Lernenden stark involviert: Bei Problemen werden sie beigezogen und es wird auf ihre Funk-tion als Autoritäts- und Erziehungsinstanz gesetzt. Dies ist auch dann noch der Fall, wenn die Lernenden volljährig sind, denn die Eltern seien „von Rechtes wegen bis zum letzten Ausbildungstag (…) verantwortlich für ihre Kinder“

(Vertretung Leitorganisation Ruralnet; P17: 150).

Beide parastaatlichen Verbünde haben ein elaboriertes Kontrollsystem. Die Lernenden müssen wöchentlich bzw. monatlich Unterlagen einreichen (z.B.

Wochenrückblick, Übersicht über Absenzen und Arbeitszeiten, Lerndokumen-tation oder Notenübersicht).28 Die Kontrolle dient im Verständnis der Ausbil-dungsleitung primär den Lernenden: Wenn das Bestehen der Lehre gefährdet zu sein scheint, können auf diese Weise rechtzeitig Maßnahmen wie Stützkurse und Zielvereinbarungen eingeleitet werden.

Die Ausbildungsleiterinnen und Ausbildungsleiter der parastaatlichen Ver-bünde Ruralnet und Integranet sehen sich in einem erzieherischen Verhältnis zu den Lernenden. Dieses ist durch Nähe, Vertrauen und Kontrolle geprägt (häusliche Welt). Ein solches Betreuungsverhältnis ist in kleinen Verbünden am einfachsten umsetzbar. Mit zunehmender Größe wird es schwieriger, die-sen Anspruch tatsächlich auch einzulödie-sen.

Wir kennen eigentlich alle Eltern. Das ist vielleicht auch ein Unterschied. Wir kennen sie wirklich. Wir sehen sie mehrere Male. Wir haben einen Vertrag, den wir zusammen un-terschreiben. Wir haben Informationsanlässe. Und wenn etwas nicht klappt, dann holen wir die Eltern. Wir informieren die Eltern, dass sie, egal wie alt ihre Jünglinge sind, dass wir sie holen. (Vertretung Leitorganisation Ruralnet; P17: 150)

Transportnet hingegen, der große privatwirtschaftliche Verbund, setzt voll und ganz auf die Eigenverantwortung der Lernenden. Dass Selbstverantwortung großgeschrieben wird, diese Botschaft wird den Lernenden von der ersten Wo-che an vermittelt:

Wir wollen ihnen aufzeigen, dass [sich] in ihrem Leben etwas geändert hat. Sie sind jetzt nicht mehr Schüler und vorne steht nicht mehr der Lehrer, der sagt, „nächste Woche habt ihr diese Prüfung, lernt das in diesen und diesen Häppchen“. Sondern jetzt sind sie in der

28 In der Praxis gibt es zwei unterschiedliche Modelle zur Umsetzung dieses Kontrollsys-tems: Entweder reichen die Lernenden die erwähnten Unterlagen direkt bei der Ausbil-dungsleitung ein (direkter Weg) oder sie geben sie ihren Berufsbildnerinnen und Be-rufsbildnern ab, welche wiederum der Ausbildungsleitung ein Feedback geben (indi-rekter Weg).

Berufswelt. Sie haben Verantwortung gegenüber dem Kunden. Sie haben aber auch die Verantwortung, in drei Jahren ihre Lehrabschlussprüfung zu bestehen und es steht nicht mehr ein Lehrer vorne, der sagt, „du musst auf diese Weise lernen“. (Vertretung Leitor-ganisation Transportnet; P25: 1130)

Die Lernenden sind selbst dafür verantwortlich, dass sie ihre Lernziele errei-chen. Die Ausbildungsleitung schaut ihnen nicht systematisch auf die Finger.

Wenn ihre Leistungen nachlassen, werden sie deshalb nicht durch die Ausbil-dung „gezogen“. Auch die Berufsbildnerinnen und Berufsbildner in den Aus-bildungsbetrieben werden bei diesem Lehrbetriebsverbund dazu angeleitet,

„Coach zu sein und nicht eine Lehrperson“ (P27: 413). Konkret bedeutet das, dass sie die Lernenden möglichst selbstständig ganze Arbeitsabläufe erledigen lassen sollen.

Während die Rolle der Ausbildungsleiterinnen und Ausbildungsleiter in den parastaatlichen Verbünden vorwiegend auf den Prinzipien der häuslichen und der industriellen Welt (Vertrauen; Kontrolle) basiert, ist beim großen pri-vatwirtschaftlichen Verbund die Netzwerkwelt (Selbstverantwortung) domi-nant. Eine solche Betreuung ist auch kostengünstiger – im Betreuungsmodell bilden sich entsprechend die erklärten Ziele dieses Lehrbetriebsverbundes ab:

projektfähige Nachwuchskräfte und Kosteneffizienz der Ausbildung.

Spednet, der kleine privatwirtschaftliche Lehrbetriebsverbund, steht im Be-treuungsverständnis zwischen diesen beiden Polen. Die überschaubare Größe und die Häufigkeit der Kontakte führen zu einem relativ engen Verhältnis zwi-schen Ausbildungsleitung und Lernenden, aber eine Vertrauens- und Begleit-funktion wird weniger betont. Kontrolle ist auch in diesem Verbund sehr zent-ral. In der Argumentation der Leitorganisation ist die Kontrolle aber vorwie-gend auf die Entlastung der Ausbildungsbetriebe ausgerichtet, da die Leitorga-nisation ihnen die Disziplinierung der Lernenden abnimmt und so einen mög-lichst reibungslosen Ablauf der Ausbildung sichert. Das Betreuungsverhältnis beruht hier in erster Linie auf einem Kompromiss zwischen der häuslichen und der industriellen Welt (Nähe und Kontrolle) sowie der Marktwelt (Kundenori-entierung).