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Chancen und Risiken der neuen Arbeitsorganisation

Teil I: Organisatorische Ebene

3.2 Die subjektive Ebene des Wandels

3.2.2 Chancen und Risiken der neuen Arbeitsorganisation

Die Folgen der Dezentralisierung für die Individuen sind ambivalent. Auf der einen Seite besteht die Chance größerer Freiräume und individueller Gestal-tungsmöglichkeiten, auf der anderen Seite ist eine erhebliche Steigerung des Leistungsdrucks zu beobachten (Minssen, 2012, S. 118). Die Ambivalenz selbst organisierter Arbeit liegt im Widerspruch zwischen der erweiterten Au-tonomie des Subjekts und den gleichzeitig erweiterten betrieblichen Verwer-tungsansprüchen begründet (Kratzer et al., 2003, S. 7). Die Möglichkeit, die eigene Arbeit selbstbestimmt und selbstverantwortlich zu gestalten, bedeutet

zugleich den Zwang, sich an den unternehmerischen Zielen des Betriebs aus-zurichten und diese zu verinnerlichen (Minssen, 2012, S. 121). Die Internali-sierung von betrieblichen Interessen und die IndividualiInternali-sierung von berufli-chem (Miss-)Erfolg durch erweiterte Selbstorganisation führen dazu, dass dem postfordistischen Arbeitsmodell eine Tendenz zur Selbstausbeutung inhärent ist:

[Im Postfordismus] beuten sich Arbeitskräfte vor allem systematisch und in neuer histo-rischer Qualität selbst aus. Und wie beim Umschlag von betrieblicher Fremdherrschaft in Selbstbeherrschung der Arbeitenden kann sich zeigen, dass niemand aus einem Men-schen so viel herausholt, wie er selbst. Dass dies dann weniger mit entspannter Kreativität menschlicher Selbstentfaltung als mit maximaler Leistung, selbstgesetzter Arbeitsver-dichtung, Hektik und Stress zu tun hat, gehört zur Logik der Nutzung von Arbeitskraftun-ternehmern. (Minssen, 2012, S. 121)

Bröckling (2007, S. 289), welcher mit der Figur des Selbstunternehmers das Subjektivierungsregime zeitgenössischer Managementkonzepte beleuchtet, konstatiert, dass Überforderung und Verunsicherung dem neuen Arbeitsmodell konstitutiv eingelagert seien:

Die dauernde Angst, nicht genug oder nicht das richtige getan zu haben, und das unab-stellbare Gefühl des Ungenügens gehören zum Unternehmer in eigener Sache ebenso wie das merkantile Geschick und der Mut zum Risiko. (Bröckling, 2007, S. 74)

Auf der anderen Seite wird der neuen Arbeitsorganisation auch emanzipatori-sches Potenzial zugesprochen, welches unter Begriffe wie „Autonomie“, „Em-powerment“ und „Partizipation“ subsummiert wird (Rösser, 2004, S. 330).

Laut Voß und Pongratz (1998, S. 152) eröffnet das postfordistische Arbeits-modell die Möglichkeit einer „neuen Arbeits- und Lebensqualität“, da es Iden-tifikationsmöglichkeiten und Gestaltungsfreiräume schafft. Manche Autorin-nen und Autoren halten die Chance einer erweiterten Autonomie und Aneig-nung der Arbeit nicht trotz, sondern gerade wegen der Dezentralisierung von Arbeit grundsätzlich für möglich (Minssen, 2012, S. 117)

Auch die Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort hat zwiespältige Auswirkungen: Auf der einen Seite ermöglicht diese Form der internen Flexi-bilisierung eine bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben, auf der an-deren Seite führt sie tendenziell zur Erwartung permanenter Verfügbarkeit. Die betriebliche Erwartung an zeitliche und örtliche Flexibilität kann gerade für Personen, welche Betreuungspflichten für Kinder haben (im gegenwärtigen Geschlechterarrangement sind dies in der Regel die Mütter), zu einer großen Belastung werden. Die Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort scheint laut Rößer (2004, S. 334) auf den ersten Blick zwar eine ideale Abstimmung auf den Alltag von Frauen zu bieten. „Doch zeigt die Realisierung dieser Pro-grammatiken, dass gleichzeitig der totale Einsatz für den Betrieb erwartet wird, der von der mehrfach belasteten Frau oftmals nicht geleistet werden kann und deren Ausschluss oder Marginalisierung zur Folge hat“ (ebd.).

Die zunehmende Projektförmigkeit von Arbeit, deren Extremfall die befris-tete, projektbezogene Beschäftigung von Angestellten ist, hat ebenfalls weit-reichende Konsequenzen. Arbeitnehmende können immer weniger davon aus-gehen, bis zur Rente die gleiche Stelle zu haben. Aus diesem Grund sind sie dazu angehalten, kontinuierlich an der Erhaltung und Verbesserung ihrer

„Employability“ zu arbeiten. Um im Wettbewerb mithalten zu können, hält der idealtypische „Projektmensch“ auf dem Markt ständig Ausschau nach Opti-mierungsmöglichkeiten. Er ist offen, verfügbar und mobil. Der Imperativ von Ungebundenheit und Flexibilität impliziert, dass er auf all das verzichtet, was sein Engagement für ein neues Projekt behindern könnte: Stabilität und Ver-wurzelung, Freizeit, stabile Beziehungen, ein „Zuhause“ und Sicherheit (Boltanski & Chiapello, 2006, S. 169 f.). Während manche mit diesen Anfor-derungen umgehen können und in immer neuen Projekten Abwechslung und Selbstverwirklichung suchen, fühlen sich andere der zunehmenden Vereinnah-mung ihrer Subjektivität durch die Anforderungen des modernen Kapitalismus hilflos ausgeliefert.

Neben dem erhöhten Leistungsdruck und den normativen Erwartungen an Flexibilität und Selbstoptimierung richten viele Autorinnen und Autoren ihren Fokus auf das Risiko der Prekarisierung (u.a. Castel & Dörre, 2009; Pelizzari, 2009). Während die Prekarisierung von Erwerbsverhältnissen in der Diskus-sion um das postfordistische Produktionsregime zu Recht großen Raum ein-nimmt (für eine Definition von prekären Erwerbsverhältnissen vgl. Pelizzari, 2009, S. 38), ist dieser Aspekt in Bezug auf die Verbundausbildung vernach-lässigbar: Die Ausbildung ist zwar dezentral und flexibel organisiert, jedoch besteht für die gesamte Lehre die Garantie auf einen Ausbildungsplatz. Zudem findet die Ausbildung in einem gesetzlich stark regulierten Rahmen statt. Der Lernendenlohn ist zwar nicht existenzsichernd, liegt jedoch im Rahmen der üblichen Entlohnung von Berufslernenden. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Ambivalenz der dezentralen und flexibilisierten Arbeit.

Nach Voß und Pongratz (1998) müssen zwei Bedingungen erfüllt sein, da-mit das emanzipatorische Potenzial des postfordistischen Arbeitsmodells zum Tragen kommen kann: Zum einen muss es von sozial- und arbeitsrechtlichen Regulierungen flankiert werden, und zum anderen müssen die „Schlüsselkom-petenzen des Arbeitskraftunternehmers“ in der Ausbildung systematisch ge-fördert werden (ebd., S. 155). Dazu gehören Selbstorganisation und Selbstre-gulation, Marktorientierung, Sozial- und Kommunikationskompetenzen wie auch die Kompetenz zur Regulierung und Begrenzung von Selbstausbeutung.

Denn diese Kompetenzen sind die Voraussetzung dafür, dass die dezentrale Arbeitsorganisation auf individueller Ebene bewältigt werden kann. Diejeni-gen Personen, denen diese Kompetenzen fehlen, sind laut Voß und Pongratz (1998, S. 154) der Gefahr von Überforderung, sozialer Abstufung und Preka-risierung am stärksten ausgesetzt. Trotz aller Ambivalenz werfen diese Forde-rungen aber auch ein vielversprechendes Licht auf Lehrbetriebsverbünde.

Denn die Ausbildung findet in einem rechtlich abgesicherten Rahmen statt und viele der genannten Fähigkeiten werden in Lehrbetriebsverbünden implizit, u.a. durch die überbetriebliche Rotation, wie auch explizit gefördert

Tabelle 1: Chancen und Risiken des postfordistischen Arbeitsmodells (eigene Zusammenfassung)

Chancen Risiken

Dezentra-

lisierung Größere Gestaltungsfreiheit und Autonomie; Kompetenz und

Flexibilisierung Bessere Vereinbarkeit von Arbeit und

Freizeit Erwartung permanenter Verfügbarkeit;

Auflösung der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit

Projektifizie-rung von Arbeit Abwechslung; anspruchsvolle Arbeit Erhöhte Flexibilitätsanforderungen;

keine langfristigen Arbeitsbeziehungen Befristete

Beschäftigung Neuorientierung Prekarisierung; kein langfristiger Planungshorizont; Druck zu permanen-ter Weipermanen-terbildung

Die Ausführungen dieses Kapitels schärfen den Blick für die Erfahrungen der Lernenden in der Verbundausbildung. Auch wenn es sich um ein Ausbildungs- und nicht um ein reguläres Arbeitsverhältnis handelt, so finden sich doch viele Aspekte dezentraler und flexibler Arbeit im betrieblichen Alltag von Verbund-lernenden wieder. Es drängt sich deshalb die Frage auf, ob die Erfahrungen der Lernenden von einer ähnlichen Ambivalenz geprägt sind. Auf der anderen Seite bietet die Verbundausbildung jedoch gerade wegen ihrer dezentralen und flexiblen Organisation das Potenzial, die „Schlüsselkompetenzen des Arbeits-kraftunternehmers“ zu fördern und Lernende so zur Bewältigung postfordisti-scher Arbeitsbedingungen zu befähigen.

3.2.3 Soziale Ungleichheiten des postfordistischen