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Die Landkarte der sozialen Milieus

Teil II: Individuelle Ebene

6.2 Gesellschaftliche Milieus und milieuspezifische

6.2.1 Die Landkarte der sozialen Milieus

Um die Passungsverhältnisse zwischen den habituellen Dispositionen der Ler-nenden und den Anforderungen der Verbundausbildung zu analysieren, be-ziehe ich mich im Folgenden auf die Milieuforschung von Vester u.a. (2001 [1993]). Der Fokus dieser Forschungsgruppe stand eine kritische Überprüfung der zur damaligen Zeit populären Individualisierungsthese von Ulrich Beck

(Vester u.a., 2001, S. 11). Beck ging davon aus, dass Akteurinnen und Akteure als Folge von gestiegenem Wohlstand, Bildungsexpansion und Wertewandel zunehmend aus dem Kontext von klassenspezifischen Milieus freigesetzt wer-den. Spezifische Klassenlagen seien immer weniger mit einer bestimmten Le-bensführung verknüpft. Stattdessen würden Akteurinnen und Akteure ihr Mi-lieu, d.h. ihren Lebensstil und ihre Grundwerte, in freier Reflexion zunehmend selbst aushandeln (Beck, 1983, S. 42).

Dieser Annahme kritisch gegenüberstehend, begann die genannte For-schungsgruppe um Michael Vester Ende der 1980er-Jahre ihre Untersuchun-gen mit dem Ziel, eine differenzierte Analyse der Sozialstruktur der westdeut-schen Gesellschaft zu erstellen. Ihre Herangehensweise basierte auf einer in-novativen Kombination zweier Forschungsansätze: der Lebensweltforschung des Sinus-Instituts und Bourdieus Modell des sozialen Raums, das im voran-gegangenen Kapitel bereits ausführlich dargelegt wurde (Vester u.a., 2001, S. 11, 43).

Das Sinus-Institut ist ein bekanntes Marktforschungsinstitut, das seit Be-ginn der 1980er-Jahre eine Zielgruppen-Typologie, die sogenannten Sinus-Mi-lieus, entwickelt hat. Auf der Basis von zahlreichen quantitativen und qualita-tiven Interviews hat das Sinus-Institut eine Typologie erstellt, in welcher Men-schen nach Wertorientierungen, Einstellungen und Lebensstilen in zehn gesell-schaftliche Großgruppen bzw. Milieus eingeteilt werden (vgl. Abbildung 10).32 Dabei flossen soziodemografische Variablen wie Einkommen und Bildungs-abschlüsse ebenso ein wie alltägliche Verhaltensweisen und Einstellungen z.B.

zu Arbeit, Familie oder Konsum. Ausgehend vom typischen Einkommen der Angehörigen eines Milieus wurden diese zehn Milieus in ein klassisches Schichtmodell der Gesellschaft eingeordnet. Die so entstandene Milieu-Typo-logie bestätigte eine interne Differenzierung der sozialen Schichten in ver-schiedene Milieus und schien so, zumindest im Ansatz, Becks Individualisie-rungsthese zu stützen. Zugleich wurde jedoch deutlich, dass sich die Angehö-rigen der meisten Milieus immer noch in bestimmten sozialen Schichten kon-zentrierten, die Schichtzugehörigkeit also immer noch einen prägenden Ein-fluss auf Wertorientierung und Identitätsbildung ausübte (Hradil, 2002, S. 223;

Sinus-Institut, o.J.a; Vester u.a., 2001, S. 44).

32 Die Sinus-Milieus wurden seit den 1990er-Jahren mehrmals aktualisiert. Ich stelle hier bewusst die Version von 1997 dar, damit die Parallelen zur Milieuforschung von Vester u.a. ersichtlich werden. In den Folgejahren haben sich die Milieubezeichnungen der beiden Theorieansätze auseinanderentwickelt.

Abbildung 10: Die Sinus-Milieus in Westdeutschland 1997 (Hradil, 2002, S. 224)

Vester u.a. erkannten, dass die Sinus-Milieus den von Bourdieu (1987) in „Die feinen Unterschiede“ beschriebenen Formen des Klassenhabitus entsprachen und diese sogar noch ausdifferenzierten. Als Experiment trugen sie die west-deutschen Sinus-Milieus, ausgehend von den Berufsangaben der Milieuange-hörigen, in Bourdieus sozialen Raum ein. Das so entstandene Bild stützte ihre Hypothese, dass sich die Klassengesellschaft zwar durchaus pluralisiert habe, die Milieuzugehörigkeit aber nach wie vor einer ökonomischen Logik folge (Vester u.a., 2001, S. 46 f.). Im Gegensatz zu Vertreterinnen und Vertretern der Individualisierungsthese, die davon ausgingen, dass Lebensstil und Grund-werte zunehmend selbstreflexiv ausgehandelt würden, losgelöst von materiel-len Lebensbedingungen, konnten Vester u.a. (2001, S. 44) zeigen, dass die ho-rizontale Differenzierung in verschiedene Milieus der ungleichen Verteilung von kulturellem Kapital entsprach. Was bereits Bourdieu dargestellt hatte, nämlich dass die individuelle Lebensführung und die Grundorientierung nicht in einem Prozess rationalen Abwägens frei gewählt, sondern durch sozialstruk-turelle Bedingungen vorstrukturiert sind, konnten Vester u.a. im Verlauf ihrer Untersuchungen bestätigen.

Als Resultat der Kombination von Bourdieus Theorie mit der Sinus-Typo-logie entwickelten Vester u.a. die sogenannte „Landkarte der sozialen Mili-eus“, welche eine stilisierte Form des sozialen Raums darstellt (vgl. Abbil-dung 11). Die sozialen Milieus dieser Landkarte decken sich zu einem großen

Teil mit den Sinus-Milieus. Sie unterscheiden sich durch inhaltliche Akzentu-ierungen, die zu teilweise anderen Milieugrenzen und -benennungen führen.

Der große Unterschied zur Sinus-Typologie besteht darin, dass den Milieus, wie bereits erwähnt, auch in der horizontalen Ebene ein spezifischer Ort in der Klassenstruktur zugeordnet wird. Gegenüber der in Abbildung 10 illustrierten Sinus-Typologie ist zu beachten, dass die Landkarte der sozialen Milieus spie-gelverkehrt ist: Während die traditionellen Milieus in der Sinus-Typologie links abgebildet werden, sind sie in der Milieulandkarte – entsprechend der Darstellung in Abbildung 9 – rechts verortet, analog zu ihrem verhältnismäßig geringen Anteil an kulturellem Kapital.

Wie in Abbildung 11 veranschaulicht, sind die sozialen Milieus in der Landkarte im Unterschied zum sozialen Raum Bourdieus jedoch nicht nach der sozialen Position aufgrund der Kapitalverteilung positioniert, sondern nach dem Typus ihres Habitus bzw. ihrer Mentalität (Bremer, 2004, S. 200). Die Beziehung zur Kapitalausstattung ist eine statistische. Beispielsweise haben die Angehörigen des Milieus rechts unten, d.h. des kleinbürgerlichen Arbeit-nehmermilieus (KLB), typischerweise wenig ökonomisches Kapital und kaum kulturelles Kapital. Dies ist aber nicht in jedem Fall gegeben: So kann eine Person, welche in diesem Milieu aufgewachsen ist, dank eines Universitätsstu-diums sozial aufgestiegen sein, jedoch immer noch Mentalitätszüge dieses Mi-lieus aufweisen. Allerdings ist dies eine eher unwahrscheinliche Biografie, da Angehörige dieses Milieus in der Regel nicht über die habituellen Dispositio-nen verfügen, die ein Studium nahelegen. Und gleichzeitig wird eine Person, welche diesen unwahrscheinlichen Lebensweg geht, mit allergrößter Wahr-scheinlichkeit eine Habitusmetamorphose durchlaufen und Elemente des kleinbürgerlichen Habitus ablegen (da der individuelle Habitus immer auch das Resultat der individuellen Geschichte ist). Dennoch wird diese Person nicht einfach den Habitus des liberal-intellektuellen Milieus übernehmen, son-dern einen hybriden oder „gespaltenen Habitus“ aufweisen (Sonderegger, 2010, S. 24). Um es nochmals zu verdeutlichen: Eine Person, deren soziale Position nicht mit ihrem Habitus „übereinstimmt“, z.B. ein traditionell-konser-vativer Hochschullehrer, wird in Bourdieus sozialem Raum oben links (nach der Kapitalausstattung), in der Milieulandkarte oben rechts (nach der Mentali-tätsstruktur) eingeordnet. Beide Konzepte gehen jedoch, wie bereits mehrfach ausgeführt, von einer Homologie der sozialen Position und des Lebensstils bzw. Milieus aus.

Abbildung 11: Landkarte der sozialen Milieus Westdeutschlands (Bremer, 2010, S. 231) [Lesebeispiel:

Eine autoritäre Person mit „strebendem“ Habitus weist eine kleinbürgerliche Mentalität auf und besetzt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine Position im rechten unteren Viertel des sozialen Raums, verfügt also über relativ wenig ökonomisches wie auch kulturelles Kapital.]

Das organisch wirkende Element oben links in Abbildung 11 repräsentiert die Verteilung der Milieus im Sozialraum, während die große stilisierte „Land-karte“ die unterschiedlichen Habitusmuster der sozialen Milieus wiedergibt.

Die sozialen Milieus sind nach zwei Dimensionen in die Landkarte eingeord-net. In der vertikalen Achse (Herrschaftsachse) lassen sich drei Schichtungs-stufen unterscheiden. Oben befinden sich die führenden gesellschaftlichen Mi-lieus mit distinktiven Lebensweisen, in der Mitte die mittleren VolksmiMi-lieus, welche nach Respektabilität streben, und im unteren Teil die unterprivilegier-ten Volksmilieus, die sich stärker an Notwendigkeiunterprivilegier-ten und Zwängen orientie-ren (müssen). In der horizontalen Ebene (Diffeorientie-renzierungsachse) befinden sich rechts die Milieus, die sich an Hierarchie, Status, Autorität und Ordnung ori-entieren, während für die Milieus weiter links, welche über mehr kulturelles Kapital verfügen, Autonomie und Eigenverantwortung (bis hin zu Avantgar-dismus) leitende Prinzipien sind.

Dieses Milieugefüge ist historisch aus den früheren Klassenstrukturen und ihren je spezifischen Lebensbedingungen gewachsen. Während diese groben Einteilungen langfristig konstant sind und sich auch in anderen westlichen Klassengesellschaften (u.a. England, Italien, Frankreich) erkennen lassen, kommt es innerhalb dieser Grundstruktur zu national teilweise unterschiedli-chen Untergruppen. Die Untersuchungen der letzten 25 Jahre haben gezeigt, dass Milieus sich primär durch interne Ausdifferenzierung wandeln: Indem sich die jeweils junge Generation an neue Lebensumstände anpasst, ohne ihre ursprüngliche milieuspezifische Prägung aufzugeben, modernisieren und plu-ralisieren sich Milieus, während die großen Traditionslinien gleich bleiben. In der Landkarte sieht man dies beispielsweise anhand der Traditionslinie der Facharbeit in der Mitte: Das traditionelle Arbeitnehmermilieu (TRA) hat sich zum leistungsorientierten Arbeitnehmermilieu modernisiert (LEO) und aus diesem ist in den letzten Jahren wiederum das moderne Arbeitnehmermilieu (MOA) entstanden. Alle drei Milieus existieren parallel nebeneinander, jedoch ist das traditionelle Arbeitnehmermilieu stark geschrumpft, während der pro-zentuale Anteil des modernen Arbeitnehmermilieus zunimmt (Bremer, 2004, S. 200; Lange-Vester & Teiwes-Kügler, 2013, S. 6; Vester u.a., 2001, S. 26).

In der Schweiz gibt es zurzeit noch keine eigenständige empirische Mili-euforschung in der Tradition von Vester u.a. Stattdessen werden für die Schweizer Habitus- und Milieuforschung bisher die westdeutschen Milieus als Hintergrundschablone herangezogen (vgl. Pelizzari 2009). Angesichts der oben beschriebenen gleichen Grundstruktur des Milieugefüges in westlichen Gesellschaften und der kulturellen Nähe, insbesondere der Deutschschweiz, zu Westdeutschland, scheint dieses Vorgehen adäquat zu sein (Rössel, 2012, S. 114 f.). Es ist jedoch unbestritten, dass die Schweizer Milieuforschung von einer umfassenden empirischen Erhebung der hiesigen Milieus profitieren würde. Leider kann dies im Rahmen der vorliegenden Dissertation nicht ge-leistet werden. Ich beziehe mich deshalb in meiner Analyse ebenfalls auf die

für Westdeutschland herausgearbeiteten Milieus. Eine ausführliche Analyse der westdeutschen Milieus, die ich im Folgenden kurz beschreibe, findet sich in Vester u.a. (2001, S. 503–525).