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Die Rolle der Großindustrie

Teil II Die Entstehung der öffentlichen Arbeitsverwaltung in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden

6.7 Die Rolle der Großindustrie

Neben der Trägerfrage spiegeln auch die ausgearbeiteten Regelungen bezüglich des Lohnklassensystems und der Regelungen des beruflichen Gefahrenausgleichs in der Arbeitslosenversicherung die Interessen der Arbeitgeber wider. Angesichts der bisher beschriebenen Positionen im Entstehungsprozeß des AVAVG mag dies nicht weiter erwähnenswert erscheinen. Da diese beiden Regelungen jedoch aufzeigen, daß ein Teil der Arbeitgeberschaft, nämlich die Großindustrie, ein besonderes Interesse an der Einführung einer Arbeitslosenversicherung entwickelte, soll im folgenden kurz erläutert werden, worin dieses Interesse bestand.

Es läßt sich dabei an die Arbeit von Isabel Mares (1996) anschließen, die aufzeigt, daß das forcierte Eintreten der Großindustrie entscheidend zur Einführung des

104 Neben der Studie von Oltmann (1968) lassen sich bezüglich eines genaueren Einblicks in die Person Heinrich Brauns‘ die Beiträge von Brüls (1965), Morsey (1966), Deuerlein (1967) und Mockenhaupt (1976) nennen.

105 Ähnliches läßt sich über die Bedeutung der ideologischen Einstellungen des ADGB behaupten, die Naphtali 1931 unter dem Begriff der „Wirtschaftsdemokratie“ zusammenfaßte. Naphtali er-kannte in seiner „Wirtschaftsdemokratie“ in der Beteiligung der Gewerkschaften an der Arbeits-losenversicherung und Arbeitsvermittlung eine besondere Bedeutung: „Weit bedeutungsvoller noch im Rahmen der Bewirtschaftung der Arbeitskraft in Formen der Selbstverwaltung erscheint allerdings die Beteiligung der Gewerkschaften an der Verwaltung des neuesten Zweiges der So-zialversicherung, der Arbeitslosenversicherung. Zunächst schon deshab [sic!], weil die Einfüh-rung der staatlichen ArbeitslosenversicheEinfüh-rung, sozial und wirtschaftlich gesehen, von ganz tief-greifender Wirkung sein musste. Zweitens weil in untrennbarem Zusammenhang mit der Arbeits-losenversicherung das volkswirtschaftliche Problem der planmässigen öffentlichen Arbeitsver-mittlung, der Arbeitsmarktpolitik, steht.“ (Naphtali 1931: 154; Herv. durch Naphtali)

klassensystems und zu den Regelungen über den beruflichen Gefahrenausgleich bei-trug. Beide Prinzipien, so Mares (1996), hätten im besonderen Maße mit den Interes-sen der Großindustrie in den Branchen Chemie, Maschinenbau und Elektroindu-strie106 koinzidiert. Dieses Interesse leitet Mares aus der starken Unzufriedenheit der Großindustrie mit dem bestehenden System der Erwerbslosenfürsorge ab.107 An vor-derster Stelle der Kritik der Großindustrie stand dabei das Argument, daß die Ein-heitsleistungen der Erwerbslosenfürsorge, weil sie unter den lokalen Minimumlöh-nen lagen, auf die höher qualifizierten (und besser bezahlten) Arbeiter eiMinimumlöh-nen Druck ausübten, im Falle der Erwerbslosigkeit eine niedrig bezahltere Arbeit anzunehmen (vgl. Mares 1996: 19-24).

Da nun jedoch die Großbetriebe in den Branchen Chemie, Maschinenbau und Elek-troindustrie in hohem Maße von qualifizierten Arbeitern abhängig waren und auf-grund ihrer Exportorientierung hohen und unvorhersagbaren Fluktuationen in der Arbeitslosigkeit ausgesetzt waren, lag es im Interesse der Großbetriebe, erstens das Risiko der Arbeitslosigkeit durch eine Versicherung umzuverteilen und zweitens die Kosten dieser Versicherung durch ein Lohnklassensystem und einen einheitlichen Pool für alle Berufe weit zu streuen (vgl. Mares 1996: 22, 30).

Die Einführung eines Lohnklassensystems, das ja die Beiträge zur Versicherung von oben nach unten abstufte, indem es die Beiträge und Leistungen der Versicherung an die Löhne koppelte, hatte für die Unternehmer folgende Vorteile:

By lowering the level of contributions from the low and unskilled, it weakened the possibility that unemployment benefits underminded the local minimum wage. By rising the level of un-employment benefits for the high skilled workers, it weakened the labor market pressure ex-erted on these workers to accept lower paid work that did not correspond to their skill qualifi-cations during periods of unemployment (Mares 1996: 25).

Das Lohnklassensystem bedeutete somit für die Unternehmer eine „indirekte institu-tionelle Garantie“ (Mares 1996: 25), daß die hochqualifizierten Arbeiter der expan-dierenden Exportindustrien in Phasen der Arbeitslosigkeit nicht in niedrig qualifizier-tere Beschäftigungen abgedrängt wurden.

Es ist bemerkenswert, daß sich der Standpunkt der Großbetriebe in der Frage des be-ruflichen Gefahrenausgleichs mit dem des ADGB deckte. Auch der ADGB wandte sich gegen die Einführung der Verwaltung der Versicherung nach Berufen oder

106 Die Schwerindustrie verlor ab Mitte der 1920er Jahre politisch an Einfluß, vgl. hierzu ausführlich Weisbrod 1978.

107 Mares unterzieht die umfangreiche Diskussion der Stellungnahmen der Gewerkschaften und Ar-beitgeber in Führer (1990) und Lewek (1992) einer neuen Interpretation. Ob dies angemessen ist, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter diskutiert werden, weil dies eine eigene Aufarbeitung der Originaldokumente erfordert hätte. Auch anhand der Sekundärliteratur konnte die Position Mares‘ nicht überprüft werden, weil sich diese zu der von Mares angesprochenen Perspektive nicht äußert (vgl. Preller 1949; Führer 1990; Lewek 1992; Fukuzawa 1995).

dustriezweigen, weil er dadurch eine Stärkung der Industriegewerkschaften befürch-tete, die seine eigene Position geschwächt hätte (vgl. Mares 1996: 21-22).108

Diese Ablehnung einer Verwaltung der Versicherung nach Branchen und Berufen durch die deutschen Gewerkschaften steht im Gegensatz zur Haltung der niederlän-dischen und britischen Gewerkschaftsdachverbände. Diese favorisierten eine Verwaltung nach den Branchen (Niederlande) bzw. nach den Berufen (‚crafts‘, Großbritannien).

Sowohl der ADGB als auch die kleinen und mittleren Betriebe kritisierten während der Diskussion um den dritten Entwurf das Vorhaben, ein Lohnklassensystem einzu-führen (vgl. Mares 1996: 25-26). Den Widerstand der kleinen und mittleren Betriebe führt Mares darauf zurück, daß diese weniger auf qualifizierte Arbeitskräfte zurück-griffen und daher auch keine Veranlassung sahen, die im Vergleich zu einem Ein-heitssystem höheren Beitragszahlungen auf sich zu nehmen. Der ADGB befürchtete durch die Einführung eines Lohnklassensystems eine weitere Spaltung zwischen qua-lifizierten und nicht bzw. weniger quaqua-lifizierten Arbeitnehmern (vgl. Mares 1996:

25-26).

Daß sich diese Interessen der Chemie-, Elektro- und Maschinenbauindustrie gegen-über den kleineren und mittleren Betrieben, die auf den heimischen Markt konzen-triert waren und einer Versicherung auch in dieser Phase noch weitaus reservierter gegenüberstanden, durchsetzen konnten, lag vermutlich daran, daß die politische und ökonomische Macht der Großindustrie seit der Mitte der 1920er Jahre - insbesondere im Zuge der „Reinigungskrise“ 1926109 - gewachsen war. Das Eintreten der Arbeit-geber für die eben beschriebenen Regelungen hatte somit auch mit einer Machtver-schiebung innerhalb der Arbeitgeberverbände zu tun. Denn die „Reinigungskrise“

betraf vor allem die Mittelbetriebe, die entweder Konkurs gingen oder von Großbe-trieben übernommen wurden. Sie trug damit zur starken Verflechtung und Kartellie-rung der deutschen Industrie bei, durch die der ökonomische und politische Einfluß der Großunternehmen erheblich wuchs (vgl. Preller 1949: 502-503).110

108 Die Arbeitgeber verhinderten jedoch das vom ADGB in der Frage des regionalen Gefahrenaus-gleichs verfolgte Konzept eines einheitlichen Risikopools für das ganze Reich („vollständiger Gefahrenausgleich“). Sie wandten sich gegen ein „Wirtschaften aus einem großen Fonds“ (Mares 1996: 19). Auch die Regelung des AVAVG, in der Frage des regionalen Gefahrenausgleichs ein dreistufiges System der Beitragssetzung einzuführen, wurde daher von den Arbeitgebern beein-flußt (vgl. Mares 1996: 19-21).

109 Bezeichnend für die „Reinigungskrise“ von 1926 ist ein radikaler Einbruch der Roheisen- und Rohstahlproduktion sowie der Produktion im Steinkohlebergbau.

110 Leider vernachlässigt Mares (1996) in ihrer Analyse diese Verschiebung des Machtverhältnisses zwischen der Großindustrie und den Mittelbetrieben im Gefolge der „Reinigungskrise“.

Es kann also festgehalten werden, daß sich die Präferenzen der Großbetriebe in der Chemie-, Elektro- und Maschinenbauindustrie und damit der dominierenden Fraktion innerhalb der Arbeitgebervereinigungen in einigen Punkten des AVAVG wiederfin-den.111 Insbesondere die Großindustrie in den Branchen Chemie, Maschinenbau und Elektroindustrie intendierte das im AVAVG festgelegte institutionelle Arrangement.

6.8 Die Arbeitsverwaltung nach dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und