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Forschungsstand und Forschungsdesiderate

2 Lehrbetriebsverbünde – ein neues Modell der Berufsbildung

2.6 Forschungsstand und Forschungsdesiderate

Obwohl Lehrbetriebsverbünde in der Öffentlichkeit wenig bekannt sind, wer-den sie von Akteurinnen und Akteuren der Berufsbildung als innovatives und zukunftsfähiges Ausbildungskonzept beurteilt (BBT, 2008; Müller & Schweri, 2006, S. 67; Walther & Renold, 2005). Wettstein (2010) bezeichnet Lehrbe-triebsverbünde als die „wichtigste Neuerung in der Berufsbildung“ neben der Berufsmaturität seit den 1990er-Jahren.

Zum innerorganisatorischen Funktionieren von Lehrbetriebsverbünden war lange Zeit wenig bekannt. Diese Forschungslücke hat die Forschungs-gruppe um Leemann und Imdorf in den letzten Jahren aufgearbeitet und um-fassende qualitative wie auch quantitative Untersuchungen zum Thema durch-geführt. In ihren Beiträgen geht es aus verschiedenen Perspektiven um die Frage, wie die Verbundform funktioniert, welche Problemstellungen und Chancen sich ergeben, und wie diese Problemstellungen bearbeitet werden.

Unter anderem untersuchen Leemann & Imdorf (2014, 2015), zu welchen Ko-ordinations- und Legitimationsproblemen es in Ausbildungsverbünden kommt und wie Verbünde mit diesen Problemen umgehen. In weiteren Beiträgen zei-gen Leemann, Da Rin & Imdorf (2015) auf, aus welchen Motiven sich Betriebe an Ausbildungsverbünden beteiligen (2015), inwiefern Ausbildungsverbünde

als Antwort auf die „Krise“ der Berufsbildung entstanden, und welche neuen Krisen die Umsetzung des Verbundmodells mit sich brachte (2016).

Imdorf und Leemann (2011, 2012) untersuchen zudem die Frage der Integ-rationschancen von Lehrbetriebsverbünden. Auf der Basis einer Fallstudie ei-nes mittelgroßen Lehrbetriebsverbundes zeichnen die Autor

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innen nach, dass es das Verbundmodell ermöglicht, eine im Vergleich zu KMU weniger diskri-minierende Selektion von Lernenden durchzuführen. Nicolette Seiterle (2017) schließt mit ihrer Dissertation an diese Problemstellung an. Seiterle untersucht das Potenzial von Lehrbetriebsverbünden, benachteiligte Jugendliche in die Berufsausbildung zu integrieren. Sie zeigt auf, dass Lehrbetriebsverbünde im Vergleich zur einzelbetrieblichen Ausbildung ein erhöhtes Integrationspoten-tial für ausländische und schulisch schwächere Jugendliche haben. Die Gründe dafür liegen in der unterschiedlich organisierten Selektion und Ausbildung:

Verbundspezifische Merkmale wie die Rotation und die geteilte Betreuung er-möglichen eine gerechtere Selektion und senken das Risiko von Lehrvertrags-auflösungen.

Lorraine Birr untersucht in ihrer Dissertation (in Vorbereitung) das Thema der Ausbildungsqualität in Lehrbetriebsverbünden. Ausgangspunkt für ihre Untersuchung ist die häufig kritisierte Erfahrungsenge der dualen Berufslehre.

Insbesondere in der einzelbetrieblichen Ausbildung in KMU führe diese Er-fahrungsenge dazu, dass Lernende nur unzureichend auf die Flexibilitätsanfor-derungen des zukünftigen Arbeitslebens vorbereitet seien. Birr geht davon aus, dass Lehrbetriebsverbünde das Potenzial haben, diese Erfahrungsenge zu über-winden, da in ihnen strukturell eine Neugewichtung des Aufbaus von Erfah-rungswissen angelegt ist (vgl. auch Leemann & Birr, 2015).

Während Lehrbetriebsverbünde in der bisherigen Forschung aus betriebs-wirtschaftlicher, berufspädagogischer und organisationssoziologischer Per-spektive bereits ziemlich ausführlich untersucht wurden, ist über die subjekti-ven Erfahrungen von Lernenden in Lehrbetriebsverbünden wenig bekannt. Die spärlich vorhandenen Resultate stammen meist aus Studien, welche die Sicht der Ausbildungsbetriebe fokussieren. Bisher hat einzig Seiterle (2017) die Ler-nenden selbst als Zielgruppe in eine qualitative Untersuchung einbezogen. Je-doch hat Seiterle gezielt Lernende befragt, die in der Ausbildung große Schwierigkeiten erlebt haben.

Dabei wirft die Organisationsweise von Lehrbetriebsverbünden durchaus wichtige Fragen auf: Was bedeutet es für die Lernenden, jedes (halbe) Jahr den Lehrbetrieb zu wechseln? Wie gehen sie damit um, dass die Berufsbildnerin, die sie im Alltag betreut, mit jeder Rotation wechselt? Wie erleben sie die Be-treuung durch den Ausbildungsleiter, den sie vergleichsweise selten sehen, der aber für ihre Ausbildung und allfällige Sanktionen (Repetition des Lehrjahres, Kündigung) verantwortlich ist? Wie erleben sie die Tatsache, dass der Lehrbe-trieb sich nicht für sie entschieden hat und sich unter Umständen weniger

ver-antwortlich für ihr Wohlergehen und ihre beruflichen Perspektiven fühlt? Wel-che Anforderungen müssen JugendliWel-che mitbringen, um diese verbundspezifi-schen Anforderungen zu bewältigen?

In den vorliegenden Studien wird die Rotation aus der Perspektive der Aus-bildungsbetriebe als Chance für die Lernenden wahrgenommen (BBT, 2008;

Leemann & Berweger, 2007, 2008; Schlottau et al., 2003, S. 18; Lachmayr &

Dornmayr, 2008, S. 34). Die Rotation diene der Horizonterweiterung und Per-sönlichkeitsentwicklung, fördere die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Lernenden und erweitere ihre fachlichen und sozialen Kompetenzen. In den vorhandenen Evaluationen, in denen Lernende selbst befragt wurden, stehen diese den Wechseln mehrheitlich positiv gegenüber und sehen sie als Chance und Bereicherung (Leemann & Sagelsdorff, 2014; Leemann & Berweger, 2007, S. 34; 2008, S. 48; Schlottau et al., 2003, S. 19). Eine Minderheit der befragten Lernenden empfindet die Rotationen jedoch als Belastung – zum ei-nen, weil es ihnen schwer fällt, sich in immer wieder neue Betriebe einzuleben, zum anderen, weil die Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Ausbil-dungsbetrieben sowie zwischen Berufsbildner und Ausbildungsleiterin nicht klar geregelt sind. Die Fallstudie von Leemann und Berweger (2007, 2008) verweist zudem auf einige problematische Aspekte der Betreuung aus Sicht der Lernenden. Diese äußern – bedingt durch die externe Ansiedelung der Aus-bildungsleitung und die Rotationen – den Wunsch nach einer kontinuierlichen und systematischen Begleitung durch die Berufsbildner*innen, was jedoch im Verbund nur eingeschränkt gegeben ist.

Allerdings fehlt bislang eine umfassende und systematische Analyse der Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken der Verbundausbildung aus der Per-spektive von Lernenden unterschiedlicher sozialer Milieus. Welche Lernenden verfügen über die Voraussetzungen, um mit den hohen Anforderungen an Fle-xibilität und Selbstorganisation der Verbundausbildung umgehen zu können?

Welche Bedeutung haben die je nach Herkunftsmilieu unterschiedlich ausge-prägten habituellen Dispositionen für die Bewältigung der Verbundausbil-dung? Welche Implikationen haben unterschiedliche Passungsverhältnisse zwischen habituellen Voraussetzungen und verbundspezifischen Anforderun-gen? Was bedeutet dies aus einer ungleichheitstheoretischen Perspektive? Mit der vorliegenden Dissertation beabsichtige ich, einen Beitrag zur Verringerung dieser Forschungslücke zu leisten.

Teil I

Organisatorische Ebene

3 Die Reorganisation von Arbeit und Unternehmen

Wie bereits in Kapitel 2 ausgeführt wurde, unterliegt der Schweizer Arbeits-markt seit den 1990er-Jahren tief greifenden strukturellen Veränderungen (Walther & Renold, 2005, S. 39). Dabei haben sich sowohl Unternehmens-strukturen und die Organisation von Arbeitsprozessen als auch die eingesetz-ten Technologien in rasanter Geschwindigkeit gewandelt (Minssen, 2012, S. 8;

Voß, 2000, S. 149). Aus diesem Grund konstatieren diverse Autorinnen und Autoren den Übergang zu einer neuen Phase kapitalistischer Produktion, für welche sich die Bezeichnung „Postfordismus“7 eingebürgert hat (vgl. u.a.

Baethge & Baethge-Kinsky, 2006, S. 160; Ben, 2013, S. 64; Minssen, 2012, S. 10). Während der Fordismus durch die Massenproduktion standardisierter Produkte mit langen Produktlebenszyklen charakterisiert war, basiert das post-fordistische Produktionsmodell auf flexiblen Produktionsregimen (ebd.; Her-rigel, 2013, S. 223).

Die wirtschaftlichen Hauptfaktoren, welche diesen Umbruch eingeleitet haben, sind der beschleunigte technische Wandel, die Sättigung der Nachfrage und entsprechende Überkapazitäten in zahlreichen Marktsegmenten sowie der zunehmende internationale Wettbewerbsdruck (Ben, 2013, S. 64). Die dabei zum Einsatz kommenden Prinzipien der Reorganisation (u.a. Dezentralisie-rung, FlexibilisieDezentralisie-rung, Projektifizierung) zielen in erster Linie auf die Erwei-terung des betrieblichen Reaktionspotenzials, d.h. eine schnellere Reaktions-fähigkeit auf Marktveränderungen, sowie auf die bessere Nutzung der subjek-tiven Ressourcen der Angestellten ab (Kapitel 3.1).

Diese neuen Formen der Organisation von Betrieb und Arbeit implizieren einen grundlegendenden Wandel der Qualifikationsprofile, denn standardi-sierte Arbeitsabläufe und die schematische Anwendung von Wissen werden dem dynamischen Arbeitsalltag immer weniger gerecht. Neben der Verbreite-rung der fachlichen AnfordeVerbreite-rungen gewinnen „Schlüsselkompetenzen“ wie Selbstorganisation und Flexibilität zunehmend an Bedeutung (Boltanski &

Chiapello, 2006; Minssen, 2012; Pongratz & Voß, 2004). Hierbei handelt es sich um eine ambivalente Entwicklung für Arbeitnehmende, denn der Chance größerer Autonomie und Partizipation stehen ein erhöhter Leistungsdruck und

7 Während „Postfordismus“ die geläufigste Bezeichnung für das neue, im Folgenden be-schriebene Produktionsregime ist, existieren parallele, sich zum Teil überschneidende Kategorisierungen für die aktuelle Phase kapitalistischer Produktion, so z.B. „flexibler Kapitalismus“ (Sennett, 2010) oder „Finanzmarktkapitalismus“ (Kädtler, 2012; Mins-sen, 2012). Es gibt gute Gründe dafür, das gegenwärtige Produktionsregime nicht

„Postfordismus“ zu nennen, und ich gehe davon aus, dass sich mittelfristig eine andere Bezeichnung durchsetzen wird. Die vorliegende Dissertation bildet jedoch nicht den

eine tendenzielle Vereinnahmung des Privatlebens durch die gestiegenen Ar-beitsanforderungen gegenüber (Kapitel 3.2).

Für die Berufsbildung stellt die Transformation der Arbeit eine große Her-ausforderung dar, denn die im deutschsprachigen Raum vorherrschende Form der dualen Berufslehre entspricht den neuen Unternehmensstrategien und Qua-lifikationsanforderungen immer weniger (Gertsch & Weber, 1998, S. 14 f.). In der Folge haben sich seit den späten 1990er-Jahren neue Ausbildungsformen und -organisationen etabliert (Bosch, 2008; Dietzen & Weissmann, 2007). Ein Beispiel dafür sind Lehrbetriebsverbünde: Von Akteurinnen und Akteuren der Berufsbildung werden Lehrbetriebsverbünde als universelles Instrument zur Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen der Berufsbildung in An-spruch genommen (Drinkhut & Schlottau, 2002, S. 7). Dazu gehören so unter-schiedliche Aspekte wie abnehmender Bildungswille, erhöhter Flexibilitätsbe-darf von Unternehmen, Spezialisierung, veränderte Kompetenzanforderungen und Diskriminierung bei der Lehrstellenvergabe.

3.1 Die organisatorische Ebene des Wandels

Die umfassende Reorganisation der ökonomischen Produktion lässt sich laut Minssen, Baethge und anderen in zwei unterschiedliche, aber miteinander ver-bundene Bündel von Rationalisierungsstrategien einteilen: die Reorganisation von Betriebsstrukturen sowie die Umgestaltung von Arbeitsprozessen. Auf beiden dieser Ebenen finden Prozesse der Dezentralisierung statt, welche eine Vermarktlichung von innerbetrieblichen Beziehungen zur Folge haben. Unter Dezentralisierung wird in diesem Kontext die Verlagerung von Kompetenzen nach unten, letztlich auf die ausführende Stelle, verstanden (Baethge &

Baethge-Kinsky, 2006, S. 159 f.; Minssen, 2012, S. 49 ff.). In Anlehnung an Faust et al. (1995) bezeichnet Minssen (2012, S. 55, 82) die Dezentralisierung auf der Ebene der Unternehmensorganisation als strategische Dezentralisie-rung, die Dezentralisierung auf der Ebene der Arbeitsorganisation als opera-tive Dezentralisierung. Beide organisationspolitischen Unternehmensstrate-gien werden im Folgenden genauer dargestellt.

3.1.1 Strategische Dezentralisierung

Bei der strategischen Dezentralisierung werden Teilbereiche eines Unterneh-mens zu selbstständig wirtschaftenden Einheiten, welche mit anderen Teilbe-reichen des Unternehmens in einer marktlichen Beziehung stehen. Die strate-gische Dezentralisierung „umfasst alle Formen, bei denen Aufgaben, Kompe-tenzen und Verantwortlichkeiten auf neudefinierte Unternehmenseinheiten

oder im Rahmen der bestehenden an marktnahe Organisationseinheiten verla-gert oder aus dem Unternehmen bzw. Unternehmensverband ausgelaverla-gert wer-den“ (Faust, Jauch, Brünenecke & Deutschmann, 1995, S. 23 f.). Beispiele sind Profitcenter und Holdings, Outsourcing und Franchising. Den Extremfall der strategischen Dezentralisierung bildet die Externalisierung, bei welcher ein ausgegliederter Unternehmensbereich rechtliche Selbstständigkeit erhält (Minssen, 2012, S. 55).

Dezentralisierte Organisationseinheiten werden mittels Markt- und Kon-kurrenzmechanismen gesteuert, beispielsweise über interne Verrechnungs-preise, Budgetvorgaben, die flexible Nutzung von Zulieferern sowie prozess-bezogene Allianzen. Durch die Stärkung der Autonomie und die Eigenverant-wortung von Organisationseinheiten erhofft man sich eine Stärkung der unter-nehmerischen Haltung der Mitarbeitenden. Zudem soll die elastische Gestalt-barkeit eine schnellere und bessere Reaktion auf Marktbedingungen und Kun-denbedürfnisse ermöglichen und so zur Produktivitätssteigerung beitragen (vgl. Baethge & Baethge-Kinsky, 2006, S. 159; Minssen, 2012, S. 56).

Auf der organisatorischen Ebene führt Dezentralisierung dazu, dass ehe-mals klare Grenzen zwischen Unternehmen verwischt werden (organisatori-sche Entgrenzung). Das „moderne Unternehmen“ weist einen schmalen Kern auf und arbeitet in „vernetzten Strukturen“, mit einer Vielzahl an Zulieferern, Partnerfirmen und Subunternehmen (Boltanski & Chiapello, 2006, S. 113).

Auch Unternehmen selbst wandeln sich zu Netzwerken, in denen die einzelnen, selbstständig wirtschaftenden Unternehmenseinheiten über marktliche Bezie-hungen verbunden sind und mittels Marktmechanismen gesteuert werden (Minssen, 2012, S. 59).

Beispiele für strategische Dezentralisierung Profitcenter

Ein Profitcenter ist ein organisatorischer Teilbereich eines Unternehmens, für den eine eigene Erfolgsrechnung aufgestellt wird. Verantwortung und Ent-scheidungsbefugnis liegen bei der Bereichsleiterin oder beim Bereichsleiter, welche bzw. welcher das Profitcenter wie ein selbstständiges Unternehmen führt. Das Profitcenter wird mittels Zielvereinbarungen und Budgetvorgaben gesteuert und seine Aktivitäten werden anhand des ermittelten Periodenerfolgs evaluiert. Zweck dieser unternehmensinternen Dezentralisierung ist einerseits die Steigerung der „Motivation der Mitarbeiter, welche nun für ihre Gewinne verantwortlich sind und unternehmerisch handeln können“ (Gabler Wirt-schaftslexikon, o.J.a, Definition „Profitcenter“). Andererseits kann die Profit-centerberechnung dazu genutzt werden, „gewinnbringende Unternehmensbe-reiche von Verlustbringern zu unterscheiden“ und Letztere unter Umständen abzustoßen (ebd.).

Diese Form der strategischen Dezentralisierung und die damit einherge-hende Kurzfristorientierung haben Minssen (2012, S. 144) zufolge erhebliche Auswirkungen auf den Bildungswillen von Unternehmen:

Wenn Unternehmen aufgesplittet werden in kleinere Einheiten, die zu selbständigem Wirtschaften angehalten sind, dann stehen in diesen Einheiten auch die Overhead-Kosten auf dem Prüfstand, und das heißt eben auch: die Ausbildungskosten. Sie gelten nicht mehr als Zukunftsinvestitionen in Humankapital, sondern als ein Kostenfaktor neben anderen, so dass eine deutliche Abkehr von einer Investitions- hin zu einer kurzfristigen Kostenori-entierung zu beobachten ist.

Outsourcing

Outsourcing ist eine Form der strategischen Dezentralisierung, bei der ein Un-ternehmen komplette Arbeitsbereiche oder Teile davon an Zulieferer übergibt.

Dazu gehören z.B. die Auslagerung von Verwaltungsaufgaben (Buchhaltung), die Personalrekrutierung oder die Datenverarbeitung. Outsourcing ist heute ein wesentlicher Bestandteil der Strategien vieler Unternehmen. Sogenannte Make-or-buy-Entscheidungen – die Entscheidung über die Eigenerstellung oder den Fremdbezug eines Produktes bzw. einer Dienstleistung – sind laut Irle (2011, S. 1) „in jeder Branche, in jedem Unternehmensbereich sowie auf jeder Stufe des betrieblichen Leistungsprozesses zu treffen“. Ziel von Outsour-cing ist die Steigerung von Effizienz (in Form von Kostensenkung und/oder Qualitätsverbesserung) (Irle, 2011, S. 34).

Durch die Inanspruchnahme qualifizierter, spezialisierter Vorlieferanten für Komponen-ten und Dienstleistungen werden die Produktions-, Entwicklungs-, aber auch Dienstleis-tungsgemeinkosten des Unternehmens häufig reduziert. Durch Konzentration auf die Kernaktivitäten werden Kostenvorteile realisiert und die eigene operative und eigene strategische Marktposition verbessert. (Gabler Wirtschaftslexikon, o.J.b, Definition

„Outsourcing“)

Zum angestrebten Nutzen von Outsourcing gehören eine größere Flexibilität, die Entlastung von Mitarbeitenden (was einen stärkeren Fokus auf Kernaktivi-täten erlaubt) sowie der Zugang zu Expertise und Infrastruktur (vgl. Irle, 2011, S. 35).

Auch die Beteiligung an einem Lehrbetriebsverbund stellt eine Form des Outsourcings dar: Ein Teil der betrieblichen Ausbildung wird an einen auf die Berufsbildung spezialisierten Zulieferer übertragen. Laut Wettstein (2010, S. 11) sind Lehrbetriebsverbünde „eine Antwort auf eine Arbeitswelt, in der sich jedes Unternehmen auf seine Kernkompetenzen konzentriert und Funkti-onen wie die EDV, die Buchhaltung oder das Transportwesen auslagert“.

Spezialisierung

Die Strategie der Spezialisierung weist viele Parallelen zum Outsourcing auf und ist gleichzeitig komplementär dazu: Um Arbeitsbereiche auslagern zu kön-nen, müssen spezialisierte Zulieferer existieren. Im Kontext dieser Dissertation

verstehe ich Spezialisierung als die exklusive Fokussierung auf einen (kleinen) Teil der Wertschöpfungskette eines Produkts bzw. einer Dienstleistung. Spe-zialisierte Unternehmen konzentrieren ihre Ressourcen auf denjenigen Teilbe-reich der Produktion, in welchem sie über Wettbewerbsvorteile, Markt- und Technologiewissen etc. verfügen. Sie agieren in flexiblen Netzwerken, welche sich durch die Gleichzeitigkeit von Kooperation und Konkurrenz auszeichnen (Herrigel, 2013, S. 222).

In diesem Sinn stellt auch die Gründung von Lehrbetriebsverbünden eine Form der Spezialisierung dar. Zudem ist die Verbundausbildung gemäß dem deutschen Bundesinstitut für Berufsbildung „eine gute Antwort auf die zuneh-mende Spezialisierung von Unternehmen“ (BIBB, 2011, S. 33). Denn der fort-schreitende Spezialisierungstrend führt dazu, dass Betriebe vermehrt auf For-men der Ausbildungskooperation angewiesen sind, um ein Berufsprofil abde-cken zu können (vgl. Kapitel 5).

3.1.2 Operative Dezentralisierung

Die dezentrale Organisation auf Unternehmensebene ist verbunden mit einer grundlegenden Reorganisation dessen, wie Arbeit konkret ausgeführt wird. Die neuen Strategien der Gestaltung von Arbeitsprozessen und Personalführung zeichnen sich dadurch aus, dass Kompetenzen und Verantwortlichkeiten nach unten, d.h. auf die ausführenden Beschäftigten, verlagert werden (Minssen, 2012, S. 79). Entscheidende Veränderung von der tayloristisch-fordistischen zur postfordistischen Arbeitsorganisation ist die Auslagerung der betriebli-chen Kontrolle an die Arbeitnehmenden selbst. Bis in die 1970er-Jahre herrschte die Überzeugung vor, dass rigide Kontrolle durch Vorgesetzte der beste Garant für Leistung sei. Mit den wirtschaftlichen Veränderungen der 1980er- und 1990er-Jahre erwies sich diese Strategie jedoch zunehmend als produktivitätshemmend, da sie hohe Kosten verursachte, sich negativ auf die Leistungsbereitschaft auswirkte und außerdem die betriebliche Nutzung der Kreativität und der Innovation der Arbeitenden behinderte. Kern der betriebli-chen Reorganisationsmaßnahmen waren deshalb die Erweiterung der Eigen-verantwortung und die Selbstorganisation der Arbeitenden (Voß & Pongratz, 1998, S. 139):

Die [neuen] Management-Konzepte suchen Produktivitätssteigerung nicht mehr in der technischen Autonomisierung des Produktionsprozesses und der restriktiven Gestaltung der Arbeitsorganisation. In den Vordergrund rückt vielmehr ein dezidiert veränderter Blick auf Arbeitskraft (…). Dieses Konzept erkennt Qualifikation und fachliche Souve-ränität auch der Arbeiter als entscheidende Produktivkraft an, die es zu fördern, zu nutzen und gezielt zu stärken gilt. (Baethge & Baethge-Kinsky, 2006, S. 158)

Bei der operativen Dezentralisierung geht es um eine konsequente Neuge-staltung von Arbeitsprozessen und Arbeitsformen mit dem Ziel, zuvor brach-liegende Arbeitskraftpotenziale besser zu nutzen (Minssen, 2012, S. 84).

Durch erweiterte Aufgabenzuschnitte und Handlungsspielräume erhalten An-gestellte mehr Kompetenzen und Verantwortung. Anstatt bloß Anweisungen auszuführen, treffen sie (unterschiedlich weit reichende) Entscheidungen be-züglich betrieblicher Prozesse und aktivieren zu diesem Zweck ihre persönli-chen Ressourcen und Wissensbestände. Durch Partizipation und Selbstaktivie-rung kann das Wissen von Angestellten für die BetriebsoptimieSelbstaktivie-rung genutzt werden – eine Ressource, auf die das fordistische Produktionsmodell kaum Zu-griff hat (Minssen, 2012, S. 89). Partizipative Arbeitsformen gehen einher mit einer besseren Arbeitsleistung und höherer Innovationsfähigkeit, aber auch mit einer „Extensivierung und Intensivierung von Arbeit“ (Minssen, 2012, S. 90).

Operative Dezentralisierung bedeutet jedoch keinen völligen Verzicht auf Kontrolle. Vielmehr kommt es zu einer indirekten Steuerung durch Rahmen-vorgaben, verbunden mit der gezielten Überprüfung des Outputs („Perfor-mance-Indikatoren“ wie Qualität, Produktivität, Kosten) (Voß & Pongratz, 1998, S. 139).

Flexibilisierung und Dezentralisierung

In den vorangehenden Abschnitten wurde herausgearbeitet, dass mit der De-zentralisierung von Arbeit und Unternehmen in erster Linie eine erhöhte Pro-duktivität von Angestellten, eine Senkung von Unternehmenskosten sowie eine schnellere Reaktionsfähigkeit auf Marktbedingungen bezweckt werden.

Neben der Autonomisierung (Pongratz & Voß, 2004, S. 24) dienen dazu vor allem Prozesse der Flexibilisierung.

„Flexibilisierung“ wird von manchen Autorinnen und Autoren synonym zu

„Dezentralisierung“ verwendet (vgl. u.a. Wiest u.a., 2010, S. 2). In der vorlie-genden Arbeit wird der Begriff der Flexibilisierung in Anlehnung an Minssen (2012, S. 59 f.) enger gefasst und meint die Auflösung von ehemals fixen, ver-bindlichen Strukturen.8 In der Regel wird zwischen interner und externer Fle-xibilisierung unterschieden. Die interne FleFle-xibilisierung beschreibt Maßnah-men innerhalb eines kontinuierlichen Beschäftigungsverhältnisses. Dazu ge-hört die Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort, beispielsweise durch neue Arbeitszeitmodelle (u.a. Jahresarbeitszeit) und Telearbeit („Home Office“), aber auch die funktionale Anpassung der Arbeitsaufgaben der einzel-nen Angestellten (funktionale Flexibilisierung).

Externe Flexibilisierung beschreibt Maßnahmen außerhalb des Unterneh-mens. Hier werden konjunkturelle Schwankungen durch die Flexibilisierung

8 In dieser Bedeutung weist „Flexibilisierung“ große inhaltliche Überschneidungen mit

„Entgrenzung“ auf. Beide Begriffe werden zum Teil synonym verwendet (vgl. z.B.

Voswinkel & Kocyba, 2005).

von Arbeitsverhältnissen (befristete Arbeitsverträge, Leiharbeit) sowie die Fle-xibilisierung von Produktvolumen und Geschäftsbeziehungen geregelt. Letz-tere umfasst die prozessbezogene und zeitlich befristete Auftragsvergabe an Fremdfirmen, die Ablösung langjähriger Partnerschaften durch öffentliche Ausschreibungsverfahren und ähnliche weitere Maßnahmen (Baethge &

Baethge-Kinsky, 2006, S. 159; Hohendanner & Bellmann, 2006, S. 241).

Flexibilisierung ist in vieler Hinsicht das Gegenstück zur Dezentralisie-rung: Die autonomen und eigenverantwortlichen Organisationsstrukturen sind Grundlage und Bedingung für die weitgehende Auflösung von ehemals starren Vorgaben und Strukturen. Erst durch die beschriebenen Flexibilisierungsmaß-nahmen entfaltet die dezentrale Organisation ihr volles „Produktivitätspoten-zial“ – unter anderem, da sie eine kontinuierliche Evaluation von Personal- und Geschäftsbeziehungen und somit einen beständigen Leistungs- bzw. Kosten-druck implizieren.

Ausbildungsbünde repräsentieren eine flexibilisierte Form der beruflichen Grundbildung. Aus der Perspektive der Verbundbetriebe bedeutet die Beteili-gung am Lehrbetriebsverbund eine flexible und zeitlich befristete Fremd-vergabe der Lernendenausbildung an einen externen Dienstleister, dessen Qua-lität regelmäßig evaluiert wird (vgl. Kapitel 5). Auch aus der Perspektive der Lernenden impliziert die Verbundausbildung im Vergleich zur traditionellen Berufslehre eine weitgehende Flexibilisierung der Ausbildung. Fixe Struktu-ren der traditionellen Berufslehre, wie sie durch den Lehrbetrieb, das Team, den Arbeitsort, den Fachbereich oder auch die Lehrmeisterin und den Lehr-meister bzw. die Branche repräsentiert werden, sind im Lehrbetriebsverbund in hohem Maße aufgelöst.

3.2 Die subjektive Ebene des Wandels

Für die geschilderte betriebliche Veränderungsdynamik sind nicht allein die Unternehmen verantwortlich. Mitgetragen wurde sie sowohl vom Staat, wel-cher die rechtlichen Voraussetzungen dafür schuf, als auch von Arbeitnehmen-den, welche Sinnbezug und Selbstbestimmung ihrer Arbeit forderten, und von den mit steigenden Arbeitslosenzahlen konfrontierten Gewerkschaften.

Für die geschilderte betriebliche Veränderungsdynamik sind nicht allein die Unternehmen verantwortlich. Mitgetragen wurde sie sowohl vom Staat, wel-cher die rechtlichen Voraussetzungen dafür schuf, als auch von Arbeitnehmen-den, welche Sinnbezug und Selbstbestimmung ihrer Arbeit forderten, und von den mit steigenden Arbeitslosenzahlen konfrontierten Gewerkschaften.