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Die Genese des Habitus

Teil II: Individuelle Ebene

6.1 Mechanismen sozialer Ungleichheit im Bildungssystem

6.1.4 Die Genese des Habitus

Die Grundstruktur des Habitus wird in der Kindheit, im Rahmen der Soziali-sation, ausgebildet. Die unmittelbare Erfahrung des familiären Alltags und des sozialen Umfelds werden vom Kind verinnerlicht und prägen die Wahrneh-mung und die Beurteilung aller weiteren Ereignisse. Auf diese Weise fließen frühere Erfahrungen in Form von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungs-schemata konstitutiv in zukünftige Handlungen und Bewertungen ein, ohne diese im Voraus vollständig zu bestimmen. Dies geschieht weitgehend unbe-wusst: Der Habitus ist tief im Körper verankert und erzeugt Praxisformen, die (auf der Basis der vergangenen Erfahrungen) instinktiv als sinnhaft erscheinen.

Dabei ist der Habitus weniger deterministisch, als vielfach angenommen wird.

Mit dem Habitus können „alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, und nur diese, frei hervorgebracht werden, die innerhalb der Grenzen der be-sonderen Bedingungen seiner eigenen Hervorbringung liegen“ (Bourdieu, 1993, S. 102). Laut Bourdieu ist der Habitus somit „der unvorhergesehenen Neuschöpfung ebenso fern wie der simplen mechanischen Reproduktion ur-sprünglicher Konditionierungen“ (Bourdieu, 1993, S. 103). Der Habitus gibt Handlungen nicht genau vor; vielmehr grenzt er den Möglichkeitsraum von Handlung ein:

[Der Habitus] strukturiert (…) Selbstverständlichkeiten und Routinen im alltäglichen Denken und Handeln. Er filtert den Horizont des Vorstellbaren, die Legitimität der Wün-sche, die Akzeptanz der Grundüberzeugungen und die Angemessenheit der Verhaltens-weisen, die darüber entscheiden, inwieweit der Habitus sozial anschlussfähig ist. (Ecarius

& Wahl, 2007, S. 14)

Dieses Verständnis von Akteurinnen und Akteuren richtet sich gegen die Vor-stellung eines absolut freien, ökonomisch-rational handelnden Individuums.

Laut Bourdieu ist der Homo oeconomicus das Produkt von spezifischen öko-nomischen und sozialen Bedingungen und hat somit einen spezifischen Ort im sozialen Raum. Die Fähigkeiten und Dispositionen des rationalen Verhaltens (Risiko- und Investitionsbereitschaft, Antizipation von Chancen, Kalkulation von Kosten etc.) sind laut Bourdieu abhängig von einer privilegierten sozialen Herkunft und der damit verbundenen Macht (Bourdieu & Wacquant, 2006, S. 158). Der Habitus kann sich durch spätere Erfahrungen zwar verändern, je-doch bleiben die primären Sozialisationserfahrungen ein Leben lang prägend:

Der Habitus ist nicht das Schicksal, als das er manchmal hingestellt wurde. Als ein Pro-dukt der Geschichte ist er ein offenes Dispositionensystem, das ständig mit neuen Erfah-rungen konfrontiert und damit unentwegt von ihnen beeinflusst wird. Er ist dauerhaft, aber nicht unveränderlich. Dem ist allerdings sofort hinzuzufügen, dass es schon rein statistisch den meisten Menschen bestimmt ist, auf Umstände zu treffen, die in Einklang mit denjenigen Umständen stehen, die ihren Habitus ursprünglich geformt haben, also Erfahrungen zu machen, die dann wieder ihre Dispositionen verstärken. (Bourdieu &

Wacquant, 2006, S. 167 f.)

Der Habitus wird durch biografische Erfahrungen andauernd mehr oder weni-ger modifiziert. Jedoch tendiert der Habitus dazu, sich vor Krisen zu schützen, indem er sich ein Umfeld schafft, an das er weitmöglichst angepasst ist. In der Regel wählt man Freundinnen und Freunde, Aktivitäten, Ausbildungen etc. so aus, dass sie zu einem (d.h. zu den eigenen habituellen Dispositionen) passen.

Auf diese Weise vermeidet man Situationen, welche die eigenen Wahrneh-mungs- und Beurteilungsschemata infrage stellen – der Habitus verstärkt sich selbst (Bourdieu, 1993, S. 114). Entsprechend ist eine Transformation des Ha-bitus („HaHa-bitusmetamorphose“) umso wahrscheinlicher, je mehr man sich in einem sozialen Umfeld bewegt, welche sich vom Herkunftsmilieu unterschei-det. Hier wird deutlich, dass der individuelle Habitus nicht identisch mit dem

Klassenhabitus ist, da der Habitus neben der Klassenlage immer auch durch die je einzigartige Biografie einer Akteurin oder eines Akteurs geprägt wird.

Bourdieu sieht den individuellen Habitus deshalb als Variante bzw. Abwand-lung des Klassenhabitus (Bourdieu, 1993, S. 113).

In den Habitus einer spezifischen Akteurin oder eines spezifischen Akteurs fließen somit die soziale Herkunft (d.h. die Klassenlage der eigenen Familie) und die biografischen Erfahrungen, aber auch die Geschichte der Familie über die Generationen hinweg sowie die kollektive Geschichte ihrer jeweiligen Klassen, welche in Form von klassenspezifischen Praktiken, Wertschätzungen und Vorlieben im alltäglichen Miteinander in der Familie eingeübt und weiter-gegeben werden. Für den Habitus einer Person ist entsprechend nicht nur ihre gegenwärtige soziale Position ausschlaggebend, sondern auch ihre soziale Laufbahn, d.h. welchen Weg sie im sozialen Raum durchschritten hat, welche soziale Position ihre Eltern und sogar ihre Großeltern hatten, ob die Familie einen sozialen Auf- oder Abstieg erlebt hat und inwiefern sich die Position der Eltern bzw. Großeltern von der eigenen Position unterscheidet. Diese Präsenz der Vergangenheit in den habituellen Dispositionen einer Akteurin oder eines Akteurs bezeichnet Bourdieu als Trägheit des Habitus (Hysteresis).

Die Lernenden, die ihre Berufslehre im Lehrbetriebsverbund absolvieren, verfügen über je spezifische habituelle Dispositionen und einen „praktischen Sinn“ dafür, was „vernünftig“, „sinnvoll“ „gerecht“, „schön“ etc. ist. Dieser beruht auf den objektiven sozialen Bedingungen, in denen sie aufgewachsen sind (vgl. Bourdieu, 1993, S. 170; Waardenburg, 2010, S. 50). Die Entschei-dung für das Gymnasium oder die BerufsbilEntschei-dung wie auch die Wahl eines be-stimmten Berufes erfolgen nicht zufällig, sondern werden durch den Habitus vorstrukturiert. Jugendliche entscheiden sich in der Regel für eine Ausbildung, die aus der Perspektive der eigenen Klassenlage (bzw. deren Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata) als sinnvoll und realistisch erscheint. Häufig han-delt es sich dabei um einen Beruf, der den gleichen sozialen Status aufweist wie derjenige der Eltern (Beicht & Walden, 2014, S. 14).

Im sozialen Raum fungiert der Beruf als zentrales Unterscheidungsmerk-mal. Er gibt nicht nur Aufschluss über Einkommen und Bildungsabschluss, sondern hat auch eine symbolische Dimension: Je nach angewendetem Klas-sifikationsschemata erscheint ein Beruf als „langweilig“ oder „interessant“,

„niveaulos“ oder „anspruchsvoll“ etc. Der Beruf des Maurers beispielsweise wird von oberen Milieus eher als „schmutzig“ und „brachial“ gesehen, von unteren Milieus hingegen mit „Stärke“ und „Authentizität“ assoziiert. So gibt es einen Zusammenhang zwischen der sozialen Position, der Beurteilung der verschiedenen Berufe und der Wahl eines bestimmten Ausbildungsberufs (Bourdieu, 1998, S. 17). Der Habitus strukturiert vor, welche Berufe den Ho-rizont des Vorstellbaren bilden.

Auch die Wahl des Ausbildungsberufs „Kauffrau/Kaufmann“ ist je nach Klassenlage mehr oder weniger wahrscheinlich. Ich gehe davon aus, dass die

Herkunftsfamilien der meisten Lernenden selbst in der Mitte des sozialen Raums verortet sind. Je weiter oben oder unten sie sich befinden, desto un-wahrscheinlicher ist es, dass Jugendliche das Interesse bzw. das (in Schulnoten objektivierte) kulturelle Kapital mitbringen, welches die Wahl dieses Berufs nahelegt. Jedoch bietet das kaufmännische Berufsfeld ein sehr breites Spek-trum an möglichen Berufswegen – von der „Sekretärin“ bis zum „Manager“ – und ist deshalb im Unterschied zu vielen anderen Ausbildungen für einen re-lativ großen Bereich des sozialen Raumes eine attraktive Wahl. Aus diesem Grund nehme ich an, dass es sich bei den KV-Lernenden um eine relativ hete-rogene Gruppe handelt.

Wenn Lernende in der Ausbildung mit neuen, für ihr Herkunftsmilieu un-typischen Beurteilungs- und Handlungsprinzipien konfrontiert werden, ist eine Habitusmetamorphose wahrscheinlich. Habitusmetamorphosen (d.h. die Not-wendigkeit, bisher gültige Beurteilungsschemata und Handlungsstrategien zu transformieren) erwarte ich insbesondere bei Lernenden, die aus dem unteren Bereich des sozialen Raumes stammen. Es ist aber auch aufschlussreich, zu analysieren, ob und welche Anpassungsleistungen für Jugendliche aus den oberen Klassen erforderlich sind – falls diese sich überhaupt für eine KV-Lehre entscheiden.