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Das Modell des sozialen Raums

Teil II: Individuelle Ebene

6.1 Mechanismen sozialer Ungleichheit im Bildungssystem

6.1.2 Das Modell des sozialen Raums

Ein weiteres, mit dem Kapitalbegriff eng verbundenes Konzept in Bourdieus Theorie ist der soziale Raum. Der soziale Raum stellt laut Bourdieu eine sche-matische Abbildung der Kräfteverteilung einer Gesellschaft dar. In einem ers-ten Schritt wird der soziale Raum zunächst als relativ simple grafische Darstel-lung der KapitalverteiDarstel-lung der Gesellschaft konstruiert. Aufgrund der Menge und der Art ihres Kapitals wird jeder Akteurin und jedem Akteur bzw. jeder Gruppe von Akteurinnen und Akteuren eine spezifische Position im sozialen Raum zugeteilt. Die vertikale Achse in Abbildung 8 definiert dabei das Ge-samtvolumen aller Kapitalformen29, welche die Person besitzt, die horizontale Achse gibt Auskunft über das relative Gewicht des kulturellen und des ökono-mischen Kapitals – dies, da diese beiden Kapitalformen laut Bourdieu in den westlichen Gesellschaften die wichtigsten „Differenzierungsprinzipien“ sind (Bourdieu, 1997a, S. 106):

29 Je nach Publikation schließt das Gesamtvolumen nur das ökonomische und das kultu-relle Kapital (Bourdieu, 1998, S. 18), das ökonomische, das kultukultu-relle und das soziale Kapital (Schwingel, 2005, S. 107) oder alle vier Kapitalformen (Bourdieu, 1997a, S. 107) mit ein.

Der soziale Raum ist so konstruiert, dass die Verteilung der Akteure oder Gruppen in ihm der Position entspricht, die sich aus ihrer statistischen Verteilung nach zwei Unterschei-dungsprinzipien ergibt, die in den am weitesten entwickelten Gesellschaften wie den Ver-einigten Staaten, Japan oder Frankreich die zweifelsohne wirksamsten sind, nämlich das ökonomische Kapital und das kulturelle Kapital. (Bourdieu, 1998, S. 18)

Auf diese Weise entsteht ein Raum objektiver Positionen, in den Akteurinnen und Akteure bzw. Gruppen anhand statistischer Daten wie Einkommen, Ver-mögen, Schulbildung und Berufsqualifikation eingeordnet werden können.

Die Interpretation des Schemas in Abbildung 8 ist relativ einfach: Personen mit viel Gesamtkapital befinden sich in der Grafik oben, solche mit wenig Ka-pital unten. Besteht ihr KaKa-pital mehrheitlich aus kulturellem KaKa-pital, sind sie auf der linken Seite verortet; besteht ihr Kapital in erster Linie aus ökonomi-schem Kapital, finden sie sich in der rechten Hälfte des sozialen Raums wieder.

Bourdieu verwendet den Beruf als Indikator für die Position im sozialen Raum, da dieser Aufschluss sowohl über Bildungsabschluss als auch Einkom-men gibt (Bourdieu, 1997a, S. 108). So sind beispielsweise Hochschulleh-rende, Kunstproduzentinnen und Kunstproduzenten im linken oberen Viertel angesiedelt, Unternehmerinnen und Unternehmer aus Handel und Industrie im rechten oberen Viertel. Der Beruf der Kauffrau bzw. des Kaufmannes, den ich in der vorliegenden Dissertation vorrangig untersuche, wird von Bourdieu in einem relativ großen Feld in der Mitte dieses Raums verortet (Bourdieu, 1987, S. 533).

Abbildung 8: Raum der sozialen Positionen (Schwingel, 2005, S. 108)

Über diesen Raum der sozialen Positionen legt Bourdieu eine zweite Ebene:

den Raum der Lebensstile. Der Begriff des Lebensstils umfasst die symbolisch-kulturelle Dimension der Lebensführung wie Geschmack, Stil, Konsum- und Verhaltensgewohnheiten, Wahlverhalten und so weiter. Zwischen diesen bei-den Sub-Räumen, dem Raum der objektiven sozialen Positionen und dem

Raum der Lebensstile, besteht laut Bourdieu eine Wechselbeziehung: Sie wer-den wie Folien übereinandergelegt, sodass jeder sozialen Position (oder Posi-tionenklasse) bestimmte typische Praktiken und Vorlieben zugeordnet werden können. Diese Beziehung zwischen sozialer Position und Lebensstil ist jedoch keine streng kausale, vielmehr handelt es sich um Korrespondenzen bzw.

Wahrscheinlichkeiten (Schwingel, 2005, S. 113).

Der Lebensstil lässt sich laut Bourdieu nicht allein von den objektiven kul-turellen und materiellen Bedingungen ableiten, sondern muss ebenso aus der relativen Position einer Gruppe im Verhältnis zu anderen Positionen erklärt werden. Eine soziale Lage ist nicht nur durch ihre eigenen Lebensbedingungen geprägt, sondern auch durch die Differenz zu den Lebensbedingungen anderer sozialer Lagen, die über oder unter ihr liegen. Erst durch die Bezugnahme auf unterschiedliche Besitztümer, Praktiken und Meinungen bekommen Unter-schiede in der alltäglichen Lebensführung eine symbolische Bedeutung (z.B.

als exklusiv oder vulgär) und stiften soziale Identität (Bourdieu, 1987, S. 279).

Positionen sind also sowohl material, durch objektiv vorhandene Ressourcen, als auch relational, im Verhältnis zu anderen Positionen, definiert (Bourdieu, 1997a, S. 110).

Das Verbindungsglied zwischen der sozialen Position und dem Lebensstil ist der Habitus: Der Habitus übersetzt die Existenzbedingungen einer sozialen Position in spezifische Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster, welche sich wiederum in verschiedenen Lebensstilen niederschlagen.

Akteure, die in diesem Raum benachbarte Positionen einnehmen, stehen unter ähnlichen Bedingungen und unterstehen deshalb ähnlichen Bedingungsfaktoren: Sie werden dem-zufolge mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ähnliche Dispositionen und Interessen haben und dementsprechend Vorstellungen und Praktiken ähnlicher Art produzieren. Diejeni-gen, welche die gleichen Positionen einnehmen, haben alle Aussichten auf den gleichen Habitus, zumindest insoweit, als die Laufbahnen, die sie in diese Position geführt haben, einander ähnlich sind. (Bourdieu, 1997a, S. 109)

Jeder sozialen Position (bzw. Region im sozialen Raum) entspricht also ein Klassenhabitus. Unter „Klasse“ versteht Bourdieu das „Ensemble von Akteu-ren (…), welche aufgrund des Umstandes, dass sie ähnliche Positionen im so-zialen Raum (…) einnehmen, ähnlichen Existenzbedingungen und konditio-nierenden Faktoren unterworfen und demzufolge mit ähnlichen Dispositionen ausgestattet sind, die sie ähnliche Praktiken entwickeln lassen“ (Bourdieu, 1997a, S. 111). Die räumlichen Distanzen auf dem Papier sind entsprechend auch soziale Distanzen: Akteurinnen und Akteure sind sich umso ähnlicher und in der Regel auch umso sympathischer, je näher sie im sozialen Raum positioniert sind, während Akteurinnen und Akteure von weiter entfernten Po-sitionen eher befremdend, vulgär, distinguiert etc. wirken.

Die verschiedenen Positionen können grob zu drei sozialen Klassen zusam-mengefasst werden, ohne dass es dabei zwischen den einzelnen Klassen klare Trennlinien gibt: Oben im sozialen Raum befindet sich die herrschende

Klasse, darunter die Mittelklasse und im unteren Drittel die Volksklasse (Schwingel, 2005, S. 110). Die einzelnen Klassen sind intern wiederum in ver-schiedene soziale Milieus differenziert. Ein Milieu ist demzufolge eine Gruppe von Akteurinnen und Akteuren mit ähnlichem Habitus, die im sozialen Raum eine spezifische Region einnimmt. Personen eines Milieus arbeiten in ver-wandten Berufsfeldern und haben in der Regel ähnliche Ausbildungen absol-viert. Beispielsweise befindet sich oben links im sozialen Raum (vgl. Abbil-dung 8) das Bildungsmilieu, die intellektuelle Gruppe der herrschenden Klasse. Es umfasst unter anderem Hochschullehrende sowie Absolventinnen und Absolventen der Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Rechts oben, im bürgerlichen Milieu, befindet sich die Besitz- und Machtelite der Gesell-schaft. Das bürgerliche Milieu rekrutiert sich vor allem aus Unternehmerinnen und Unternehmern aus Industrie und Handel, freiberuflich Tätigen sowie Selbstständigen. Auch die Mittelklasse ist in verschiedene Milieus unterteilt:

In der rechten Hälfte beispielsweise liegt das kleinbürgerliche Arbeitnehmer-milieu, das diejenigen umfasst, die in Handwerk und Kleinhandel tätig sind, während im unteren Teil das traditionelle Arbeitermilieu angesiedelt ist. Ge-nauere Ausführungen zu den sozialen Milieus finden sich in Kapitel 6.2.

6.1.3 Der soziale Raum als Momentaufnahme der Gesellschaft Bourdieu unterlegt seine Argumentation mit einer Fülle von empirischen Un-tersuchungen. In seinem bekanntesten Werk „Die feinen Unterschiede“ (1987 [1979]) belegt Bourdieu mittels statistischer Verfahren30 wesentliche Über-einstimmungen in Geschmack und Moralvorstellungen von Individuen ähnli-cher gesellschaftliähnli-cher Positionen, die sich wiederum systematisch von denje-nigen anderer Positionen unterscheiden (vgl. Abbildung 9).

Diese Darstellung mag auf den ersten Blick starr wirken. Sie ist jedoch nichts anderes als eine Momentaufnahme, die grafische Abbildung empiri-scher Daten, welche Bourdieu im Frankreich der 1970er-Jahre erhoben hat.

Während sich der konkrete Inhalt dieser Darstellung von Epoche zu Epoche und Gesellschaft zu Gesellschaft unterscheidet, betont Bourdieu, dass das So-zialraummodell in strukturtheoretischer Hinsicht Gültigkeit für alle westlich geprägten Gesellschaften besitze (Bourdieu, 1987, S. 12). Entsprechend kann Bourdieus grundlegende Aussage durchaus auch auf die Schweiz von heute übertragen werden: In Abhängigkeit von ihrer sozialen Position erwerben Ak-teurinnen und Akteure unterschiedliche habituelle Dispositionen, die sich auf ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster auswirken und sich u.a. in Praktiken, Kompetenzen, Mentalität und Geschmack äußern.

30 Korrespondenzanalyse: statistisches Verfahren, mit dem die Beziehungen zwischen

Va-Abbildung 9: Vereinfachte Darstellung von Bourdieus sozialem Raum (Bourdieu, 1987, S. 212f.; ei-gene Darstellung in Anlehnung an Bourdieu, 1998, S. 19)