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Die Beschreibung der sieben Welten

Teil I: Organisatorische Ebene

3.4 Die diskursive Ebene des Wandels: Konventionen als

3.4.2 Die Beschreibung der sieben Welten

Im Folgenden werden die in Tabelle 2 aufgelisteten sieben Welten unter Be-zugnahme auf die Berufsbildung genauer beschrieben. Dabei wird herausgear-beitet, wie die Berufsbildung aus der Perspektive der jeweiligen Welt wahrge-nommen wird. Was ist der Sinn und Zweck der Berufsbildung? Was macht eine ‚gute‘ Berufsbildung aus? Welche ‚Qualitäten‘ sollen Lernende mitbrin-gen bzw. erwerben? Welche ‚Werte‘ sollen in der Ausbildung vermittelt wer-den? Anhand welcher Maßstäbe werden verschiedene Modelle der Berufsbil-dung (z.B. die traditionelle Berufslehre und die Verbundlehre) verglichen und evaluiert? Die bisherigen Ausführungen haben verdeutlicht, dass die Antwor-ten auf diese Fragen von Welt zu Welt ganz unterschiedlich ausfallen. Je nach-dem, auf welche Rechtfertigungsordnung sich die Akteurinnen und Akteure der Berufsbildung beziehen, werden sie in unterschiedliche (Ausbil-dungs-)Formen investieren, werden die Lernenden eine andere Anrufung und berufliche Sozialisation erfahren und werden mit der Beteiligung an der Be-rufsbildung bzw. am Lehrbetriebsverbund unterschiedliche Motive verfolgt.

Industrielle Welt

„Die Ordnung der industriellen Welt beruht auf der Effizienz der Wesen, ihrer Leistung und Produktivität, ihrer Fähigkeit, ein normales Funktionieren zu ge-währleisten und Bedürfnisse in nützlicher Weise zu befriedigen“ (Boltanski &

Thévenot, 2007, S. 278, Hervorhebung im Original). In der industriellen Welt

wird hier primär, wenn der Beurteilungsmaßstab nicht korrekt angewandt wird, wenn also z.B. gleiche Leistungen ungleich beurteilt werden.

zählen daher Funktionalität und Professionalität, Vorhersehbarkeit und Zuver-lässigkeit. Wertvolle Menschen verfügen über Fachwissen und berufliche Kompetenzen. Anerkennung erfahren Spezialistinnen und Spezialisten, Exper-tinnen und Experten sowie Professionelle. Bewertet werden sie anhand von formalen Qualifikationen (Boltanski & Thévenot, 2007, S. 279).

Bezüglich der Berufsbildung ist wichtig, dass sie effizient organisiert ist und reibungslos abläuft. Lernende sollen möglichst gute Fachkompetenzen ausbilden sowie effizient und zuverlässig arbeiten. In der industriellen Welt gelten langfristige Investitionen als unumgänglich für Fortschritt und Entwick-lung. Entsprechend wird die Berufsbildung als Investition in die betriebliche Zukunft gesehen (vgl. Boltanski & Thévenot, 2007, S. 282).

Welt des Marktes

Die Welt des Marktes wird durch Konkurrenz, Rivalität und Wettbewerb orga-nisiert. Die Individuen dieser Welt sind Kaufende und Verkaufende, die im Austausch um knappe Güter stehen. Geregelt wird der Austausch von Gütern über den Marktwert bzw. den Preis, welcher die Stärke der individuellen Wün-sche (bzw. die Nachfrage) nach diesen Gütern ausdrückt. Beziehungen in die-ser Welt sind kurzfristig und strategisch. Personen von Größe sind Reiche, Be-sitzerinnen und Besitzer von Luxusgütern und Wertgegenständen sowie Ge-winnerinnen und Gewinner (Boltanski & Thévenot, 2007, S. 267 f.).

Aus der Perspektive der marktlichen Welt soll die Berufsbildung käuflich bzw. verkäuflich sein. Im Vordergrund steht nicht Effizienz, sondern eine kurz-fristige, profitable Geschäftsbeziehung. Die Qualität der Lernenden wird an deren Marktwert gemessen, d.h. am Verhältnis zwischen ihrem „Preis“ und ihren produktiven Leistungen.

Netzwerkwelt (Projektwelt)

Die Netzwerkwelt beruht auf dem Prinzip der Vernetzung: Beziehungen zu knüpfen, im Netzwerk zu vermitteln, Projekte ins Leben zu rufen und sich Pro-jekten anzuschließen. Beziehungen werden flexibel und befristet gelebt; sie werden so lange aufrechterhalten, wie sie von Nutzen sind. In dieser Welt er-halten Akteurinnen und Akteure ‚Qualität’, wenn sie sich aktiv in Projekten engagieren und über ein großes Netzwerk verfügen (Boltanski & Chiapello, 2006, S. 156). Im Gegensatz zur industriellen Welt beruht die Wertigkeit einer Person nicht auf spezialisiertem Fachwissen, sondern auf vielseitiger Einsatz-fähigkeit (Polyvalenz) und ProjektEinsatz-fähigkeit. Dazu gehören Selbstkontrolle und Selbstdarstellung, Offenheit, Flexibilität und Mobilität genauso wie Risikobe-reitschaft, Ungebundenheit und Verfügbarkeit (ebd., S. 158 ff.).

Auch die Berufsbildung soll Vernetzung ermöglichen und in der Form ei-nes Netzwerks organisiert werden, welches flexible und befristete, „projekt-förmige“ Geschäfts- und Ausbildungsbeziehungen ermöglicht. Lernende sol-len nicht nur Fachkompetenzen erwerben; der Fokus liegt in dieser Welt in erster Linie auf der Ausbildung von überfachlichen Kompetenzen („Soft Ski-lls“) wie Flexibilität und Selbstorganisation. Es liegt auf der Hand, dass Lehr-betriebsverbünde sich in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Organisations-weise sehr eng an der Handlungslogik der Netzwerkwelt orientieren.

Staatsbürgerliche Welt

Die Ordnung der staatsbürgerlichen Welt beruht auf kollektivem Handeln und Solidarität. In der staatsbürgerlichen Welt gelangt man zu Größe, indem man auf Partikularinteressen verzichtet und sich dem Kollektiv unterordnet. Daher werden in der staatsbürgerlichen Welt Egoismus und Individualismus verpönt.

Personen kommt „Wert“ zu, wenn sie sich für eine gerechte Sache einsetzen, wenn sie sich an den gesetzlichen Rahmen halten und wenn sie selbstlos sind (Boltanski & Thévenot, 2007, S. 254 f.).

Aus der Perspektive der staatsbürgerlichen Welt ist es wichtig, dass die Berufsbildung rechtlich geregelt ist und dass das Kollektivinteresse wie auch das Wohl der Lernenden vor den Eigeninteressen der Ausbildungsbetriebe ste-hen. Ein spezifisches Ausbildungsmodell ergibt dann Sinn, wenn es gerecht ist, wenn es also beispielsweise Chancengleichheit ermöglicht, oder wenn es Benachteiligten zugutekommt, zum Beispiel wenn es die Integration von schulschwachen Jugendlichen oder Jugendlichen mit Migrationshintergrund befördert.

Häusliche Welt

Die Ordnung der häuslichen Welt beruht auf der Hierarchie, der Tradition und der Abstammung. Bezogen auf diese drei Aspekte kommt die Qualität „großer“

Personen auf dreierlei Arten zustande: erstens aufgrund einer höhergestellten Position in der Hierarchie (Chefin/Chef, Königin/König) oder aufgrund der Wertschätzung durch höhergestellte Personen, zweitens in der Einhaltung von traditionellen Tugenden wie Pünktlichkeit, Höflichkeit und Loyalität und drit-tens durch die Generationenfolge. Zwischenmenschliche Beziehungen in der häuslichen Welt sind vertraut und langfristig. Es wird erwartet, dass Höherge-stellten gegenüber Zurückhaltung und Respekt gezeigt werden; im Gegenzug übernehmen diese eine Verantwortung für ihre Untergebenen und lassen sie an ihrer Größe teilhaben (Boltanski & Thévenot, 2007, S. 230 ff.).

In der Logik der häuslichen Welt soll die Berufsbildung derart gestaltet sein, dass sie Traditionen aufrechterhält und sich an traditionellen

Rollenvor-stellungen orientiert. Der Betrieb übernimmt Verantwortung für den Lernen-den und erwartet im Gegenzug Loyalität und Unterordnung. Die Beurteilung von Lernenden geschieht in der häuslichen Welt „aus dem Bauch heraus“, d.h.

aufgrund von Charakter, Manieren und sozialer Passung, und ist deshalb be-sonders anfällig für Diskriminierung (vgl. Imdorf, 2011).

Welt der Meinung

In der Welt der Meinung gelten Personen und Objekte als wertvoll, wenn sie bekannt, gut sichtbar und populär sind. „Größe“ hängt von der Meinung ande-rer ab, die sich allerdings schnell verändern kann – wer einen guten Ruf ge-nießt, kann diesen auch wieder verlieren (Boltanski & Thévenot, 2007, S. 246).

In dieser Welt beteiligen sich Betriebe an der Berufsbildung (bzw. an einem Ausbildungsverbund), wenn sie dadurch ihr Image verbessern können. Eine bestimmte Ausbildung hat dann ‚Qualität‘, wenn sie in der Öffentlichkeit als gut gilt oder wenn sie von einer bekannten Organisation angeboten wird.

Welt der Inspiration

Die Welt der Inspiration beruht auf dem Prinzip, dass durch die Erfahrung von Inspiration Vollendung und Glück erlangt werden können. Wahre Größe ist hier ein spontaner innerer Zustand, der in Form von Gefühlen und Leiden-schaften erlebt wird. Personen kommt in dieser Welt ‚Qualität‘ zu, wenn sie inspiriert, erleuchtet, bewegt, phantasievoll, kreativ oder originell sind (Boltanski & Thévenot, 2007, S. 222 f.).

Für ein bestimmtes Ausbildungsmodell spricht hier, wenn es originell und unkonventionell ist, wenn es Lernende begeistert und inspiriert. Lernende sol-len sich in der Ausbildung selbst verwirklichen und ihrer Berufung folgen kön-nen. Wichtig ist aus der Perspektive dieser Welt deshalb, diejenigen Lernenden zu finden, die mit Herzblut dabei sind, sowie den Lernenden dazu zu verhelfen, denjenigen Fachbereich zu finden, der ihrer wahren Berufung entspricht.