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Reduzierte Kontrolle, größere Autonomie

Teil I: Organisatorische Ebene

5 Lehrbetriebsverbünde: Flexibilisierte Berufsbildung im

5.2 Erweiterte Anforderungen an Flexibilität und

5.2.2 Reduzierte Kontrolle, größere Autonomie

Die dezentrale Organisation auf der Ebene des Unternehmens geht einher mit einer grundlegenden Reorganisation dessen, wie Arbeit konkret ausgeführt wird. Die neuen Strategien der Gestaltung von Arbeitsprozessen und Personal-führung zeichnen sich dadurch aus, dass Kompetenzen und Verantwortlichkei-ten nach unVerantwortlichkei-ten, zu den ausführenden BeschäftigVerantwortlichkei-ten, verlagert werden („opera-tive Dezentralisierung“, Minssen, 2012, S. 79). Wie in Kapitel 3 ausführlich beschrieben wurde, besteht der Kern des neuen Personalmanagements in der Erweiterung der Selbstorganisation (Voß & Pongratz, 1998, S. 137). Die grö-ßere Autonomie von Beschäftigten geht einher mit mehr Verantwortung, Par-tizipation und Selbstaktivierung. Die durch erweiterte Aufgabenzuschnitte und Handlungsspielräume erzielte bessere Nutzung der subjektiven Potenziale von

Arbeitskräften führt nicht nur zu besserer Arbeitsleistung, sondern auch zu ei-ner Intensivierung von Arbeit (Minssen, 2012, S. 80). Aus der Perspektive von Arbeitnehmenden führt operative Dezentralisierung zu substanziell erhöhten Anforderungen an Selbstständigkeit und Selbstvermarktung sowie zu einer ökonomisch rationalisierten Lebensführung (Pongratz & Voß, 2004, S. 25).

Im Vergleich zur traditionellen Berufslehre stellt auch die Verbundausbil-dung erweiterte Erfordernisse an eine Selbstorganisation der Lernenden. Ler-nende werden von der Leitorganisation selektioniert und angestellt. Ihre be-trieblichen Einsätze leisten sie jedoch in der Regel nicht bei der Leitorganisa-tion, sondern in verschiedenen Verbundbetrieben. Die Ausbildungsleitung ist nicht vor Ort und die Berufsbildnerin bzw. der Berufsbildner wechselt mit je-der Rotation. Die Lernenden haben deshalb keine konstante Betreuungsperson, an die sie sich anlehnen können. Mit jedem Lehrplatzwechsel müssen sie sich selbstständig in einem neuen Betrieb – einem Kunden ihres offiziellen Lehr-betriebs – behaupten. Sie sind gefordert, ihr bisheriges Fachwissen mit dem neuen betriebsspezifischen Wissen abzugleichen und eigenverantwortlich ein Verständnis für den neuen Betriebskontext zu entwickeln. Diese Ausbildungs-konstellation erfordert von den Lernenden ein hohes Maß an Selbstständigkeit und Selbstverantwortung:

[Die Verbundlernenden] müssen selbstständiger sein als die Lernenden, die drei Jahre lang hier sind. Weil sie müssen immer wieder neuen Mut fassen. Sie kommen immer wieder in einen neuen Betrieb, in ein neues Team, neue Abläufe. Also, sie müssen selbst-ständig werden. Sie müssen ihr Fachwissen immer weiter erweitern und vertiefen. (Ver-tretung Ausbildungsbetrieb Integranet; P35: 62)

Die Lernenden sehen ihre offizielle Lehrmeisterin oder ihren offiziellen Lehr-meister nur selten, in der Regel zwischen einem bis einigen wenigen Malen pro Semester. Oft handelt es sich dabei um formale Anlässe wie überbetriebli-che Kurse oder Schulungen. Die Beziehung zwisüberbetriebli-chen Lehrmeisterin/Lehr-meister und Lernenden ist deshalb tendenziell formaler und distanzierter als in der traditionellen Berufslehre. Wenn Lernende möchten, dass die Ausbil-dungsleitung sie in spezifischen Situationen unterstützt (z.B. bei Problemen am Lehrplatz), müssen sie diese Unterstützung eigeninitiativ einfordern.

Im Vergleich zur traditionellen Lehre können die Lehrmeisterin/der Lehr-meister in der Leitorganisation (Ausbildungsleitung) die Lernenden weniger gut kontrollieren, da sie im Ausbildungsbetrieb nicht anwesend sind. Sie füh-ren die Lernenden indirekt, durch punktuelle Gespräche und Zielvereinbarun-gen. Dadurch wird ein großer Teil der Kontrolle und der Verantwortung in die einzelnen Lernenden verlagert. Die Lernenden müssen in der Lage sein, mit diesem Freiraum umzugehen und sich selbst zu steuern, da sie ansonsten durch die Maschen fallen:20

20 Auf diese Thematik wird in vielen der Interviews hingewiesen, u.a. auch in folgenden Zitaten: Manchmal passiert es, dass Lernende schleifen. Eben genau deshalb, weil wir

Lernende, welche ein bisschen dazu neigen, vielleicht nicht so ehrgeizig zu sein, viel-leicht eher so ein bisschen zu schleifen, die können in unserem Modell gut durchschlüp-fen. (…) Das haben wir gemerkt. Und da muss man ein bisschen wach bleiben. (Vertre-tung Leitorganisation Ruralnet; P11: 644)

Bei jedem Lehrplatzwechsel müssen sich die Lernenden erneut „verkaufen“

und bewähren. In manchen Fällen stellen sich die Lernenden beim (potenziell) nächsten Ausbildungsbetrieb vor und „bewerben“ sich, was dem Ausbildungs-betrieb die Möglichkeit gibt, die „beste“ Kandidatin oder den „besten“ Kandi-daten auszuwählen bzw. unpassende Lernende zurückzuweisen. Beim Arbeits-beginn im neuen Betrieb müssen sich die Lernenden in ein neues Team integ-rieren, eine Beziehung zur neuen Berufsbildnerin oder zum neuen Berufsbild-ner aufbauen, ihre „Passung“, ihren „Marktwert“ und ihr „Arbeitsvermögen“

unter Beweis stellen:

In unserem System muss man sich andauernd wieder (…) verkaufen können, und auch Werbung für sich machen. (Vertretung Leitorganisation Integranet; P23: 119)

Die Dienstleister-Kunden-Beziehung zwischen Leitorganisation und Ausbil-dungsbetrieb führt dazu, dass manche AusbilAusbil-dungsbetriebe auch das Verhält-nis zu den Lernenden stärker an marktlichen Bezugspunkten ausrichten. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Ausbildungsbetriebe die Lernenden nicht als zukünftigen betrieblichen Nachwuchs sehen:

Der Lehrling gehört nicht uns, der Lehrling gehört [Ruralnet]. Also wir mieten ihn, oder.

Es ist so, also ich zahle jeden Monat eine Rechnung, mit der wir die „Miete“ in Anfüh-rungszeichen zahlen für diesen Lehrling. (Vertretung Ausbildungsbetrieb Ruralnet; P19:

113)

Eine solche marktliche Rahmung des Ausbildungsverhältnisses hat zur Folge, dass die Beziehung zwischen Berufsbildenden und Lernenden unpersönlicher und weniger fürsorglich ist. Die Lernenden sind unter größerem Druck, den Erwartungen der Ausbildungsbetriebe gerecht zu werden. Denn die Ausbil-dungsbetriebe „bezahlen“ die Leitorganisation für eine Dienstleistung und er-warten im Gegenzug Lernende, von denen sie einen Nutzen haben:

Bei uns ist es so, dass ein Lernender arbeiten muss. Also er wird in die Arbeitswelt inte-griert. (…) Die werden quasi bei uns so eingesetzt, dass sie einfach als Arbeitskraft, ja

sie nicht immer sehen. Wir haben uns auch schon überlegt, ob wir irgendwie sagen, ok, wir gehen jeden Monat in jeden Betrieb. Aber dann müssten wir fast jemand haben, der nur das macht. Weil das sind so viele Betriebe, und in zehn Minuten hat man das nicht gemacht.“ (Vertretung Leitorganisation Ruralnet; P15: 718) Wir sind extrem auf das Feedback der Berufsbildner angewiesen. Und wenn ein Berufsbildner (…) nicht inter-veniert, weil er einfach die Ressourcen nicht hat oder keine Zeit verschwenden will, dann haben wir ein Problem. Denn dann kriegen wir es unter Umständen nicht mit, und der Lernende kann durchschlüpfen.“ (Vertretung Leitorganisation Transportnet; P31:

böse gesagt, als billige Arbeitskraft angestellt [sind]. (Vertretung Ausbildungsbetrieb Ruralnet; P21: 286)

Unsere Lernenden sind Visitenkarten. Also Betriebe haben auch ganz hohe Erwartungen, dass der Lernende gut arbeitet, dass er pünktlich ist und so weiter. Dass er „läuft“ [funk-tioniert], und dass er etwas bringt. Dass er nicht nur Aufwand bringt, sondern Ertrag.

(Vertretung Leitorganisation Spednet; P3: 500)

Als „Visitenkarten“ des Verbundes sind die Lernenden dem Druck ausgesetzt, sich selbst – als Repräsentanten des Verbundes – aktiv zu vermarkten. Sie müssen sich mit den betrieblichen Zielen der Leitorganisation, aber auch dem gegenwärtigen Ausbildungsbetrieb identifizieren und den Erwartungen beider gerecht werden.

Wie in den vorherigen Kapiteln ausführlich beschrieben wurde, haben viele der Verbundbetriebe die Ausbildung der Lernenden ausgelagert, weil den ei-genen Mitarbeitenden die Kapazitäten für eine selbstständige Ausbildung feh-len. Im hektischen und dynamischen Arbeitsalltag sind sie nicht in der Lage, allzu viele zeitliche Ressourcen für die Betreuung der Lernenden aufzuwen-den. Entsprechend erwarten die Ausbildungsbetriebe von den Verbundlernen-den von Anfang an eine gewisse Selbstständigkeit und Eigeninitiative:

Die Lernenden [müssen] so eine gewisse Reife, auch menschliche Reife, schon mitbrin-gen. Weil wir eben wirklich auf jeden Mitarbeiter zählen müssen, und auch auf den Ler-nenden. Und die Betreuung sicher gewährleisten, aber auch relativ bald erwarten, dass der Lernende eigenverantwortlich auch seine Aufgaben übernimmt. (Vertretung Ausbil-dungsbetrieb Integranet; P43: 102)

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Verbundausbildung im Ver-gleich zur traditionellen Berufslehre höhere Erfordernisse an die Selbstorgani-sation der Lernenden stellt. Die Lehrplatzwechsel, die räumliche Distanz der Ausbildungsleitung und die marktgesteuerte Beziehung zwischen Leitorgani-sation und Ausbildungsbetrieb implizieren substanziell erweiterte Anforderun-gen an Selbstständigkeit und Selbstkontrolle, EiAnforderun-geninitiative und Selbstökono-misierung.