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Rotation: Unterschiedliche Modelle und Ziele

Teil I: Organisatorische Ebene

5 Lehrbetriebsverbünde: Flexibilisierte Berufsbildung im

5.3 Unterschiede in der Projektförmigkeit der vier Verbünde

5.3.1 Rotation: Unterschiedliche Modelle und Ziele

Werden Lehrbetriebsverbünde in der Schweizer Literatur beschrieben, findet sich häufig die Formulierung, dass Lernende „in der Regel jährlich“ den Aus-bildungsbetrieb wechseln. Dies ist jedoch ein idealtypisches Modell, welches der Heterogenität der in der Praxis existierenden Rotationsmodelle kaum ge-recht wird. In den hier untersuchten Verbünden verbringen die Lernenden ihre Berufslehre in einem bis fünf verschiedenen Betrieben und die Dauer der Eins-ätze variiert von wenigen Monaten bis zur gesamten Lehrzeit. Die Anzahl der Rotationen unterscheidet sich nicht nur von Verbund zu Verbund, sondern auch innerhalb eines Verbundes zwischen den verschiedenen Ausbildungsbe-rufen und selbst zwischen den Ausbildungsverläufen einzelner Lernender.

Im Folgenden beschränke ich mich darauf, die Rotationsmodelle der kauf-männischen Ausbildungsgänge darzustellen, da eine Abhandlung aller Berufe den Rahmen des hier Möglichen sprengen würde. Für den kaufmännischen Be-reich habe ich mich entschieden, weil sowohl in meinem Sample als auch schweizweit die meisten Verbundlernenden eine kaufmännische Berufslehre absolvieren.23 Zudem handelt es sich dabei um den einzigen Ausbildungsberuf, welcher von allen vier der untersuchten Verbünde ausgebildet wird. Des Wei-teren hat sich in der Analyse aller Ausbildungsberufe herausgestellt, dass die

22 Auch wenn nicht jeder Verbund diese Ausbildungsphilosophie schriftlich festgehalten hat, ist sie doch immer Teil einer Organisation und kann aus Gesprächen und Doku-menten herausgearbeitet werden. Elemente der Ausbildungsphilosophie sind Ziele, Werte, Normen, Menschenbilder und das Selbstverständnis der jeweiligen Ausbil-dungsverbünde.

23 Eine vom BBT durchgeführte Evaluation kommt zum Resultat, dass die Hälfte aller Ausbildungsverbünde im kaufmännischen Bereich ausbildet (BBT, 2008, S. 18).

KV-Lehre in den untersuchten Verbünden insgesamt die höchste Projektför-migkeit aufweist. Aus all diesen Gründen wird der Fokus der Darstellung nach-stehend auf die kaufmännische Ausbildung gelegt.

Transportnet

Transportnet bildet Lernende im Beruf „Kauffrau/Kaufmann EFZ öffentlicher Verkehr“ (KVöV) aus. Die KVöV-Lernenden wechseln während ihrer Berufs-lehre viermal den Lehrplatz, jedoch nicht jedes Mal den Ausbildungsbetrieb.

In der Regel absolvieren sie ihre Ausbildung bei zwei bis drei verschiedenen Unternehmen. Es kommt jedoch auch vor, dass Lernende ihre ganze Lehrzeit bei einem einzigen Ausbildungsbetrieb verbringen. Die Ausbildung ist so ge-gliedert, dass die ersten vier Einsätze jeweils sechs Monate dauern, während der fünfte (und letzte) Einsatz zwölf Monate dauert. Diesen letzten Lehrplatz können die Lernenden insofern selbst mitbestimmen, als sie sich für zwei mög-liche Plätze bewerben. Rund achtzig Prozent der Lernenden erhalten einen die-ser beiden „Wunschplätze“. In vielen Fällen handelt es sich dabei um einen Lehrplatz, an dem sie im Verlauf ihrer Ausbildung bereits waren.

Eine Besonderheit von Transportnet ist die nationale Ausrichtung; die Lehrplätze erstrecken sich über die gesamte Schweiz. Bei der Zuteilung von Lehrplätzen wird jedoch in der Regel darauf geachtet, dass die Reisezeit nicht länger als eine Stunde dauert. Bei einem längeren Arbeitsweg kann die Reise-zeit vom täglichen Arbeitspensum abgezogen werden. Dennoch kommt es durchaus vor, dass Lernende Einsätze in drei oder vier unterschiedlichen Schweizer Städten – teilweise in unterschiedlichen Sprachregionen – absolvie-ren. Wenn zwischen Wohnort und Lehrplatz ein allzu langer Arbeitsweg an-fällt, besteht die Möglichkeit, am Arbeitsort ein Zimmer zu mieten. Um die Miete decken zu können, erhalten sie in einem solchen Fall einen Lohnzu-schuss. Abbildung 3 stellt einen möglichen Verlauf der KV-Ausbildung bei Transportnet dar. Die beiden grau hinterlegten Lehrplätze sind identisch.

Lehrplatz A Abbildung 3: Typischer Verlauf der Ausbildung „Kauffrau/Kaufmann EFZ öffentlicher Verkehr“ bei Transportnet

Spednet

Spednet bildet Lernende im Beruf „Kauffrau/Kaufmann EFZ internationale Speditionslogistik“ aus. Es werden zwei unterschiedliche Ausbildungsmodelle angeboten, eines mit Rotation und eines ohne. Solange Ausbildungsbetriebe das Tätigkeitsspektrum des Berufs abdecken, können sie selbst entscheiden, ob sie sich am Rotationsmodell beteiligen oder nicht. In der Regel behalten diese Betriebe die Lernenden für die gesamte Lehrzeit bei sich. Im Modell mit

Rotation, auf das ich mich im Folgenden beziehe, wechseln die Lernenden ih-ren Ausbildungsbetrieb jährlich. Spednet ist regional ausgerichtet, aber auch hier besteht vereinzelt die Möglichkeit, dass für einen Einsatz das Sprachgebiet gewechselt werden muss. Abbildung 4 stellt den typischen Verlauf der KV-Ausbildung im Rotationsmodell bei Spednet dar.

Lehrplatz A

Abbildung 4: Typischer Verlauf der Ausbildung „Kauffrau/Kaufmann EFZ internationale Speditionslo-gistik“ bei Spednet

Ruralnet

Ruralnet bildet Lernende im branchenneutralen Beruf „Kauffrau/Kaufmann EFZ Dienstleistung und Administration“ aus. Die KV-Lernenden wechseln in der Regel alle sechs bis zwölf Monate den Ausbildungsbetrieb, je nach Wunsch der Betriebe: „Der Ausbildungsbetrieb sagt uns, wie er das will“

(Vertretung Leitorganisation Ruralnet; P9: 944). Es besteht auch die Möglich-keit, dass Lernende firmenintern rotieren: „[Verbundbetrieb XY] hat letztes Jahr beschlossen, einen KV-Ausbildungsplatz zu schaffen, bei dem [die Ler-nende] im eigenen Betrieb von Abteilung zu Abteilung wechselt“ (Vertretung Leitorganisation Ruralnet; P11: 376). Da es sich bei Ruralnet um einen bran-chenheterogenen Lehrbetriebsverbund handelt, wechseln Lernende mit dem Betrieb manchmal zugleich auch die Branche. Die meisten der Verbundbe-triebe sind jedoch in der MEM-Branche tätig. Abbildung 5 stellt den mögli-chen Verlauf der KV-Lehre bei Ruralnet dar.

Lehrplatz A Abbildung 5: Typischer Verlauf der Ausbildung „Kauffrau/Kaufmann EFZ Dienstleistung und Administ-ration“ bei Ruralnet

Integranet

Wie auch Spednet bildet Integranet Lernende im Beruf „Kauffrau/Kaufmann EFZ Dienstleistung und Administration“ aus. Die KV-Lernenden wechseln in der Regel jährlich ihren Ausbildungsbetrieb. Es kommt vor, dass Lernende zwei Jahre lang beim gleichen Ausbildungsbetrieb bleiben, jedoch ist mindes-tens eine zwischenbetriebliche Rotation Bedingung für den staatlichen Finan-zierungszuschuss. Integranet ist ebenfalls branchenheterogen organisiert, wes-halb die Lernenden auch hier mit dem Betriebswechsel häufig in eine neue Branche übertreten. Abbildung 6 stellt den typischen Verlauf der KV-Lehre bei Integranet dar.

Lehrplatz A

Abbildung 6: Typischer Verlauf der Ausbildung „Kauffrau/Kaufmann EFZ Dienstleistung und Administ-ration“ bei Integranet

Die betrieblichen Wechsel bedingen vonseiten der Lernenden, dass sie fähig sind, sich für eine begrenzte Zeit selbstständig und flexibel in einen neuen Be-trieb, in ein neues Team und in einen neuen Fachbereich zu integrieren und sich nach Ablauf ihres Einsatzes auch wieder problemlos von diesen zu verab-schieden. Diese Kompetenzen werden umso mehr gefordert und gefördert, je mehr Rotationen die Ausbildung vorsieht und je kürzer die einzelnen Einsätze sind. Denn bei einem Einsatz von sechs Monaten können die Lernenden keine längere Einarbeitungs- und Eingewöhnungszeit erwarten; vielmehr sollen sie möglichst schnell selbstständig und produktiv arbeiten. Auch die Homogenität oder Heterogenität der verschiedenen Lehrplätze hat einen Einfluss auf die Projektförmigkeit der Ausbildung: Je unterschiedlicher die Lehrplätze in Be-zug auf Betriebsgröße, Branche oder Teamstruktur innerhalb eines Lehrbe-triebsverbundes sind, desto größer sind die Anforderungen an Flexibilität. Spe-ziell hohe Anforderungen an Projektfähigkeit stellt die Rotation, wenn sie be-dingt, dass eine Lernende oder ein Lernender für die Dauer des Einsatzes aus-wärts ein Zimmer nehmen muss (entweder aufgrund eines zu langen Arbeits-weges oder aus strategischen Gründen, wenn mit einem Einsatz z.B. in der Romandie zusätzlich Französischkenntnisse erworben werden sollen). Aus diesen Gründen weisen die Rotationsmodelle von Transportnet und Ruralnet die größte Projektförmigkeit auf.

Zwischen den Lehrbetriebsverbünden unterscheiden sich nicht nur die Mo-delle, sondern auch die Gründe für die Rotation. In den folgenden Abschnitten wird herausgearbeitet, aus welchen Gründen die zwischenbetriebliche Rotation Teil des Ausbildungsmodells ist bzw. welche Ziele mit dem Rotationsprinzip verfolgt werden. Denn wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, ist das Rotationsprinzip durchaus umstritten. Zudem ist es nicht notwendigerweise Bestandteil der Verbundausbildung: Spednet und Ruralnet bieten beide Mo-delle an, bei denen keine zwischenbetriebliche Rotation stattfindet, und auch bei Transportnet existieren Ausbildungsgänge ohne zwischenbetriebliche Ro-tation.

Rotation ermöglicht Abdeckung des Berufsprofils

Die Abdeckung des Berufsprofils wird in allen vier Verbünden als Grund für die zwischenbetriebliche Rotation genannt. Um eine Bildungsbewilligung zu erhalten, müssen Lehrbetriebe nachweisen können, dass sie das gesamte Tä-tigkeitsspektrum eines Berufs abdecken können. Bei Spednet und Ruralnet

sind praktisch alle Verbundbetriebe, die sich an der Rotation beteiligen, darauf angewiesen, um überhaupt ausbilden zu können. Bei Transportnet hingegen wäre ein großer Teil der Verbundbetriebe theoretisch in der Lage, das Tätig-keitsspektrum mittels innerbetrieblicher Rotation abzudecken. Folglich ist die Rotation hier eher aus ideologischen denn aus pragmatischen Gründen Teil des Ausbildungsmodells. Auch mehrere Verbundbetriebe von Integranet wären prinzipiell in der Lage, selbstständig auszubilden. Jedoch ist die zwischenbe-triebliche Rotation hier Bedingung für den staatlichen Finanzierungszuschuss und folglich auch für die Beteiligung am Verbund.

In keinem der vier Verbünde ist die Abdeckung des Berufsprofils die allei-nige Rechtfertigung für die zwischenbetriebliche Rotation. Neben diesem ein-heitlichen Motiv verfolgen die vier Verbünde mit der Rotation allerdings zum Teil sehr unterschiedliche Zielsetzungen.

Privatwirtschaftliche Lehrbetriebsverbünde: Rotation produziert besseren Nachwuchs

Bei Transportnet und Spednet, den beiden privatwirtschaftlich initiierten, bran-chenhomogenen Verbünden, wird das Rotationsmodell als Ausbildungsideal gesehen: Das Rotationsmodell erzeugt die besseren Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger. Gemäß den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern er-höht die Rotation erstens die Qualität der Ausbildung. Zweitens führe sie dazu, dass die Lernenden in der jeweiligen Branche denjenigen Fachbereich fänden, der am besten ihren Fähigkeiten und Interessen entspreche. Drittens sei die Ausbildung aufgrund der Betriebswechsel attraktiver, was einen Vorteil im Wettbewerb um gute Schulabgängerinnen und Schulabgänger darstelle:

Die Lehre ist natürlich sehr attraktiv geworden dadurch. Also wenn man innerhalb der Lehre so viele Möglichkeiten hat und in so viele Sachen reinschauen darf, das ist natürlich unwahrscheinlich attraktiv für die Jungen. (Vertretung Ausbildungsbetrieb Transportnet;

P64: 227)

Gerade wenn jetzt die Schülerzahlen so zurückgehen, muss man alle Register ausfahren, sonst haben wir wirklich ein Problem. (Vertretung Ausbildungsbetrieb Transportnet; P64:

880)

In der Argumentation der Leitorganisationen führt das Rotationsmodell nicht nur aufgrund der besseren Ausbildung zu qualitativ überlegenen Lehrabgänge-rinnen und Lehrabgängern, sondern auch deshalb, weil aufgrund der Attrakti-vität der Ausbildung zu Lehrbeginn bereits die besseren Schulabgängerinnen und Schulabgänger rekrutiert werden können. Somit begünstigt das Rotations-modell aus den genannten Gründen das übergeordnete Ziel dieser Lehrbe-triebsverbünde: Die Produktion von kompetentem Nachwuchs für die Branche:

Das [Rotationsmodell] ist das stärkere Modell. Das sind die Stärkeren, die herauskom-men, die jedes Jahr in einem anderen Betrieb sind, die die Philosophien von drei Betrie-ben kennenlernen. (Vertretung Leitorganisation Spednet; P3: 165)

Hinsichtlich der Qualitätsdimension betonen die beiden Leitorganisationen, dass durch das Rotationsmodell gleichzeitig fachliche wie auch überfachliche Kompetenzen ausgebildet würden. Das Rotationsmodell produziere „Top-Fachleute, weil sie in verschiedene Betriebe reingesehen haben“ (Vertretung Leitorganisation Spednet, P3: 55). Durch die vielfältigen Erfahrungen in ver-schiedenen Fachbereichen und Arbeitsgebieten werde eine breite Fachausbil-dung befördert:

Man hat je einen Blick in drei unterschiedliche Firmenkulturen, Firmenpolitiken, Tätig-keiten. Meistens ist es noch so, dass die Firmen auf verschiedenen Verkehrsgebieten tätig sind. Also vielleicht ist eine Firma mehr auf die Straße spezialisiert, mit LKW-Verkehr, und eine andere auf den Überseeverkehr. Die dritte ist vielleicht auf die Luftfracht orien-tiert. Man sieht die Firmenkulturen. Man hat Erfahrung mit IT-Systemen in unserer Bran-che. (Vertretung Ausbildungsbetrieb Spednet; P11: 482)

Das Zitat verdeutlicht, dass neben der breiten Fachausbildung auch die Stär-kung der überfachlichen Kompetenzen grundlegend ist. Durch die betriebli-chen Wechsel werden neben den fachlibetriebli-chen Kompetenzen zusätzlich diejeni-gen Kernkompetenzen ausgebildet, welche der Arbeitsmarkt (bzw. die jewei-lige Branche) in Zukunft vermehrt benötigt: Flexibilität, Selbstständigkeit, Mobilitätsbereitschaft etc.:

Es sind wirklich gute Generalisten, die viel gesehen haben und [sich] durch die vielen Wechsel enorm schnell irgendwo einarbeiten können, sich integrieren können. Eben ge-rade auch im Bereich Selbstkompetenz, denke ich, ist diese Rotation sehr gewinnbrin-gend. (Vertretung Leitorganisation Transportnet; P31: 469)

In Bezug auf die Ausbildungsqualität wird also sowohl auf die industrielle Welt (Expertise) als auch auf die Netzwerkwelt (Projektfähigkeit) Bezug ge-nommen. Dass die Netzwerkwelt insbesondere in branchenhomogenen Lehr-betriebsverbünden ein zentraler Bezugsrahmen ist, liegt an deren Rolle als Auftragnehmer der Betriebe bzw. des Branchenverbands. Ihr Selbstverständ-nis als Dienstleister für die Betriebe der entsprechenden Branche impliziert, dass diese Verbünde die Ausbildung gezielt auf branchenspezifische Anforde-rungsprofile ausrichten können. Das Rotationsprinzip bringt für die Ausbil-dungsbetriebe insbesondere dann einen Mehrgewinn, wenn die dadurch geför-derten Kompetenzen wie Flexibilität und Selbstorganisation in der Branche von Bedeutung sind:

[Wir möchten] Leute, die selbst denken und nicht einfach nur stur Arbeit nach Plan ma-chen, sondern sich flexibel anpassen können an das Business. […] Deshalb müssen sie auch wissen: „Was will ich? Wo sehe ich mich? Wo stehe ich? Bin ich bereit, mitzudenken und mitzuhelfen?“ (Vertretung Ausbildungsbetrieb Transportnet; P50: 563)

Es ist kein Zufall, dass beide Lehrbetriebsverbünde aus Bereichen der Dienst-leistungsbranche stammen, die durch hohen Kundenkontakt, Internationalität und technologischen Wandel gekennzeichnet sind. In diesem Kontext sind die Kompetenzen der Netzwerkwelt grundlegend dafür, dass die zukünftigen An-forderungen und Entwicklungen des Arbeitsmarkts bewältigt werden können.

Insbesondere Transportnet setzt das „Instrument der Ausbildungsplanung“

(Vertretung Leitorganisation; P25: 810) strategisch ein, um überfachliche Kompetenzen maximal zu fördern. Dazu gehören die häufigen Rotationen, die Kombination möglichst unterschiedlicher Lehrplätze sowie Einsätze in ande-ren Landesteilen oder Sprachgebieten, welche bedingen, dass Lernende sich für diese Zeitspanne am Arbeitsort ein Zimmer nehmen müssen. Dass mit letz-terer Strategie gezielt die Selbstständigkeit der Lernenden gefördert wird, ver-deutlicht folgendes Zitat:

Für uns ist das aber nicht nur eine Erweiterung der Sprachkompetenzen (…), sondern ganz generell auch Erfahrungen sammeln, älter werden, sich bewusst werden, auch wenn das im eigenen Sprachgebiet ist. Und zu sehen, was es heisst, selbst zu waschen. (Vertre-tung Leitorganisation Transportnet; P25: 280)

Neben der Förderung breiterer fachlicher und überfachlicher Kompetenzen so-wie der Rekrutierung leistungsstarker Schulabgängerinnen und Schulabgänger ermöglicht das Rotationsmodell zudem einen Passungsprozess. Denn die viel-fältigen Erfahrungen in unterschiedlichen Fachbereichen, aber auch Unterneh-men und UnternehUnterneh-menstypen führten dazu, dass Lernende „spüren“ könnten, was ihnen am besten entspreche. Diese Auseinandersetzung mit verschiedenen potenziellen Berufswegen wird in den beiden Verbünden „sehr bewusst geför-dert“ (Vertretung Leitorganisation Transportnet; P27: 161). Bei Spednet sol-len die drei unterschiedlichen Lehrplätze dazu führen, dass Lernende nach Lehrabschluss wissen, welcher Fachbereich ihnen am meisten zusagt. Die

„richtige“ Wahl des Fachbereichs impliziert besser qualifizierte und motivierte Fachkräfte (Vertretung Leitorganisation Spednet; P3: 163).

Bei Transportnet besteht Aufgrund der Tatsache, dass eine große Anzahl von Ausbildungsplätzen pro Berufsfeld zur Verfügung steht, die Möglichkeit, dass Lehrplätze bereits während der Berufslehre vermehrt an den Interessen und Stärken der Lernenden ausgerichtet werden können. Die KVöV-Lernen-den zum Beispiel verbringen die ersten drei Semester in drei verschieKVöV-Lernen-denen Settings und entscheiden sich dann, in der Mitte des zweiten Lehrjahrs, für einen Fachbereich, auf welchen sie sich im dritten Lehrjahr spezialisieren (Vertretung Leitorganisation Transportnet; P27: 159):

Die Lernenden in der KV-Ausbildung spezialisieren sich im letzten Lehrjahr auf eine Laufbahn. Und einer dieser Punkte für die Rotation ist natürlich auch herauszufinden in den ersten drei Semestern, was könnte diese Laufbahn sein? Also, dass sie einfach die Erfahrung haben, in einem Bahnhof gearbeitet zu haben oder im Büro gearbeitet zu ha-ben, oder als Zugbegleitung im Einsatz waren. Was heißt das überhaupt? Dass sie sich

danach wirklich bewusst auf eine Laufbahn bewerben können. (Vertretung Leitorganisa-tion Transportnet;P31: 247)

Primär geht es schon darum, die richtige Laufbahn für den richtigen Lernenden zu finden.

(…) Und entsprechend auch mit ihnen zusammen schauen: „Was käme denn für dich in Frage? Wo sind deine Stärken, die es sich auch zu verfolgen und zu entwickeln rentiert?“

Und entsprechend haben wir durch die Vielfalt der Lehrplätze, die wir anzubieten haben, auch die Möglichkeit, die Lernenden entsprechend einzusetzen. (Vertretung Leitorgani-sation Transportnet; P31: 309)

Neben der Logik der Berufung (Welt der Inspiration) wird in diesem Zitat deut-lich, dass die individualisierte Lehrplatzvergabe sich auch an der Kosten-Nut-zen-Logik, einer Kompromissformel von Markt und Industrie, orientiert: Sie ermöglicht eine gezielte Investition in diejenigen Kompetenzbereiche, in de-nen die Lerde-nenden Potenzial zeigen.

Staatlich initiierte Lehrbetriebsverbünde: Rotation dient der Integration Lernender

In den beiden staatlich initiierten Verbünden Ruralnet und Integranet ist die Rotation – neben fachlichen Zielsetzungen – auch Mittel zum Zweck: Das Ro-tationsmodell dient der Schaffung von Ausbildungsplätzen. Ihr Ziel ist es, für möglichst viele Jugendliche Lehrstellen zu schaffen, beispielsweise für sozial benachteiligte Jugendliche oder in wirtschaftlichen Randregionen.24 Dazu eig-net sich das Rotationsmodell sehr gut, denn für Betriebe sind die Barrieren zur Beteiligung an der Lernendenausbildung geringer, wenn sie sich beispiels-weise nur für ein Jahr verpflichten müssen. Dies erklärt auch, warum parastaat-liche Lehrbetriebsverbünde in der Regel branchen- und berufsheterogen sind:

Es geht nicht darum, für eine Branche die bestmögliche Ausbildung zu finden, sondern in einer bestimmten Region diejenigen Branchen und Berufe zu ermit-teln, in welchen das größte Potenzial für zusätzliche Lehrstellen besteht.

Aus der Perspektive der beiden Verbünde beschränkt sich das integrative Potenzial des Rotationsprinzips aber nicht auf die Schaffung von Ausbildungs-plätzen. Die Rotation befördere auch die Integration in den Arbeitsmarkt nach Lehrabschluss: „Dadurch, dass Lernende mehrere Betriebe kennen, wird auch die Chance größer, [nach Lehrabschluss] eine Stelle zu erhalten“ (Vertretung Integranet; P21: 488). Dank der Rotation können zudem Lehrvertragsauflö-sungen verhindert werden:25

24 Dass parastaatliche Verbünde sich primär in der Rolle des Lehrstellenförderers sehen, wird auch deutlich aus der Tatsache, dass die Leitorganisationen beider Verbünde es positiv werten, wenn ein Ausbildungsbetrieb die Zusammenarbeit mit dem Verbund kündigt, weil er fortan selbst einen ganzen Ausbildungsplatz anbieten möchte.

25 Das Potential von Lehrbetriebsverbünden, Lehrvertragsauflösungen zu verhindern,

un-Grundsätzlich „menschelt“ es ja immer. Und jetzt gibt es manchmal Probleme. Also, ein Lernender in einem Betrieb kommt einfach nicht zurecht. Sein Typ kommt nicht an, was auch immer. Und da ist natürlich der Vorteil des Rotationsprinzips, dass man sagen kann, so, wir suchen nach einer neuen Lösung. Wir versetzen dich dorthin. (Vertretung Leitor-ganisation Ruralnet; P13: 146)

Es gibt immer wieder [ungeplante] Wechsel. Weil zum Beispiel ein Lernender sein Profil nicht halten kann. Oder die Chemie nicht stimmt. Und sonst [in der traditionellen Lehre]

hätte er abgebrochen und wäre auf der Straße. (Vertretung Leitorganisation Ruralnet; P9:

767)

In beiden staatlich initiierten Verbünden wird die Rotation nicht nur positiv hervorgehoben. Es werden vermehrt auch die Kehrseiten der Rotation thema-tisiert und es wird diskutiert, mit welchen Maßnahmen diese aufgefangen wer-den könnten. Es wird angesprochen, dass gewisse Lernende im Rotationsmo-dell Mühe damit hätten, sich nirgends richtig zugehörig zu fühlen (häusliche Welt), oder auch, dass für die schulisch schwächeren Lernenden drei Betriebe manchmal zu viel seien. Für diese, so die Meinung der Interviewpartner*innen, wären längere Einsätze sinnvoller – vorzugsweise in Kleinbetrieben, da sie dort besser betreut würden. Hier argumentieren die Leitorganisationen eben-falls mit der häuslichen Welt, welche für schulisch schwächere Lernende wich-tiger sei als für leistungsstarke Jugendliche. In Großbetrieben lernen die Ju-gendlichen zwar „arbeiten“, aber sie würden weniger eng begleitet und kon-trolliert. Dennoch sind auch die parastaatlichen Lehrbetriebsverbünde vom Rotationsmodell überzeugt: Sie betonen, dass die Lernenden die Abwechslung in der Regel schätzten, dass sie mehr lernten und dass sie Kontakte knüpfen würden, die sie nach Lehrabschluss nutzen könnten.

Hinsichtlich der Vor- und der Nachteile des Rotationsmodells nehmen

Hinsichtlich der Vor- und der Nachteile des Rotationsmodells nehmen