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Milieus der gesellschaftlichen Mitte

Teil II: Individuelle Ebene

6.2 Gesellschaftliche Milieus und milieuspezifische

6.2.3 Milieus der gesellschaftlichen Mitte

Die Milieus der gesellschaftlichen Mitte verbindet ihr Streben nach sozialer Anerkennung und geregelten Arbeits- und Lebensverhältnissen. Wichtig ist, eine beständige und respektable soziale Stellung einzunehmen, die entweder durch Leistung oder durch Loyalität „verdient“ wird. Die beiden Traditionsli-nien der gesellschaftlichen Mitte unterscheiden sich vor allem durch ihre Ein-stellung gegenüber Konventionen und Hierarchien, Bildung und Verantwor-tung (Bremer & Lange-Vester, 2014, S. 16; Vester u.a., 2001, S. 38).

Kleinbürgerlich-ständische Traditionslinie

In der Traditionslinie der rechten Mitte befinden sich die Milieus, die über ein hierarchisches, obrigkeitsgebundenes Weltbild verfügen. Die kleinbürgerliche Traditionslinie hat ihre historischen Wurzeln in der ständischen Gesellschaft der Handwerksbetriebe und kleinen Kaufleute, wo sich die kleinbürgerliche Mentalität in lang dauernder Unterordnung unter stadtbürgerliche und staats-bürokratische Hierarchien herausgebildet hat. Die kleinbürgerlichen Milieus orientieren sich an Hierarchien und Autoritäten, sowie an den Grundsätzen der Treue und der Pflicht. „Väter, Chefs und Politiker gelten noch als Vorbilder.

Ihnen ist zu folgen, sie haben aber auch eindeutige Fürsorgepflichten gegen-über ihren Untergebenen. In diesem Patron-Klient-Verhältnis gilt der Grund-satz ‚Treue gegen Treue‘“ (Vester u.a., 2001, S. 30; vgl. auch Gardemin, 2014, S. 324). Die kleinbürgerlich-ständische Traditionslinie umfasst etwa ein Vier-tel der Schweizer Bevölkerung.34

34 Für Deutschland beträgt der Anteil 24% (Bremer, 2010, S. 231). Die Schweizer

Sinus-Das kleinbürgerliche Arbeitnehmermilieu (KLB)

Das ältere Milieu dieser Traditionslinie, das kleinbürgerliche Arbeitnehmer-milieu, rekrutiert sich aus kleinen Selbstständigen (Bäckerei, Schreinerei, Landwirtschaft u.a.), industriellen Fachleuten (insbesondere Mechanikerinnen und Mechaniker), kleineren und mittleren kaufmännischen Angestellten sowie den klassischen schlecht bezahlten „Frauenberufen“ in Pflege und Gastrono-mie. Die Angehörigen dieses Milieus haben eher wenig ökonomisches und kulturelles Kapital. Ihre Mentalität ist auf Einordnung in bestehende soziale Normen und Hierarchien eingestellt. Zentrale Werte sind Loyalität und Pflicht-erfüllung, Disziplin und Verlässlichkeit. Menschen mit höherem Status sind Vorbilder und Autoritätspersonen, ihnen wird eine besondere Ehrfurcht entge-gengebracht. Auch Verantwortung wird nach oben delegiert, was die Einzel-nen entlastet. Als Strategie für den beruflichen Aufstieg setzt man auf Loyalität und Pflichterfüllung, während in die eigenen Fähigkeiten eher wenig Ver-trauen gesetzt wird.

Die Arbeit nimmt einen hohen Stellenwert ein, jedoch nicht unter dem Ge-sichtspunkt der Selbstverwirklichung, sondern im Hinblick auf Status und so-ziale Einordnung: „Im Vordergrund steht das Streben nach einer guten Stel-lung, die den Einzelnen und ihrer Familie eine geachtete soziale Position und materielle Sicherheit verschaffen soll“ (Vester u.a., 2001, S. 519). Der er-reichte materielle Wohlstand, Symbol für Respektabilität, wird gegen außen demonstriert. Im Stolz auf das Erreichte schwingt auch eine gewisse Unsicher-heit mit, eine Angst, infrage gestellt zu werden. Man will sich nicht exponieren und versucht, den äußeren Eindruck aufrechtzuerhalten; eventuelle Makel sol-len nicht allzu sehr auffalsol-len. Wichtig sind Geborgenheit und Harmonie in Fa-milie und Beruf; dafür ist man auch bereit, sich anzupassen und Kompromisse einzugehen. Das kleinbürgerliche Arbeitnehmermilieu gehört zu den Verlie-rern des wirtschaftlichen Wandels. Mit den steigenden Anforderungen an Lernfähigkeit, Eigenverantwortung und Selbstständigkeit sind viele kleinbür-gerliche Arbeitnehmende überfordert. Zusammenfassend kann man den klein-bürgerlichen Habitus mit den Worten „loyal“, „beflissen“, „fügsam“, „pflicht-bewusst“, „hierarchiegebunden“, „konventionell“, „unselbstständig“, „unsi-cher“, „harmoniebedürftig“, „gemeinschaftlich“, „sicherheitsorientiert“ und

„materialistisch“ beschreiben (Vester u.a., 2001, S. 41, 518 ff.).

etwa dem kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu und dem modernen bürgerlichen Mi-lieu entsprechen, machen zusammen einen fast identischen Anteil von 25% der Ge-samtbevölkerung aus (Sinus-Institut, o.J.b). Ich gehe deshalb davon aus, dass der pro-zentuale Anteil in der Schweiz in etwa demjenigen Deutschlands entspricht.

Das moderne kleinbürgerliche Milieu (MOBÜ)

Die jüngere Generation der kleinbürgerlichen Traditionslinie hat sich zum mo-dernen kleinbürgerlichen Milieu ausdifferenziert. Hier finden sich die Moder-neren und Erfolgreicheren, welche eine solide Fachausbildung und eine ver-gleichsweise sichere Stellungen im handwerklichen oder kaufmännischen Be-reich aufweisen. Die Einordnung in berufliche und familiäre Hierarchien do-miniert weiterhin, jedoch hat sich die traditionelle und restriktive Orientierung etwas relativiert. Gleichstellung und Mitspracherechte werden begrenzt befür-wortet und der kleinbürgerliche Lebensrahmen hat sich durch Elemente der Selbstverwirklichung und des Hedonismus aufgelockert. Im Vergleich zum kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu werden Veränderungen und Moderni-sierungen etwas besser bewältigt. Der moderne kleinbürgerliche Habitus ist loyal, verantwortungsbewusst, hierarchiegebunden, konventionell, harmonie-bedürftig, gemeinschaftlich und materialistisch – ähnlich wie derjenige des kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieus, jedoch sind viele der Mentalitätszüge weniger ausgeprägt vorhanden (Vester u.a., 2001, S. 41 f., 520 f.).

Traditionslinie der Facharbeit bzw. praktischen Intelligenz

Die Traditionslinie der Facharbeit, die in der linken Mitte des sozialen Raums angesiedelt ist, umfasst die klassischen Arbeitnehmermilieus. Sie hat ihre his-torischen Wurzeln in den vorindustriellen freien Volksklassen der relativ au-tonom wirtschaftenden Bauern und Handwerker sowie in der Arbeiterbewe-gung des neunzehnten Jahrhunderts. Für die Angehörigen dieser Milieus sind persönliche Unabhängigkeit, Solidarität und gute fachliche Arbeit von großer Bedeutung. Autoritäten gegenüber ist man skeptisch eingestellt, stattdessen will man eigenverantwortlich und gleichberechtigt handeln. In dieser Traditi-onslinie wird eine Person nicht aufgrund ihres Rangs in einer gegebenen Hie-rarchie, sondern aufgrund der von ihr geleisteten Arbeit beurteilt. Man setzt auf eine gute Fachausbildung, welche die angestrebte persönliche Autonomie, d.h. die Emanzipation von Abhängigkeiten und äußeren Zwängen, ermögli-chen soll (Vester u.a., 2001, S. 511 ff.). Die Traditionslinie der Facharbeit macht rund dreißig Prozent der Bevölkerung aus.35

35 Vester u.a. (2001, S.511 f.) haben den Anteil von 30% für Deutschland und die „ande-ren großen Länder Westeuropas“ herausgearbeitet. Auch wenn die Schweiz nicht zu diesen „großen“ Ländern zählt, gehe ich von einem ähnlichen Anteil für die Schweiz aus. Sinus setzt in diesem Bereich etwas andere Milieugrenzen, was einen Vergleich

Das traditionelle Arbeitermilieu (TRA)

Das älteste und mittlerweile kleinste der drei Milieus dieser Traditionslinie ist das traditionelle Arbeitermilieu. Das Milieu umfasst vorwiegend Facharbeite-rinnen und Facharbeiter mit relativ geringer Formalbildung. Historisch aus Be-dingungen des Mangels und der Unsicherheit entstanden, entspricht ihr Habi-tus den Prinzipien der Bescheidenheit, Diszipliniertheit und sorgfältigen Pla-nung. Nicht nur das Überleben, sondern auch die eigene Würde und die Iden-tität sind wichtig. Verpönt werden daher Opportunismus und Unterwerfung, moralische Kompromisse, Prahlerei und modischer Konsum. Man lebt authen-tisch und gibt sich, wie man ist; man ist lieber arm als opportunisauthen-tisch. Der Obrigkeit gegenüber ist man misstrauisch, sucht aber nicht die offene Kon-frontation. Wichtig ist die Gemeinschaft mit Familie, Nachbarschaft, Arbeits-kolleginnen und Arbeitskollegen. Deren Anerkennung sowie Solidarität und Zusammenhalt sind wichtiger als individueller sozialer Aufstieg. Zusammen-fassend kann man den Habitus des traditionellen Arbeitermilieus als egalitär, unabhängig, bescheiden, diszipliniert, authentisch, gemeinschaftlich, solida-risch und sicherheitsorientiert bezeichnen (Vester u.a., 2001, S. 40, 513 f.).

Das leistungsorientierte Arbeitnehmermilieu (LEO)

Im Kontext des Wirtschaftswachstums und der Bildungsexpansion hat sich die mittlere Generation der Traditionslinie der Facharbeit, das leistungsorientierte Arbeitnehmermilieu, herausgebildet. Im Vergleich mit ihrer Elterngeneration haben die leistungsorientierten Arbeitnehmenden relativ gute Ausbildungs-standards. Schwerpunktmäßig sind sie in der Metall- und Bauindustrie (u.a.

spezialisierte Berufspersonen in Facharbeit, Technik und Ingenieurwesen) so-wie im Dienstleistungssektor tätig. Obwohl sich in diesem Milieu insgesamt betrachtet weniger kaufmännische Angestellte befinden als im benachbarten kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu, gehören die meisten Bank- und Versi-cherungsangestellten dazu.36 Zentral für das Ethos dieses Milieus ist die strikt meritokratische Moral: Weder Beziehungen noch familiäre Privilegien, son-dern ausschließlich die eigene Leistung soll die gesellschaftliche Position be-stimmen. Man „dient“ sich nicht hoch, man arbeitet sich hoch. Für eine beruf-liche Ausbildung entscheiden sich die leistungsorientierten Arbeitnehmenden meist aufgrund von persönlichem Interesse oder zumindest mit Blick auf die dadurch eröffneten Aufstiegschancen. Sie identifizieren sich mit ihrer Arbeit und arbeiten motiviert, kompetent und gewissenhaft. Hinsichtlich ihres beruf-lichen Aufstiegs vertrauen sie auf ihre Leistungsfähigkeit, ihr gutes Fachkön-nen und ihre Weiterbildungen. Von ihrer Arbeit erwarten sie Herausforderung, Anerkennung, Selbstbestätigung und einen Lohn, der ein sicheres und unab-hängiges Leben ermöglicht. Die leistungsorientierten Arbeitnehmenden teilen

36 Hierbei handelt es sich um den kaufmännischen Bereich mit den höchsten Kompetenz-anforderungen und dem höchsten Prestige.

die hohe Leistungsbereitschaft und die solidarische Grundhaltung ihres Eltern-milieus, nicht aber deren Bescheidenheit. Als Gegenleistung für ihren großen beruflichen Einsatz erwarten sie eine stärkere Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand (Vester u.a., 2001, S. 40, 514 ff.). Der idealtypische leistungsorien-tierte Arbeitnehmer hat eine starke Leistungsmotivation, strebt nach Anerken-nung, Unabhängigkeit und sozialer Teilhabe, ist nüchtern-realistisch, solida-risch, meritokratisch und egalitär orientiert und verfügt über eine mittlere For-malqualifikation.

Das moderne Arbeitnehmermilieu (MOA)

Die jüngste Generation der Traditionslinie der Facharbeit, das moderne Arbeit-nehmermilieu, ist in den 1980er-Jahren entstanden und seither schnell gewach-sen. Das Milieu umfasst hoch qualifizierte Arbeitnehmende in modernen tech-nischen, sozialen, pädagogischen und administrativen Berufen, oft mit Fach-hochschulabschlüssen. Trotz ihrer guten Bildungsqualifikationen und berufli-chen Positionen haben sie ihre kulturellen Wurzeln beibehalten, die Lebens-führung ihrer Elterngeneration im Kontext des gestiegenen Wohlstands und ihrer erweiterten Möglichkeiten aber modernisiert. Im Vergleich zur Elternge-neration sind vor allem die Momente des Hedonismus und der Individualisie-rung ausgeprägter, jedoch immer noch vor dem Hintergrund einer sorgfältigen und realistischen Lebensplanung. Die modernen Arbeitnehmenden möchten sich leisten können, was ihnen gefällt – jedoch nicht wie die Kleinbürgerlichen im Hinblick auf einen makellosen äußeren Eindruck, sondern um ihr Leben selbstbestimmt gestalten zu können. Zentrale Werte dieses Milieus sind Eman-zipation und Autonomie, Selbstverwirklichung und Erfolg im Beruf sowie Chancengleichheit. Die modernen Arbeitnehmenden streben eine interessante, gut bezahlte und verantwortungsvolle berufliche Tätigkeit an und sind moti-viert, sich ihr Leben lang fachlich weiterzubilden. Bildung soll sowohl der per-sönlichen Entwicklung als auch der Erweiterung beruflicher Handlungsberei-che dienen. Gestützt auf das Vertrauen in ihr Fachkönnen und ihre Leistungs-fähigkeit sind sie offen für berufliche Herausforderungen und Stellenwechsel.

Ihr Ehrgeiz hält sich jedoch in Grenzen; Zufriedenheit sowie Raum für Freizeit und Gemeinschaft sind wichtiger als eine steile Karriere. Sie sind mobil, offen für Neues und Unkonventionelles und wollen nicht bevormundet werden. Zu-sammenfassend lässt sich der Habitus des Milieus als selbstbestimmt, auto-nom, weltoffen, mobil, weiterbildungsaktiv, begrenzt hedonistisch und auf-stiegsorientiert sowie egalitär charakterisieren (Vester u.a., 2001, S. 41, 516 ff.).

Das hedonistische Milieu (HED)

Das hedonistische Milieu nimmt in der Milieutheorie einen speziellen Platz ein. Es handelt sich hierbei um ein „junges“ Milieu, in dem sich größtenteils

Personen in Ausbildung oder kurz nach der Ausbildung befinden. Dieses „Mi-lieu der Jugendkultur“ (Vester u.a., 2001, S. 30) bildet keine eigenständige Traditionslinie, sondern besteht aus Kindern der beiden großen Traditionsli-nien der respektablen Volksmilieus, die sich in ihrer jugendlichen Rebellion gegen die Leistungs- und Pflichtethik ihrer Eltern wehren. Entsprechend beto-nen die Hedonistinbeto-nen und Hedonisten Antikonformismus und Individualis-mus. Sie wollen das Leben im Moment genießen und streben nach Spontanei-tät, Spaß und Abenteuer. Selbstverwirklichung suchen sie in Freizeit und Kon-sum, nicht in der Arbeit. Das Milieu umfasst eine große Bandbreite sozialer Lagen, jedoch haben die meisten Hedonistinnen und Hedonisten nur begrenzte finanzielle Mittel, da sie sich am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn befinden.

Sie können deshalb ihre Vorstellungen von erweiterten Lebensentwürfen oft nicht verwirklichen. Vester u.a. (2001, S. 52 f.) gehen davon aus, dass viele Hedonistinnen und Hedonisten in einer späteren Lebensphase wieder in die Traditionslinie ihrer Herkunft wechseln, oft in eine modernisierte Variante ih-res Herkunftsmilieus.